24. Mai 2020











 
Liebe Leserinnen und Leser,
Logo – Gemeinnützige Hertie Stiftung
So langsam wird das öffentliche Leben in Deutschland wieder hochgefahren. Die ersten Restaurants haben geöffnet, wir können wieder in Cafés gehen, kleinere und größere Läden machen die Türen auf, der Breitensport erwacht aus dem Dornröschenschlaf. Kinder können wieder ins Fußball-, Tennis- oder in anderes Training. Ab und an auch in die Schule. Die Aussicht auf den Sommerurlaub, zumindest in manchen Ländern Europas, will uns Außenminister Heiko Maas nicht völlig nehmen. Wie dünn das Eis bei der Bekämpfung der Pandemie tatsächlich ist, wissen wir nicht. Das werden wohl erst die kommenden Monate zeigen.

Interessant war für mich in den vergangenen zwei Wochen die aufkommende demokratietheoretische Diskussion. Während in den ersten vier, fünf Corona-Wochen die Virologen die mediale Berichterstattung dominierten und aus keiner Pressekonferenz und Sondersendung und Podcast und überhaupt wegzudenken waren, ist die Corona-Diskussion jetzt deutlich breiter aufgestellt. Zum Glück! Nicht nur die medizinische, auch die wirtschaftliche, soziale oder föderale Perspektive gilt es zu bedenken.

Aber die Corona-Pandemie ist weiter ein Stresstest für die Demokratie. Das Demonstrationsrecht, die Gewerbefreiheit oder die Freizügigkeit sind weiter eingeschränkt. Allein die Tatsache jedoch, dass es Demonstrationen gibt, auch mit wilden Thesen und Forderungen, die auf eine Abschaffung der Demokratie herauslaufen, zeigen: von diktatorischen Zuständen kann in Deutschland keine Rede sein. Und bei aller berechtigten und notwendigen Kritik an den Verschwörungstheoretikern, die sich jetzt an Demonstrationen beteiligen, sei an folgendes erinnert: Auch für sie gilt das Grundgesetz.

Oft vergessen wird in diesen Tagen, dass das Grundgesetz uns nicht nur vor staatlichen Übergriffen schützen soll, sondern auch das Demonstrationsrecht (Art. 8) und die Meinungsfreiheit (Art. 5) garantiert. Es verpflichtet den Staat auf der anderen Seite auch zum Schutz unserer Rechte, zum Beispiel dem auf die körperliche Unversehrtheit (Art. 2). Der Staat muss uns also auch vor dem Corona-Virus und dessen Ausbreitung schützen. Dass das zu schwierigen rechtlichen und politischen Abwägungsprozessen führt, haben die vergangenen Wochen gezeigt. Vielleicht braucht es deshalb, wenn die Corona-Pandemie endgültig eingedämmt ist, eine grundlegende Debatte darüber, ob in existentiellen Krisen andere Abwägungen zwischen den Grundrechten vorgenommen werden müssen als in „normalen“ Zeiten.  

Noch ist die Corona-Pandemie allerdings nicht vorbei. Mit Rückschlägen müssen wir rechnen. Spätestens, wenn es eine zweite Welle geben sollte, könnte es zu einem zweiten Lockdown kommen, zu einer zweiten Phase ohne Kaffee mit Freunden, ohne Fußballtraining, ohne Schule. Wie gesagt, das Eis könnte dünn sein.
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Ein Jahr Lübcke-Mord

Vor einem Jahr, am 2. Juni 2019, wurde der CDU-Politiker und Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf der Terrasse seines Privathauses mit einem Kopfschuss ermordet. Mittlerweile hat die Bundesanwaltschaft Anklage gegen zwei Rechtsextremisten erhoben. Der Generalbundesanwalt wirft Stephan E. Mord vor, Markus H. Beihilfe.

Der Mord an Walter Lübcke stellt eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik dar. Erstmals seit 1949 wurde ein Politiker bei einem rechtsterroristischen Anschlag getötet. Es stellen sich viele Fragen, etwa die, wie sich Stephan E. unter den Augen des Verfassungsschutzes radikalisieren konnte. Aber auch die Frage, ob wirklich nur zwei Personen hinter der Tat stehen.

Der Mord an Walter Lübcke zeigt auch, wie sehr sich verbale und physische Gewalt in den vergangenen Jahren in der politischen Auseinandersetzung ausgebreitet haben. Viele Politiker berichten von Morddrohungen und tätlichen Angriffen, vor allem viele Kommunalpolitiker sind – anders als prominente Bundespolitiker – dieser Gewalt in der Regel schutzlos ausgeliefert. Manche haben sich eingeschüchtert und resigniert zurückgezogen. Weimarer Verhältnisse drohen in der Bundesrepublik trotzdem nicht. Dafür ist unsere Demokratie wehrhaft genug. Trotzdem sollten sich die Menschen vor allem hinter ihre Kommunalpolitiker stellen, die sich in der Regel ehrenamtlich und selbstlos für das Gemeinwesen engagieren. Schließlich sind die Kommunalpolitik und die kommunale Selbstbestimmung ein Fundament der Demokratie.
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Bundesverfassungsgericht

Am 5. Mai hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zum Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB verkündet und diese für teilweise verfassungswidrig erklärt. Seitdem tobt in Deutschland und in Europa eine heftige Debatte. Ich bin weder Juristin noch Ökonomin, ob das Urteil richtig oder falsch ist, den europäischen Zusammenhalt gefährdet oder die Chance bietet, einen Konstruktionsfehler des Euro zu korrigieren, müssen andere beurteilen.
Interessant ist für mich etwas anderes. Das EZB-Urteil wurde von Andreas Voßkuhle verkündet, einen Tag danach schied er nach zwölf Jahren turnusgemäß aus dem Richteramt aus. Eine Woche später wurde Stephan Harbarth zu seinem Nachfolger als Präsident des Bundesverfassungsgerichts gewählt und damit zu einem der mächtigsten Männer in diesem Land. Der Wechsel war seit 2018 vereinbart. Auf Voßkuhle, der der SPD nahestand, folgt der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Harbarth. Gleichzeitig werden in diesen Tagen im Bundesrat zwei neue VerfassungsrichterInnen gewählt. Die Juraprofessorin Astrid Wallrabenstein auf Vorschlag der Grünen, die Sozialdemokraten ringen noch um ihren Vorschlag.

Der Wechsel an der Spitze des Gerichts und die Neuwahl von zwei Richtern vollzieht sich selbst in schwierigen Zeiten (Corona/EZB-Urteil) völlig unspektakulär. Es gibt keinen öffentlichen Streit um die Besetzung, keinen parteipolitische Schlacht um die Ausrichtung des höchsten Gerichts wie in den USA und keinen Versuch der parteipolitischen Vereinnahmung durch eine Partei wie in Polen. Dies zeigt zweierlei: Das Bundesverfassungsgericht genießt erstens als Institution und als Hüterin der Verfassung in der Bevölkerung hohes Ansehen und hohes Vertrauen. Zweitens funktioniert das zwischen Bund und Ländern sowie zwischen den Parteien fein austarierte System der Richterwahl.

Das bedeutet: Die Unabhängigkeit des höchsten deutschen Gerichts bleibt gewahrt, obwohl die Richter von Politikern gewählt werden.

Herzlich grüsst Ihre Andrea Römmele
 
Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts
 
Pinnwand
Tipps aus dem Demokratie-Team
Podcast
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Andreas Reckwitz gehört zu den bekanntesten Soziologen in Deutschland, seine Bücher über Gewinner und Verlierer gesellschaftlicher Veränderungen sind Bestseller, viele Politiker suchen seinen Rat. Im Podcast der HU-Berlin spricht er über Singularisierungsprozesse in der Spätmoderne.
Lektüre
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Der kamerunische Historiker und Philosoph Achille Mbembe steht im Fokus einer heftigen Feuilleton-Debatte zwischen Erinnerungskultur, Antisemitismus und Postkolonialismus. Einen differenzierten Blick wirft der amerikanische Historiker Michael Rothberg auf die deutsche Auseinandersetzung über einen der berühmtesten Intellektuellen Afrikas.
Ausstellung
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Vor den Nazis floh Hannah Arendt nach New York. Dort schrieb die Philosophin unter anderem über die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ und die „Banalität des Bösen“. Das Deutsche Museum in Berlin widmet der Chronistin des 20. Jahrhunderts noch bis zum 18. Oktober eine Ausstellung.
 
Für Sie gelesen
Bildung – eine Anleitung
Viele Schulen noch geschlossen, die Universitäten kalte Gebäude, Wissensvermittlung nur noch am Computer – da lohnt es ganz besonders, sich an den Wert klassischer Bildung zu erinnern. Zum Beispiel zusammen mit Jan Roß und seinem Buch „Bildung – Eine Anleitung“. Den ganzen Kanon geht der Journalist durch; von den alten Griechen bis zu den Vätern der Rockmusik, von den Malern der Renaissance bis zu den Vorkämpferinnen der Frauenemanzipation, auch die schrulligen Außenseiter und penetranten Rebellen vergisst er nicht. Zwar nervt Jan Roß zuweilen mit seinem Oberlehrerton, aber er schreibt immer persönlich, immer anschaulich und überrascht mit vielen Querbezügen. So offenbart sich, Bildung ist eben nicht nur Statussymbol, sondern auch subversiv. Sie ist nicht nur nützlich beim Smalltalk am Abend, sondern zwingt zur Auseinandersetzung mit Realitäten, die gerne verdrängt oder verleugnet werden. cse

Rowolt Berlin, 22,- EUR
Abbildung des Buchs: Bildung eine Anleitung von Jan Roß
 
Re-read
Max Weber: Politik als Beruf
Illustratives Foto eines Buchs
Mit re-read möchten wir Ihnen Klassiker wieder neu vorstellen. Ich habe mir Max Webers „Politik als Beruf“ (ein Aufsatz basierend auf einer Rede Max Webers im Januar 1919 in einer Münchner Buchhandlung) aus einem ganz besonderen Grund als erstes Re-read für unseren Newsletter ausgesucht: wir erleben in diesen Corona-Zeiten eine Veränderung unserer Einstellung gegenüber Politik und gegenüber Politikern. Wir erleben einen im positiven Sinne mächtigen gestalterischen und auch selbstbewussten Staat. Wir respektieren unsere Politikerinnen und Politiker in der Krise deutlich mehr – ich denke, dieser Vertrauensgewinn (der übrigens berechtigt ist), wird auch anhalten.

Nur: Was hat das mit Max Weber zu tun? Max Weber referierte an jenem Abend in München über „Politik als Beruf“. Er versuchte in einer Zeit des Übergangs von der Monarchie zur ersten Demokratie in Deutschland den Prototypen eines Politikers aufzuzeigen, wie ihn eine Demokratie braucht. Weber sprach einerseits von der Berufung zur Politik (für die Politik leben) aber auch ganz nüchtern von der Politik als Beruf (von der Politik leben).

Welche Eigenschaften braucht ein Politiker nach Weber? Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß führte er an. Gemessen an diesen Kriterien schneiden unsere Berufspolitiker gut ab – gucken Sie einmal nach Brasilien, in die USA, Ungarn etc. Der Vertrauensgewinn, den die Politik gerade verzeichnet, gepaart mit einer wachsenden Rolle und Bedeutung des Staates, wird viele junge Menschen hauptberuflich Politik und Verwaltung führen. Politik als Beruf(ung).

Hätte vor Corona keiner gedacht!
 
Drei Fragen an...
Konstantin Kuhle
Wem hören sie gern zu, obwohl er politisch ganz anders tickt als sie?

Jens Spahn weiß genau, wie er politische und gesellschaftliche Debatten anstoßen kann. Dabei bin ich oft nicht seiner Meinung. In der aktuellen Corona-Krise beweist er jedoch als zuständiger Gesundheitsminister Führungsstärke. Kürzlich machte er darauf aufmerksam, dass man einander nach einer solchen Krise auch verzeihen können muss. Das habe ich gerne gehört.
Welches Demokratie-Projekt verdient mehr Beachtung?

Ich bin auf einem Dorf in Niedersachsen aufgewachsen. Bei den Kommunalwahlen ist es dort ganz normal, dass neben Parteimitgliedern auch Bürgerinnen und Bürger auf den Listen der Parteien kandidieren, die bisher nicht zu einer bestimmten Partei gehören. Das Engagement und die Bindekraft in der Kommunalpolitik verdienen mehr Beachtung.
Was ist ihre demokratische Lieblings-Tugend?


Demokratische Systeme sind zur Selbstkorrektur fähig. Ob neue wissenschaftliche Erkenntnisse, andere wirtschaftliche Rahmenbedingungen oder eine veränderte geopolitische Situation - in einer Demokratie kann die Politik ihre Meinung ändern. Und die Bürgerinnen und Bürger können an der Wahlurne jemanden abwählen, dem sie noch vier Jahre zuvor das Vertrauen geschenkt haben.
Portraitfoto Konstantin Kuhle
Konstantin Kuhle ist innenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und Generalsekretär des niedersächsischen Landesverbandes. Von 2014 bis 2018 war er Chef der Jungen Liberalen.
 
Die Autorinnen
Portraitfoto Elisabeth Niejahr
Elisabeth Niejahr ist seit Anfang 2020 Geschäftsführerin des Bereichs „Demokratie stärken“ der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Vorher arbeitete sie als Journalistin für ZEIT, SPIEGEL und Wirtschaftswoche. niejahrE@ghst.de
Portraitfoto Andrea Römmele
Andrea Römmele ist Professorin für politische Kommunikation an der Hertie School in Berlin, sie forscht vor allem zur Zukunft der Demokratie und verantwortet in der Hochschulleitung den Bereich Executive Education. roemmele@hertie-school.org
  
Redaktionelle Mitarbeit: Christoph Seils (cse)
 
H aus dem Logo der Gemeinnützigen Hertie Stiftung
Gemeinnützige Hertie-Stiftung
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10117 Berlin

Tel. +49 30 22 05 603-0
Fax +49 30 22 05 603-99
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