05. Juli 2020











 
Liebe Leserinnen und Leser,
Logo – Gemeinnützige Hertie Stiftung
Foto: Demonstranten (zu sehen von hinten) mit Bannern und einem
Essay: Elisabeth Niejahr
Am Freitag hat sich der Bundestag nach einer intensiven Sitzungswoche in die Sommerpause verabschiedet. Wenn die Abgeordneten am 7. September zurückkehren, wird die politische Debatte eine andere sein. Die Bundestagswahl ist dann nur noch ein Jahr entfernt, das werden wir merken. Während der ersten Corona-Wochen hat die Grosse Koalition reibungslos funktioniert, nicht nur die Kanzlerin und einige Ministerpräsidenten, auch SPD-Minister wie Olaf Scholz (Finanzen) und Hubertus Heil (Soziales) konnten glänzen. Die GroKo kann Krise. Wahlkampf kann sie eher nicht. Deshalb wird im Herbst sehr viel mehr von Szenarien rund um ein schwarz-grünes Bündnis die Rede sein: Wie regeln die Grünen ihre K-Frage, wer wird in der CDU Parteichef und damit Kanzlerkandidaten-Macher (siehe dazu unser Kurzinterview mit Friedrich Merz weiter unten)? Ist CSU-Chef Markus Söder als Kandidat der Union tatsächlich schon gesetzt? Erstaunlich viele professionelle Beobachter in Berlin und vor allem viele Grüne gehen momentan davon aus. Interessant für professionelle Demokratie-Beobachter war zuletzt, wie sich die Partei im neuen Grundsatzprogramm positioniert: Mit einem klaren Bekenntnis zur repräsentativen Demokratie. Plebiszite wie das Brexit-Referendum in Grossbritannien haben die Grünen, die sich einst als Basisbewegung verstanden, vorsichtiger auf Volksbefragungen schauen lassen.
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Vor wenigen Tagen begann die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Im Nachhinein wird man sie wohl vor allem für ihr Management der Corona-Krise erinnern, vielleicht auch wegen der weiblichen deutschen Doppelspitze: Kanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Doch eine andere, bisher selten beachtete Kommissarin ist für Demokratiedebatten ebenfalls interessant: Die konservative kroatische EU-Kommissarin Dubravka Suica. Sie ist zuständig für Demokratie und Demografie, zwei Themen, die in Deutschland nur gelegentlich in einem Atemzug genannt werden. In Kroatien hingegen wird die Kombination aus Geburtenrückgang und Fachkräfte-Abwanderung seit Jahren als Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt empfunden, woran Kroatiens Premierminister Andrej Plenković von der Leyen bei ihrem Antrittsbesuch erinnerte. Ungarns Regierungschef Victor Orban zeigt mit einer Bevölkerungs- und Familienpolitik, wie sich das Thema auch populistisch instrumentalisiert werden kann, wenn andere sich nicht kümmern. Dubrovka Suica hat jetzt die Chance, einen Gegenentwurf zu liefern.
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Etwa 250.000 Polizisten gibt es in Deutschland. Auf 330 Einwohner kommt also ein Polizist. Schon deshalb ist klar, dass sich hier sehr unterschiedliche politische und gesellschaftliche Vorstellungen finden. Die Polizei ist also im Guten wie im Schlechten ein Spiegelbild der Gesellschaft. Doch wenn in Deutschland über die Polizei diskutiert wird, dann wird es schnell emotional und laut. Es scheint bei der Beurteilung der Polizeiarbeit nur schwarz und weiß zu geben. Für Kritiker ist die Polizei „latent rassistisch“, geprägt von Korpsgeist und Vorurteilen. Die Polizei selbst sieht sich unter Generalverdacht gestellt, als Sündenbock für gesellschaftliche Missstände. Immer häufiger wird sie im Dienst attackiert, wie zuletzt in Stuttgart, wo eine Drogenkontrolle im Stadtpark eskalierte.

Dass die Diskussionen über Polizei und ihre Arbeit derart polarisiert, liegt auch an ihrer Sonderstellung im Gemeinwesen. Sie ist die Ordnungsmacht des Staates, als einzige Institution im inneren zur Gewaltanwendung befugt sowie zur Kontrolle von Menschen. Gleichzeitig ist die Polizei Garant der Freiheit, muss den Schutz des Einzelnen und seines Eigentums genauso garantieren, wie etwa das Demonstrationsrecht, selbst dann, wenn zum Beispiel Rechtextremisten oder andere Demokratiefeinde auf die Straße gehen.

Doch wie viele Polizeiübergriffe gibt es in Deutschland tatsächlich? Seit zwei Jahren erforscht der Bochumer Kriminologe Tobias Singelnstein im Rahmen eines Forschungsprojektes den „Umfang rechtswidriger Gewaltanwendung durch PolizeibeamtInnen“, seit Herbst vergangenen Jahres liegt ein Zwischenbericht vor. Rechtswidrige polizeiliche Gewaltausübung könne „in allen Einsatzsituationen vorkommen“ schreibt Singelnstein. Von jährlich mehr als 2.000 Strafverfahren gegen mehr als 4.000 Polizeibeamte berichtet er in seiner Studie wegen rechtswidriger Gewaltausübung, nennt sie „Verdachtsfälle im Hellfeld“ und schätzt, dass das gesamte Dunkelfeld im Bereich rechtswidriger Gewaltausübung durch Polizeibeamte mindestens fünfmal so groß ist. Doch nur zwei bis drei Prozent aller Strafverfahren gegen Polizisten landen vor Gericht.

Ob das angesichts von rund 5,44 Millionen Straftaten, die 2019 polizeilich registriert wurden, viel oder wenig ist, liegt im Auge des Betrachters. In jedem Fall zeigt sich, dass die ganz überwiegende Zahl der Polizistinnen und Polizisten in Deutschland ihren Dienst gesetzestreu ausübt. Trotzdem muss jeder Fall aufgeklärt werden, denn jeder Einzelfall untergräbt das Vertrauen in die Polizei. Vertrauen ist die Voraussetzung dafür, dass die Menschen in der Demokratie das Gewaltmonopol des Staates akzeptieren.

Mit diesen Gedanken verabschieden wir uns und wünschen einen guten Start in die Woche. Wir machen übrigens keine Sommerpause - in zwei Wochen schreibt hier wieder Andrea Römmele.

Ihre Elisabeth Niejahr
 
Zitat:
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer auf Twitter zu ihrem Tagesbefehl
„Folgen rechtsextremistischer Tendenzen im Kommando Spezialkräfte (KSK)“
 
Pinnwand
Tipps aus dem Demokratie-Team
Podcast
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In jeder Woche werden in der Öffentlichkeit Rechtsfragen, geplante Gesetzesänderungen oder Gerichtsurteile diskutiert. Einspruch heißt dazu der wöchentliche Podcast der FAZ zum Thema Recht, inzwischen in der 127. Folge. FAZ-Politikredakteur Constantin van Lijnden und FAS-Wirtschaftsredakteurin Corinna Budras, beide Juristen, diskutieren darin kenntnisreich und unterhaltsam die Hintergründe von Rechtspolitik und Rechtsprechung.
Kino
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Während der Olympischen Spiele 1976 entdeckte Wachmann Richard Jewell eine Bombe und verhinderte ein Blutbad. Erst wurde er als Held gefeiert, dann zu Unrecht beschuldigt, die Bombe selbst gelegt zu haben. Clint Eastwood verfilmte die Geschichte „als Parabel darauf, was passieren kann, wenn man zwischen die Fronten von Justiz, Medien und einer rachsüchtigen Öffentlichkeit gerät“, so der Spiegel. Seit Ende Juni im Kino.
Wahlrecht
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Am Dienstag vergangener Woche trat in Brandenburg das Parité-Gesetze in Kraft, mit dessen Hilfe der Frauenanteil im Landtag auf fünfzig Prozent erhöht werden soll. Thüringen ist schon einen Schritt weiter. Dort entscheidet am 15. Juli das Verfassungsgericht des Landes darüber, ob das dortige Parité-Gesetz verfassungsgemäß ist. Zweifel haben auch renommierte Verfassungsjuristinnen wie Monika Polzin.
 
Für Sie gelesen
Das große Nein von Armin Nassehi
Proteste sind in der Demokratie allgegenwärtig, Protestbewegungen haben dieses Land geprägt – Arbeiterbewegung, Studentenbewegung, Frauenbewegung, Umweltbewegung. Eine Protestbewegung von rechts hat in den vergangenen Jahren die AfD in die Parlamente getragen. Der Soziologe Armin Nassehi fragt in seinem Buch „Das große Nein“ nach der Funktion des Protestes. Am Beispiel von Friday for Future und PEGIDA analysiert er – ohne beide Bewegungen gleichzusetzen – „wie Proteste funktionieren, wie sie zustande kommen, was sie vermögen und wozu sie nicht in der Lage sind“. Wie immer braucht man ein paar Seiten, um sich in die komplexe Sprache von Nassehi einzulesen, doch dann lernt man viel. Über die Bedingungen, unter denen Protestbewegungen entstehen zum Beispiel, welche Rolle soziale Medien bei der Überhitzung von Protest spielen. Oder darüber, warum es Protestbewegungen immanent ist, dass sie sich radikalisieren und warum sie in Gewalt und Terror umschlagen können. Tragischerweise müssten Protestbewegungen an der Komplexität moderner Gesellschaften scheitern, so Nassehi. Letztendlich jedoch verweisen sie auf die internen Paradoxien der Demokratie. Protest sei einerseits ein „Demokratiegenerator“, weil er den Raum des Sagbaren und Entscheidbaren in der Gesellschaft erweitert. In diesem Sinne ist zum Beispiel das Demonstrationsrecht, konstitutiv für eine demokratische Gesellschaft. Protest sei auf der anderen Seite auch eine „Gefährdung der Demokratie“, weil er demokratische Verfahren der Gesetzgebung und politischen Willensbildung delegitimieren könne, die Loyalität zu den Institutionen, die die demokratischen Verfahren garantieren, aufkündigt. cse
Abbildung des Buchs: FAKE FACTS von Katharina Nocun und Pia Lamberty
 
Drei Fragen an...
Friedrich Merz
Wem hören sie gern zu, obwohl er politisch ganz anders tickt als sie?

Früher Oskar Lafontaine, mit dem ich aber nur in der Zuneigung zum Saarland übereingestimmt habe. Heute eher Boris Johnson, mich fasziniert immer wieder die britische Debattenkultur.
Welches Demokratie-Projekt verdient mehr Beachtung?

Demokratieunterricht und Rollenspiele in den Schulen. Wenn wir dort nicht mehr tun, dürfen wir uns über weiter wachsendes Desinteresse nicht wundern. 
Was ist Ihre demokratische Lieblingstugend?


Zur Zeit: Lesen und schreiben - coronabedingt. Aber das wird auch wieder anders. Danach: Reden halten in vollen Hallen.
Portraitfoto Verena Pausder
Friedrich Merz ist einer der Bewerber für den Parteivorsitz der CDU. Von 1989 bis 1994 war er Abgeordneter im Europaparlament, anschliessend wechselte er in den Bundestag, wo er von 2000 bis 2002 die Unionsfraktion führte. In der Folgezeit machte Merz in der Wirtschaft Karriere und führte unter anderem den Aufsichtsrat des Vermögensverwalters Blackrock in Deutschland. 2018 verlor er knapp gegen Annegret Kramp-Karrenbauer beim Versuch, CDU-Chef zu werden.
 
Die Autorinnen
Portraitfoto Elisabeth Niejahr
Elisabeth Niejahr ist seit Anfang 2020 Geschäftsführerin des Bereichs „Demokratie stärken“ der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Vorher arbeitete sie als Journalistin u.a. für ZEIT, SPIEGEL und Wirtschaftswoche. niejahrE@ghst.de
Portraitfoto Andrea Römmele
Andrea Römmele ist Professorin für politische Kommunikation an der Hertie School in Berlin, sie forscht vor allem zur Zukunft der Demokratie und verantwortet in der Hochschulleitung den Bereich Executive Education. roemmele@hertie-school.org
  
Redaktionelle Mitarbeit: Christoph Seils (cse)
 
H aus dem Logo der Gemeinnützigen Hertie Stiftung
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