19. Juli 2020











 
Liebe Leserinnen und Leser,
Logo – Gemeinnützige Hertie Stiftung
Foto: Demonstranten (zu sehen von hinten) mit Bannern und einem
Das Demokratie Update #6 ist da. Für manche von Ihnen vermutlich noch Urlaubslektüre. Erneut ist ein bunter Strauß an Themen zusammengekommen. Wir merken beim Zusammenstellen des Newsletters immer wieder, wie facettenreich, vielfältig und kontrovers Demokratie ist. Demokratie und Sprache ist immer wieder ein Thema was uns beschäftigt und wir diskutieren im Newsletter-Team jedes zweite Wochenende darüber, wie wir unsere Texte so schreiben, dass sich jeder angesprochen fühlt. Natürlich haben wir dazu unterschiedliche Meinungen. Gender*, großes I? Wir haben uns dazu entschieden, in der Regel die weibliche und die männliche Form zu verwenden. Falls dies nicht möglich ist, verwenden wir die männliche Form. Wir freuen uns ausdrücklich über Ihre Rückmeldungen dazu – wie würden Sie es machen?
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Gleich vor unserer Haustür, buchstäblich um die Ecke des Sitzes von Hertie-Stiftung und Hertie-School in Berlin-Mitte tobt derzeit eine Diskussion darüber, ob die Mohrenstrasse und der gleichnamige U-Bahnhof umbenannt werden sollen. Ist der Straßenname rassistisch? Schadet der Name dem Ansehen Berlins? Oder wird damit Geschichte aus dem Stadtbild getilgt? Gibt es womöglich gar keinen Beleg dafür, dass das Wort „Mohr“ rassistische Wurzeln hat?

In vielen Städten und vielleicht auch vor ihrer Haustür gibt es ähnliche Debatten und ich denke, diese Debatte ist in jedem Fall wichtig. Sie erinnert an unser koloniales Erbe und zwingt uns zur Auseinandersetzung damit. Auch wenn am Ende in verschiedenen Städten die Frage der Umbenennung von Straßen, die zum Beispiel nach Kolonialisten benannt sind, sehr unterschiedlich beantwortet wird.
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Die nächste Bundestagswahl ist zwar erst in 14 Monaten, trotzdem bereiten sich die Parteien bereits intensiv auf den Wahlkampf vor. Gleich drei Parteien in Deutschland diskutieren derzeit über ihren Kanzlerkandidaten. Neben Union und SPD könnten im kommenden Jahr auch die Grünen erstmals einen Kanzlerkandidaten oder eine Kanzlerkandidatin nominieren. Ein formales Verfahren zur Nominierung gibt es in Deutschland nicht, deshalb erscheint der Prozess auf den ersten Blick chaotisch, begleitet von innerparteilichen Machtkämpfen.

Wäre es da nicht besser und demokratischer, gäbe es auch in Deutschland Vorwahlen nach dem Vorbild der USA? Mit Mitgliederbefragungen zur Nominierung von Parteivorsitzenden und Spitzenkandidaten haben die Parteien in Deutschland in den vergangenen Jahren allerdings keine guten Erfahrungen gemacht. Zuletzt wählte die SPD-Basis Ende vergangenen Jahres Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans an die Spitze der SPD. Aus dem Umfragetief ist die Partei mit dem neuen Vorsitzenden-Duo nicht herausgekommen.

Bei der Nominierung ihres Spitzenpersonals stehen die Parteien vor einer komplexen Herausforderung. In einer Konsensdemokratie wie Deutschland muss der Kanzlerkandidat nicht nur den Mitgliedern der Partei gefallen. Er darf nicht nur die Stammwählerinnen und -wähler ansprechen. Er muss vielmehr vor allem möglichst viele potenzielle Wählerinnen und Wähler, Wechselwählerinnen und -wähler mobilisieren.

Gibt es also Kriterien, die einen guten und erfolgreichen Kanzlerkandidaten beziehungsweise eine gute und erfolgreiche Kanzlerkandidatin ausmachen? Als aller erstes fragen sich Wählerinnen und Wähler bei ihrer Wahlentscheidung, wem können wir das Land anvertrauen? Wem trauen wir zu, eine Regierung zu führen? Zweitens fragen sie sich, welche Kompetenz bringen die Kanzlerkandidaten für die Lösung der drängenden Probleme des Landes mit. Wobei die Herausforderung darin besteht, dass heute niemand weiß, welche Themen in einem Jahr ganz oben auf der politischen Agenda stehen. Kanzlerkandidaten sollten also eine breite politische Kompetenz mitbringen, nicht nur Fachpolitiker sein. Schließlich ist Wahlkampf drittens eine enorme physische und psychische Herausforderung. Auch an dieser ist schon mancher Möchtegern-Kanzler gescheitert.

Langjährige Regierungserfahrung, breite politische Kompetenz sowie mentales und körperliches Stehvermögen – mit diesen drei Kriterien würden alle Parteien bei der Suche nach einem Kanzlerkandidaten oder einer Kanzlerkandidatin schon ziemlich weit kommen. Dass am Ende nur einer gewinnen kann – erst in der Partei, dann im Land, das ist Demokratie.
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Zum Schluss muss ich auch noch auf das leidige Thema Frauenquote zu sprechen kommen. Jetzt hat sich auch die CDU dazu durchgerungen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass mehr Frauen in die Politik gehen. Sie will in ihrer Satzung eine 50-Prozent-Quote verankern. Das ist gut so. Aber nicht nur in der Politik braucht es mehr Frauen, sondern generell überall in Spitzenpositionen; in der Wirtschaft, der Wissenschaft, in den Medien. Ohne Quote geht da nichts. Ohne Quote lassen sich die Männer-Seilschaften nicht aufbrechen. Frustrierend ist, dass es trotz jahrzehntelanger Diskussionen und Erfahrungen in der CDU noch immer so viel Widerstand gegen die Quote gibt. Interessant ist, welches Argument die CDU-Führung bewogen hat, jetzt doch eine Quote zu befürworten. Nicht Überzeugung, sondern die Erkenntnis, dass von Männern dominierte Parteien, bei Wählern und vor allem bei Wählerinnen nicht mehr wohlgelitten sind. Die CDU bangt also nicht mehr und nicht weniger als um ihre Wahlchancen. Schön, dass Demokratie funktioniert.

Herzlich grüßt Ihre Andrea Römmele
 
Zitat:
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) im Interview mit der Zeit
 
Pinnwand
Tipps aus dem Demokratie-Team
Im Stadion
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Auch Kneipen, Fußballstadien oder private Feiern sind Orte der Demokratie. Dieser vorpolitische Raum sei entscheidend für die demokratische Debattenkultur schreibt Nils Markwardt im Philosophie Magazin in einem Essay „über die Macht des vorpolitischen Raums“.
Gesichtserkennung
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Gesichtserkennung im Internet ist eine Bedrohung unserer Privatsphäre. Sie ist illegal, verstößt gegen den Datenschutz und trotzdem ein Geschäft. Es sind „Überwachungssysteme der Zukunft“, kommentiert Markus Beckedahl und erklärt, was wir dagegen tun können.
Fernsehen
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Noch bis zum 2. August in der Arte-Mediathek: Die sehenswerte zweiteilige Dokumentation von Volker Heise über Berlin 1945, eine Stadt zwischen Niederlage, Neubeginn und drohender Teilung.
 
Für Sie gelesen
Mascha Gessen, Autokratie überwinden
Seit dreieinhalb Jahren ist Donald Trump mittlerweile US- Präsident. Die amerikanische Journalistin Mascha Gessen präsentiert in ihrem Buch „Autokratie überwinden“ einen eigenen Blick auf das System Trump. Der deutsche Titel des Buches ist leider irreführend, „Surviving Autocracy“ heißt es im Original. Darum geht es Gessen. Wer Trump überleben will, muss zunächst verstehen, wie der Trumpismus funktioniert, wie sein „autokratischer Versuch“ Institutionen der Demokratie einspannt, wie Trump die Sprache pervertiert, die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge aufhebt, seine Gegner demütigt oder moralische Prinzipien denunziert. Für Mascha Gessen, die in Russland geboren wurde und immer wieder Parallelen zur Entwicklung in Osteuropa aufzeigt, ist Donald Trump die logische Folge des verblassten amerikanischen Mythos. Weil der amerikanische Expansionismus an seine Grenzen gestoßen sei, versuche der Präsident die Nation neu zu definieren – nicht mehr als Einwanderungsgesellschaft, sondern als Gesellschaft, die immer mehr Menschen ausschließt. Überleben lasse sich das System Trump nur mit einem klaren moralischen Kompass, einer starken Zivilgesellschaft und der Vision eines Amerikas „wie es sein könnte“. Vertrauen in die Institutionen hingegen hat Masha Gessen keines, zu viele seien längst korrumpiert. Doch letztendlich hat auch sie nur die eine Hoffnung, dass Donald Trump im November als Präsident abgewählt wird. cse
Abbildung des Buchs: FAKE FACTS von Katharina Nocun und Pia Lamberty
 
Für Sie gelesen
Albert O. Hirschman: The Rethoric of reaction. Cambridge 1991
offenes Buch
Sprache als zentrales Mittel der Politik wird von Demokraten und Nichtdemokraten gleichermaßen zur Durchsetzung ihrer Interessen verwendet. Der US-amerikanische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Albert O. Hirschman hat sich mit wiederkehrenden politischen Argumentationsmustern beschäftigt. In seinem Buch „The rhetoric of reaction“ zeigt er auf, wie hinderlich diese für den politischen Diskurs sein können. Unter anderem betrachtet er die Debatte rund um die Demokratisierung und das Streben nach allgemeinen Wahlen im neunzehnten Jahrhundert.

Hirschman identifiziert drei Hauptargumente, die immer wieder vorgebracht werden, um progressive Veränderungen zu verhindern:

(1) die Perversitätsthese, nach der jede Maßnahme zur Verbesserung der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Ordnung angeblich genau das Gegenteil von dem bewirkt, was beabsichtigt war;

(2) die Sinnlosigkeitsthese, die voraussagt, dass Versuche der sozialen Transformation keinerlei Auswirkungen haben werden, da sie einfach nicht in der Lage sein werden, den Status quo zu verändern;

(3) die Gefährdungsthese, die besagt, dass die Kosten der vorgeschlagenen Reform inakzeptabel sind, weil sie die zuvor hart erkämpften Errungenschaften gefährden.

Der Autor zeigt aber zugleich auf, dass Progressive geneigt sind, rhetorische Haltungen einzunehmen, die ebenso voreingenommen sind wie die ihrer reaktionären Gegenspieler. In beiden Fällen dienten solche ideologiegetriebenen Argumente in erster Linie dazu, Debatten zu beenden. Hirschman liefert damit interessante Gedanken zu unserer Debattenkultur und regt an, selbst nach solchen Argumentationsmustern zu suchen und sie zu hinterfragen.
 
Drei Fragen an...
Kevin Kühnert
Wem hören sie gern zu, obwohl er oder sie politisch ganz anders tickt als sie?

Die konservative Publizistin Liane Bednarz liegt inhaltlich oftmals weit weg von mir, ist aber im Diskussionsstil und der Lust auf kontroverse Debatte absolut vorbildlich. Das macht mir auf Twitter immer viel Spaß. Klare Follow-Empfehlung!
Welches Demokratie-Projekt verdient mehr Beachtung?

Ich bin über Kinder- und Jugendbeteiligungsarbeit zur Politik gekommen und habe später ein Freiwilliges Soziales Jahr im Kinder- und Jugendbüro Steglitz-Zehlendorf absolviert. Solche Büros sind Dolmetscher zwischen jungen Menschen und Politik sowie Verwaltung. Ohne sie bleibt Partizipation eine Floskel.
Was ist Ihre demokratische Lieblings-Tugend?


Transparente Kommunikation! Entscheidungen so zu erklären, dass alle sie verstehen, ohne dabei von oben herab zu sprechen. Politische Prozesse sind komplex und häufig undurchsichtig. Deshalb gehört zur Transparenz auch dazu, dass man gelegentlich zugeben muss: Ich selbst verstehe das auch (noch) nicht.
Portraitfoto Verena Pausder
Kevin Kühnert (31) ist Vorsitzender der Jusos und stellvertretender SPD-Vorsitzender. (Foto: Nadine Stegemann)
 
Die Autorinnen
Portraitfoto Elisabeth Niejahr
Elisabeth Niejahr ist seit Anfang 2020 Geschäftsführerin des Bereichs „Demokratie stärken“ der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Vorher arbeitete sie als Journalistin u.a. für ZEIT, SPIEGEL und Wirtschaftswoche. niejahrE@ghst.de
Portraitfoto Andrea Römmele
Andrea Römmele ist Professorin für politische Kommunikation an der Hertie School in Berlin, sie forscht vor allem zur Zukunft der Demokratie und verantwortet in der Hochschulleitung den Bereich Executive Education. roemmele@hertie-school.org
  
Redaktionelle Mitarbeit: Christoph Seils (cse)
 
H aus dem Logo der Gemeinnützigen Hertie Stiftung
Gemeinnützige Hertie-Stiftung
Büro Berlin
Friedrichstr. 183
10117 Berlin

Tel. +49 30 22 05 603-0
Fax +49 30 22 05 603-99
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