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Hertie School/Maurice Weiss
Interview über die Diskussionskultur und Meinungsfreiheit an deutschen Hochschulen

Universitäten müssen einen Rahmen für Proteste setzen

Prof. Cornelia Woll, Präsidentin der Hertie School, über wachsende politische und antisemitische Spannungen an Universitäten und die Voraussetzungen für ein Klima des Respekts und des produktiven Streitens.
Demokratie stärken

Quick Read: Worum es geht

Im Interview erörtert Prof. Cornelia Woll, Präsidentin der Hertie School, wie ihre Hochschule auf zunehmende antisemitische Übergriffe und politische Spannungen an deutschen Universitäten reagiert. Woll betont die Notwendigkeit, einen sicheren und respektvollen Raum für Meinungsäußerungen zu schaffen, und diskutiert Maßnahmen wie Konfliktmanagement-Workshops und Antisemitismus-Trainings, um den Studierenden die rechtlichen und kulturellen Normen näherzubringen.

Anfang Februar haben pro-palästinensische Aktivisten in der Humboldt-Universität zu Berlin eine gemeinsam mit der Hertie School und der Universität Münster veranstaltete Podiumsdiskussion zum Thema „Constitutional challenges – Judging in a Constitutional Democracy“ so massiv gestört, dass diese zunächst abgebrochen werden musste. Eine israelische Verfassungsrichterin, die als Gast auf dem Podium saß, war von den Störern niedergeschrien worden, sodass eine Diskussion nicht möglich war. Erschreckend – und leider kein Einzelfall: Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und der militärischen Antwort Israels in Gaza ist die Stimmung an deutschen Universitäten polarisiert und antisemitische Übergriffe nehmen zu. Jüdische Studierende und Lehrende werden verstärkt beschimpft, bedroht und sogar körperlich angegriffen. Wie mit der Situation umgehen? Was bedeutet diese Entwicklung für unsere Demokratie? Prof. Cornelia Woll, Präsidentin der Hertie School, gibt Antworten in unserem Interview.

Was ging während der Podiumsdiskussion in Ihnen vor, als Sie realisierten, dass die Veranstaltung wegen antisemitischer Proteste abgebrochen werden muss?

Die Situation hat mich zunächst irritiert, da uns die Störung von den protestierenden Studierenden vorab angekündigt worden war. Sie sagten, dass sie einen Text vorlesen und damit ihre Kritik an der Verfassungsrichterin zum Ausdruck bringen wollten. Diesen Text haben uns die Studierenden sogar vorgelegt und auch die Richterin kannte ihn. Insgesamt waren vier Verfassungsrichter aus verschiedenen Ländern geladen, und sie haben gemeinsam entschieden, dass der Text vorgetragen werden kann. Im Anschluss sollte die geplante Diskussion stattfinden. Insofern war der Beginn dieses Protests für uns nicht überraschend und durchaus akzeptiert als Teil des Konfliktes, den man in solchen Veranstaltungen ja eigentlich auch begrüßt. Dann ist aber etwas passiert, was eher eine Entgleisung war, nämlich ein Niederschreien der Richterin, die antworten wollte, und gar nicht mehr zu Wort kam. Auch den anderen Podiumsteilnehmern wurde jegliche Antwort verwehrt. Julia von Blumenthal als Präsidentin der Humboldt-Universität und ich haben die Veranstaltung dann abgebrochen, weil es nicht mehr möglich war, den Austausch zu gewährleisten. Am Ende war das eine große Enttäuschung für uns, weil die Kritik der Studierenden an sich willkommen war, aber durch ihr Schreien ein Mundverbieten entstand. Das Ziel des Protestes war offensichtlich nicht, einen Austausch von Argumenten zu erreichen, wie wir annahmen, sondern die Veranstaltung zu beenden. Zum Glück ist das nicht gelungen.  

Wie konnten Sie die Situation retten?

Wir sind einmal um das Gebäude gelaufen und haben den größten Teil des Publikums und auch alle Vortragenden in ein naheliegendes, anderes Gebäude gebracht und dort die Veranstaltung stattfinden lassen. Wir waren sehr glücklich, dass dies gelungen ist, aber dennoch blieb die Enttäuschung, es erst im zweiten Anlauf geschafft zu haben.

"Wir akzeptieren den Protest, aber nicht, wenn er die Freiheit des anderen beeinträchtigt, sich auszudrücken."

Wie ist die Haltung der Hertie School gegenüber solchen Protesten von Studierenden?

Grundsätzlich müssen Universitäten Orte der Kritik und des produktiven Streits sein. Wir wollen nicht, dass alle „das Richtige“ meinen oder allen „das Richtige“ beibringen. Unser Ziel ist, produktives Streiten zu ermöglichen. Dazu gehört, dass bei Kritik versucht wird, sich zuzuhören und dem anderen mit Respekt zu begegnen, auch wenn das Gegenüber nicht dieselben Standpunkte hat. Das ist die Grundaufgabe, zu der wir uns verpflichtet haben. Sehr harte Kritik zählt ebenfalls dazu. Proteste, zum Beispiel durch Plakate sind davon ein Teil und werden von uns grundsätzlich begrüßt. Aber zu den Regeln gehört auch, dass man nicht versucht, anderen Menschen den Mund zu verbieten. Universitäten können für Protestaktionen Raum und Regeln definieren. Wir akzeptieren den Protest, aber nicht, wenn er die Freiheit des anderen beeinträchtigt, sich auszudrücken.

Wie gehen Sie an der Hertie School mit Konflikten oder antisemitischen Äußerungen unter den Studierenden um?

Wir haben rund 800 Studierende aus fast 80 Ländern. Es sind sehr viele unterschiedliche Glaubensrichtungen und politische Ansichten vertreten. Studierende aus Israel und dem Nahen Osten sind oft persönlich betroffen. Gerade nach dem Terror-Anschlag der Hamas und der militärischen Antwort Israels hatten wir es mit starken emotionalen Reaktionen zu tun. Die Studierenden sind zum Beispiel in WhatsApp-Gruppen aktiv, in denen sie aufgebracht diskutieren, aber auch in der Cafeteria spürte man sofort, dass die Emotionen hochkochen. Wir haben schnell gemerkt, dass wir den Studierenden zwei Wege anbieten müssen, um die Situation zu verarbeiten: Einerseits die Analyse und die wissenschaftliche Perspektive zu den aktuellen Ereignissen. Das ist die etwas kühlere Antwort. Andererseits haben wir als Universität auch eine Sorgfaltspflicht. Für viele der internationalen Studierenden sind wir in Berlin sozusagen die Familie und müssen sicherstellen, dass sich alle gesehen und wahrgenommen fühlen. Wir wollen den jungen Menschen einen sicheren Ort und Rahmen bieten, damit sie ihre Emotionen verarbeiten können. Das haben wir mittels unterschiedlicher Angebote versucht: In einer Veranstaltung zum Konfliktmanagement konnten die Studierenden zum Beispiel lernen, über heikle oder emotionale Themen miteinander zu sprechen. Gleichzeitig haben wir ein Antisemitismus-Training angeboten, auch weil das deutsche Regelwerk unseren internationalen Studierenden oft unzugänglich ist, vor allem, wenn man aus einem anderen Kulturkontext kommt.

Wie meinen Sie das genau?

Was als Antisemitismus verstanden wird, ist teilweise unterschiedlich. Es gibt Länder, da ist die Verleugnung des Holocaust akzeptiert oder nicht strafbar. Dadurch kommt es immer wieder zu Differenzen, weshalb die Studierenden an uns herangetreten sind. Sie wollten wissen: Was ist Antisemitismus in Deutschland? Ist es Antisemitismus, die israelische Regierung zu kritisieren? Wir haben das an verschiedenen Beispielen diskutiert. Das war sehr wichtig, denn tatsächlich hatte sich bereits ein Graben aufgetan zwischen den Studierenden, denen der deutsche Rechts- und Kulturraum vertraut ist, und denjenigen, die aus dem Ausland zu uns kamen. Zusätzlich haben wir auf der analytischen Ebene viele Veranstaltungen angeboten: Wir hatten einen israelischen Wissenschaftler von der Hebrew University bei uns, aber auch eine palästinensische Wissenschaftlerin aus den USA, die die Geschichte des Nahostkonflikts vorgetragen und analysiert hat. Eine Nahostexpertin hat uns zur Staatenbildung und Demokratie in der arabischen Welt ihre Forschung dargelegt. Und natürlich sind auch unsere eigenen Professoren schnell in den Austausch mit Studierenden und Mitarbeitenden gegangen. Da ging es um Themen wie Terrorismus, Völker- und Menschenrechte, aber auch um Fake News und die Rolle von sozialen Medien im Kriegsgeschehen. Alle Veranstaltungen haben eine analytische Ebene eröffnet und Raum geboten, um die eigenen Emotionen zu verarbeiten und das Miteinander wieder zu ermöglichen.

Waren die Angebote erfolgreich - oder wie ist die Stimmung jetzt?

Die Stimmung ist natürlich immer noch angespannt, man sieht das auch an anderen Universitäten. Ich würde sagen, jeder Funke könnte eine kleine Explosion auslösen. Aber ich sehe auch, dass wir in einer relativ kleinen Hochschule alle ein Bedürfnis haben, zueinander zu finden. Dabei halfen die vielen Veranstaltungen. Aber es ist immer noch schwierig, sich die Bilder des Krieges anzusehen sowie die Entwicklung in Nahost, die viel Frustration, Wut und Enttäuschung bei allen Beobachtern auslöst. Solange der Krieg in Gaza weitergeht, werden die Emotionen der Studierenden mitschwingen.

"Der Kampf gegen Antisemitismus, aber auch gegen Rassismus und andere Formen von Diskriminierung ist eine ständige Aufgabe und Herausforderung. Wir müssen sie immer wieder neu thematisieren. "

Der Berliner Senat möchte jetzt das Hochschulgesetz ändern, um extremistische oder rassistische Gewalttäter leichter exmatrikulieren zu können. Kritiker fürchten um die Meinungsfreiheit. Wie ist Ihre Haltung dazu?

Es steht für mich außer Frage, dass es klare Regeln braucht. Die Grenze ist überschritten, wenn Äußerungen menschenfeindlich werden, rechtsextrem oder antisemitisch sind, und wenn es zu physischer Gewalt kommt. Dann muss klar gesagt werden: „So können wir in einer Universität nicht miteinander umgehen!“ Natürlich gehört auch ein Disziplinarverfahren dazu, das eventuell zum Ausschluss führen kann. Insofern begrüße ich es, dass das Land Berlin sich mit diesem Thema beschäftigt, bin aber überrascht, dass es bisher bei gewalttätigen Übergriffen keine Sanktionsmöglichkeiten gab.

Welche Rolle haben die deutschen Hochschulen im Kampf gegen Antisemitismus?

Was wir angesichts des ungelösten Nahostkonflikts deutlich sehen, ist, dass wir Antisemitismus eine zu lange Zeit aus dem Blick verloren haben. Meine erste Lektion ist: der Kampf gegen Antisemitismus, aber auch gegen Rassismus und andere Formen von Diskriminierung ist eine ständige Aufgabe und Herausforderung. Wir müssen sie immer wieder neu thematisieren. Ich habe zum Beispiel im Rahmen der aktuellen Proteste beobachtet und gelernt, dass es einen deutlichen Generationenbruch zu der Frage gibt, wie man einerseits auf den Holocaust und andererseits auf die israelische Politik reagiert. Ich höre häufig, dass innerhalb jüdischer Familien die ältere Generation und die jüngere Generation darüber sehr kritisch miteinander diskutieren und teilweise gar nicht mehr zusammenkommen.

Woran liegt es?

Wenn wir uns die jüngere Generation insgesamt anschauen, vertritt diese eher eine Haltung, die manchmal als „postkolonial“ dargestellt wird. Demnach gilt Palästina im Nahostkonflikt als unterdrückt und hat das Recht, sich dagegen zu wehren. Ob das beinhaltet, dass die Handlungen der Hamas in irgendeiner Weise gerechtfertigt werden, will ich jetzt gar nicht diskutieren. Die Älteren sehen vor allen Dingen die jüdische Bevölkerung in der Opferrolle auf Grund des Holocausts. Für die jüngere Generation ist die israelische Regierung Aggressor in einer Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung. An Universitäten treffen wir auf die jüngere Generation und können nicht davon ausgehen, dass das, was wir vor 20 Jahren mal gelernt haben, automatisch weitergelebt wird. Das heißt: Universitäten sind als Orte des Meinungsaustauschs und als Wissensproduktionsquelle dafür verantwortlich, diese Themen ständig auf der Agenda zu haben, Impulse zu geben und Brücken zu bauen zwischen verschiedenen Regionen und Generationen. Im Grunde geht es darum, die Themen so zu verankern, dass sie in die Gesellschaft eingehen können. Es muss eine Offenheit dafür geben, sich auch die unangenehmen Fragen immer wieder neu zu stellen.

Welche Auswirkungen haben die aktuellen Proteste auf unsere Demokratie? Welche Herausforderungen sehen Sie?

Für mich sind die Proteste eine Art Stimmungsbarometer und ich sehe zwei Trends. Der erste ist eher positiv und nicht neu: Nämlich, dass es Proteste gibt, und dass sich die Studierenden an den Universitäten mit politischen Themen befassen. Das ist ähnlich wie die Reaktion auf den Vietnamkrieg an amerikanischen Universitäten. Dass politische Themen in den Universitäten kritisch diskutiert werden, ist für mich kein Risiko für die Demokratie, sondern ein Bestandteil dieses Austausches. Was wir aber auch sehen, ist, dass die Spielregeln für die Kritik, die zur Demokratie gehören, zunehmend missachtet werden. Konkurrierende Meinungen werden dann als so inakzeptabel definiert, dass man sie nicht anhören muss, weil die „falsche“ Person sie vertritt. Argumente werden durch Empörung erdrückt. Oft wird von „Cancel Culture“ gesprochen, die darauf zielt, dass man einige Leute vollkommen ausschließt. Das ist ein Risiko für den produktiven Streit, den wir in der Demokratie brauchen, den wir in den Universitäten brauchen, und der die Grundlage aller Wissensproduktion ist. Wenn dieser Respekt bei unbequemen Meinungsdifferenzen nicht mehr gegeben ist, gibt es ein Problem, nicht nur für die Universitäten, sondern auch für die Demokratie.

Hertie School

Die Hertie School bereitet herausragend qualifizierte junge Menschen auf Führungsaufgaben an den Schnittstellen zwischen öffentlichem Sektor, Wirtschaft und Zivilgesellschaft vor. An der staatlich akkreditierten privaten Hochschule für modernes Regieren lehren und forschen international anerkannte Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsforschende. Im Jahr 2003 von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung in Berlin gegründet, wird die Hochschule seither maßgeblich von der Stiftung getragen.

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Was können wir dagegen tun?

Die Regeln definieren. Natürlich muss man Protest akzeptieren, aber die Universitäten müssen einen Rahmen dafür setzen. Der Protest muss eine geregelte Form annehmen, egal, ob es sich um Plakate handelt oder um Demonstrationen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich für die Bevölkerung in Gaza einzusetzen oder die israelische Regierung zu kritisieren, die vollkommen kompatibel sind mit einem produktiven Austausch. Man sollte den Protest aber nicht nutzen, das Auftreten jeder Person, die aus Israel eingeladen wird, einfach zu verhindern, das Gespräch mit ihr zu sabotieren, oder jüdische Menschen auszuschließen. Dann sind die roten Linien überschritten. Universitäten müssen allen Menschen einen sicheren Zugang zu ihren Veranstaltungen ermöglichen. Insofern sind bei einer Missachtung Sanktionen ein wichtiger Teil des Regelwerkes, den Universitäten einzufordern haben.

INFO  Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung im April 2024  

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