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Dr. Constanze Stelzenmüller, Foto: Brookings
Interview mit Dr. Constanze Stelzenmüller

DEMOKRATISCHE NORMEN MÜSSEN GEPFLEGT WERDEN

Die Präsidentschaftswahl ist der größte Stresstest, den die amerikanische Demokratie in Jahrzehnten erlebt hat.
Demokratie stärken

Dr. Constanze Stelzenmüller ist eine deutsche Juristin und Publizistin. Sie ist aktuell als Senior Fellow an der US-amerikanischen Denkfabrik Brookings Institution in Washington tätig, einem unabhängigen Thinktank mit den Schwerpunkten Wirtschaft, Außenpolitik und Staatsführung. Frau Stelzenmüller ist ehemalige Direktorin des German Marshall Funds in Berlin und arbeitete als Redakteurin verschiedener Ressorts der Wochenzeitung Die Zeit. Sie veröffentlicht regelmäßig Texte in diversen Publikationen, etwa bei Financial Times, New York Times oder der Süddeutschen Zeitung.

Anfang September 2020 hat Elisabeth Niejahr, Geschäftsführerin des Demokratie-Bereichs der Hertie-Stiftung, Frau Stelzenmüller zu einem Talk über die Situation der Demokratie in den USA angesichts der kommenden Präsidentschaftswahlen eingeladen. Im Rahmen dieser virtuellen Veranstaltung ist dieses Interview entstanden.

Frau Dr. Stelzenmüller, was kann Donald Trump davon abhalten, eine drohende Wahlniederlage anzufechten?

Zunächst einmal stellt sich eine ganz andere Frage: Wird es überhaupt am Wahlabend Klarheit über den Gewinner geben? Viel spricht dafür, dass eine historisch große Zahl von Wählern per Briefwahl abstimmen — und dann könnte es Tage oder gar Wochen dauern, bis die Stimmzettel ausgezählt sind. Übrigens ist trotz des aktuellen Umfragenvorsprungs für Biden eine zweite Amtszeit für Trump keineswegs ausgeschlossen.

Demokratie Stärken

Die Hertie-Stiftung fördert vielfältige Projekte zur Stärkung unserer Demokratie. Eine Übersicht über die Aktivitäten finden Sie auf unserer Website:

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Sehen Sie die amerikanische Demokratie in Gefahr?

Ich halte die amerikanischen Institutionen und auch die Zivilgesellschaft für ziemlich widerständig; auch die Militärführung hat eindeutig klargemacht, dass sie sich nicht politisch instrumentalisieren lassen wird. Aber Entstaatlichung, Polarisierung, Korruption und Ermüdung sind ebenfalls nicht zu leugnen. Dies ist gewiss der größte Stresstest, den die amerikanische Demokratie in Jahrzehnten erlebt hat.

Was unterscheidet die amerikanische Demokratie grundsätzlich von der deutschen Demokratie? 

Vor Trump hätte ich gesagt: Gelassenheit und das Aushaltenkönnen von großen politischen Spannungen. Das Grundvertrauen in die Resilienz einer mehr als zweihundert Jahre alten Verfassungsordnung. Aber es gibt noch einen anderen großen Unterschied: unterhalb der Bundesebene sind Instrumente der direkten Demokratie weit verbreitet. Sie haben viel dazu beigetragen, die repräsentative Demokratie zu lähmen und auszuhöhlen.

Was kann die Demokratie in Deutschland von der amerikanischen Demokratie lernen?

Dass demokratische Normen, Institutionen und Kultur nicht selbsterhaltend sind, sondern gepflegt und geschützt werden müssen. Es spricht einiges dafür, dass auch wir da unerledigte Hausaufgaben haben.

Würde eine Regierung unter Joe Biden das transatlantische Verhältnis in seinen Zustand „vor Trump“ bringen? Oder gibt es Aspekte, die auch bei einem Regierungswechsel weiter Bestand haben könnten?

Wie schon gesagt: Wer der 46. Präsident wird, ist noch nicht ausgemacht. Und wer immer im Januar 2021 den Amtseid leistet, wird es mit einem Land in einer historischen Krise zu tun haben. Biden ist sicher ein Traditionalist und Internationalist — aber auch er würde anerkennen müssen, dass sich die Welt und Amerikas Rolle darin sehr verändert hat. Und auch seine Wähler werden von ihm erwarten, dass die Reparatur der amerikanischen Demokratie für ihn Vorrang hat.

Was müsste Europa tun, um von den USA als gleichberechtigter Partner wahrgenommen zu werden? Und was müssten die USA tun, um das Vertrauen der Europäer wiederzugewinnen?

Mit einem Präsidenten Biden müsste das transatlantische Verhältnis in weiten Teilen neu ausgehandelt werden. Ich habe allerdings mehr Vertrauen darin, dass er sich um das Vertrauen der Europäer bemühen wird, als in die Bereitschaft der Europäer, das Vertrauen der Amerikaner zu verdienen.

Wir danke Ihnen für das Gespräch und sind gespannt auf den Fortgang der Wahlen in den USA.

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