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Interview mit Oliver Wurm

Würde das Grundgesetzt nur aus Artikel 1 bestehen - es wäre schon großartig.

Der Journalist und Medienunternehmer Oliver Wurm hat einen schwer lesbaren Text in ein neues Gewand gebracht: Das Grundgesetz. Ein Interview über eine ungewöhnliche Idee.
Demokratie stärken

Oft zitiert und doch nur selten wirklich gelesen. Den Titel kennt jeder, den ersten Artikel kennen viele, den gesamten Inhalt aber wohl die wenigsten. Am 23. Mai feiert das Grundgesetz Jubiläum und bildet damit seit nun mehr 70 Jahren das Fundament unserer Gesellschaft und unseres täglichen Miteinanders. Der Inhalt ist allgegenwärtig, der Text selbst bisher aber nur in klassischer Form und wenig zugänglich zu Papier gebracht.

Diesem Mißstand setzte der Hamburger Journalist Oliver Wurm ein Format entgegen, das man direkt beim Kiosk um die Ecke kaufen kann, ein modernes Grundgesetz, neugestaltet als Magazin, ausgelegt in jeder besser sortierten Bahnhofsbuchhandlung im Land. In unserem Gespräch berichtet er darüber, wie die Idee entstanden ist und welchen langfristigen Effekt er sich von seinem Herzens-Projekt erhofft. 

Hallo Herr Wurm, schön dass Sie heute für uns Zeit gefunden haben. Wir sind begeistert von dem schönen Grundgesetz, das Sie gestaltet haben. 

Ja klasse, dass freut mich sehr. Das Feedback ist wirklich toll und wir scheinen mit unserem Projekt Gesellschaft-übergreifend einen Nerv getroffen zu haben.

Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Hätte das Grundgesetz nur diesen einen Satz – es wäre schon großartig.

Wie sind Sie bei der Umsetzung vorgegangen? Sie arbeiten vermutlich mit verschiedenen Leuten an so einem großen Projekt?

Grundsätzlich bin ich gerne ein Alles-Kümmerer, aber in diesem Fall habe ich mit Andreas Volleritsch als Designer zusammengearbeitet. Nachdem ich die Idee für eine Neugestaltung hatte, habe ich mich direkt mit ihm in Verbindung gesetzt und wir haben daraufhin Stunden und Tage intensiv an dem Magazin gearbeitet. Einen so umfangreichen und in vielen Teilen ja zugegeben auch etwas sperrigen Text in eine moderne Form zu überführen, erfordert eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen Redaktion und Grafik. Wo werden Schwerpunkte gesetzt, wo soll die Optik hervorstechen, wo wird plakativ gearbeitet usw. Das sind redaktionelle Entscheidungen, die das Layout stark beeinflussen. Es ging ja auch beim Setzen der Schwerpunkte darum, möglichst allgemeingültig und neutral dem Text gegenüber zu bleiben – und nicht unser eigenes Wertesystem zum Maß der Entscheidungen zu machen, was groß und was klein gedruckt wird.

Haben Sie das bei sich zu Hause im Regal gesehen und gedacht: „Mensch wie langweilig, wie kann man das anders machen“? 

Wir haben 2011 bereits ein ähnliches Projekt realisiert. Damals entstand die Idee auch sehr spontan. Ich blätterte eher aus Langeweile in einer dieser typischen kleinen Bibelausgaben, und fand das inhaltlich alles plötzlich so zeitgemäß. Wir haben dann losgelegt, und das Neue Testament lesbar und grafisch modern gestalten und in Magazin-Form an den Kiosk gelegt. Diese Arbeit wohnte auch sieben Jahre später noch in mir, als im Oktober 2017 der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar in der Talkshow „Markus Lanz“ von unserem Grundgesetz schwärmte und u.a. sagte: “Jeder sollte es einmal lesen.“ Ich habe mir sofort bei der Bundeszentrale für politische Bildung ein Exemplar bestellt. Das Heftchen, das da kam, war sehr freudlos gestaltet. Kleines Format, dünnes Papier, winzige Schrift. Die Texte aber waren großartig. Schon nach den ersten Seiten, den Grundrechten, war ich total begeistert. Ich hatte ewig nicht im Grundgesetz gelesen. In diesem Moment entstand – wie 2011 bei der Bibel – die Idee, auch an die Verfassung mal gestalterisch ranzugehen. Noch in der gleichen Nacht habe ich Andreas angerufen und wir haben begonnen, daran zu arbeiten. Hinzu kam, dass ich sowieso in dieser Zeit das Gefühl hatte, dass das Grundgesetz immer öfter zitiert wurde. Dass es mehr und mehr Thema wurde. Im Freundeskreis, im öffentlichen Diskurs. Spätestens nach dem Besuch der Protestveranstaltung in Chemnitz im September 2018 dann, wo sich über 60.000 Menschen unter dem Hashtag #WirSindMehr zusammengefunden hatten, hat mich die Idee der Grundgesetz-Kioskausabe nicht mehr losgelassen. Ein Protestplakat mit der Aufschrift „Die Würde des Menschen ist antastbar, Stand August 2018“ hat mich damals sehr berührt. Wir haben dann die Arbeit nochmals intensiviert; wenige Wochen später war es auf dem Markt. 

Sehen Sie kreatives Design in diesem Sinne als wichtigen Anhaltspunkt? Um eben auch einen sperrigen, jedoch wichtigen Text wie das Grundgesetz einer großen Leserschaft zugänglich zu machen?

Mein Grundsatz bei dem gesamten Prozess war, etwas, das für mich wertvoll und lesenswert ist, auch anderen leicht zugänglich zu machen und somit näherzubringen. Gutes Design hilft dabei sehr.

Glauben Sie, es ist aktuell besonders wichtig, gut über das Grundgesetz informiert zu sein? 

Das Grundgesetz ist die Basis unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wenn man es etwas salopp ausdrücken will: Die 146 Artikel sind unsere Spielregeln. Die sollte man kennen, ja. Das Grundgesetz hat wunderbare Sätze, in klarer Sprache formuliert. Beginnend mit dem vielleicht bedeutendsten Satz überhaupt. Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Hätte das Grundgesetz nur diesen einen Satz – es wäre schon großartig. Aber wenn man sich intensiv damit beschäftigt, findet man so viel, das zum Nachdenken anregt, mitunter auch berührt. Die Passage zur Richterlichen Unabhängigkeit war so eine Stelle. Während wir an dem Projekt saßen, waren die Nachrichten voll mit Geschichten von Journalisten-Kollegen von mir, die in der Türkei im Gefängnis saßen …   

Als Designelement wurden unter anderem Fotos verwendet, die der Astronaut Alexander Gerst aus dem Weltall geschossen hat. Was hat es damit auf sich?

Wir haben schnell erkannt, dass man vor den einzelnen Kapiteln optische Ruheinseln benötigt. Wir haben vieles ausprobiert. Manches lenkte zu sehr vom Text ab, anderes erschien irgendwie zu profan für ein solch gewaltiges Werk wie die Verfassung. Dann entdeckten wir auf den Social-Media-Kanälen des Kommandanten der Internationalen Raumstation Alex Gerst dessen fantastischen Bilder aus dem All.  Deutschland und Europa von oben. Von ganz oben. Die Bilder verleihen dem Projekt irgendwie eine Metaebene. Dieser Blick auf unser Land, eingebettet in ein friedliches Europa. Das gibt dem Projekt irgendwie noch mal eine andere Größe und Wertigkeit.

Wie haben Sie die Reaktionen seit der Veröffentlichung wahrgenommen? Sind die Resonanzen so ausgefallen, wie Sie es erhofft haben? 

Kurz vor der Veröffentlichung war ich natürlich wahnsinnig nervös und gespannt, wie die Leute reagieren werden. Wir haben das schließlich auf eigenes Risiko gemacht und bei keiner offiziellen Stelle abgeklärt. Aber bis zum heutigen Tag sind alle Reaktionen durch die Bank positiv. Wolfgang Kubicki, Vizepräsident des Deutschen Bundestags, hat einen tollen Brief geschickt. Der Journalist Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, ein ausgewiesener Kenner der Verfassung, schrieb eine fast hymnische Rezension. Es melden sich nahezu täglich Senioren und Schüler, Arbeiter, Anwälte und Professoren, Junge und Alte. Per Mail, Telefon, Brief oder über die sozialen Netzwerke. Der einhellige Tenor: Begeisterung. Ja, auch für die Machart des Magazins. Aber was ja noch viel toller ist: für das Grundgesetz!

Ihre Neugestaltung wird u.a. unter dem Schlagwort „Positiver Patriotismus“ diskutiert. Wie finden Sie diese Bezeichnung?

Ich bin von Haus aus Sportjournalist. Ich habe eine politische Haltung, aber ich schwimme nicht wie ein Jurist in den Verfassungstexten. In einem der ersten Interviews zum Projekt wurde ich von einer Kollegin von Spiegel online gefragt, ob ich ein „Verfassungs-Patriot“ sei. Ich musste mich erstmal mit diesem Begriff auseinandersetzen, wusste gar nicht so recht, wie der konnotiert ist. Inzwischen kann ich die Frage klar mit „Ja“ beantworten. Man kann natürlich immer über Einzelheiten diskutieren, aber grundsätzlich stehe ich voll und ganz zu den im Grundgesetz beschriebenen und verankerten Werten und Regeln. Und ich bin überzeugter denn je, dass nun die Zeit ist, für diese Werte einzustehen und jeden Tag dafür zu kämpfen.

Von diesem Projekt ausgehend: Glauben Sie, dass es im Bereich der politischen Bildung mehr solcher Initiativen braucht? Haben Sie schon einen Anstoß für ein neues Projekt? 

Ich weiß, dass das jetzt aufgesetzt klingt [lacht], aber es ist tatsächlich so, dass ich beide Projekte nicht geplant habe, dass ich die Texte nicht bewusst gesucht habe – sie sind mir, wenn man so will, sprichwörtlich vor die Füße gefallen. Man kann viel konzipieren und planen, aber solche außerordentlichen Sachen passieren in der Regel, wenn man nicht damit rechnet. Es kann sein, dass ich in ein paar Jahren wieder auf etwas stoße, was mich derart umtreibt und antreibt. Aber vielleicht auch nicht, was dann auch okay ist. Wenn ich an diesem einen Abend im Herbst 2017 nicht „Markus Lanz“ sondern etwas anderes im Fernsehen geschaut hätte oder früh zu Bett gegangen wäre – ich glaube, dass das Grundgesetz als Magazin nie erschienen wäre. Jedenfalls nicht aus meiner Hand. [lacht]   

Vielen Dank für das Gespräch!

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