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Prof. Dr. Dr. Ghazaleh Tabatabai, Foto: Verena Müller, Universitätsklinikum Tübingen
Interview mit Prof. Dr. Dr. Ghazaleh Tabatabai

Wir müssen die Fluchtwege der Tumoren noch besser verstehen.

Ärztin und Neurologin Ghazaleh Tabatabai im Interview über interdisziplinäre Arbeit und die wichtige Beziehung zu ihren Patienten.
Gehirn erforschen

Das Glioblastom ist einer der häufigsten bösartigen primären Hirntumoren und bisher nicht heilbar. Rund 4800 Menschen erkranken jedes Jahr hierzulande erstmals daran. Prof. Dr. Dr. Ghazaleh Tabatabai ist Ärztliche Direktorin der Abteilung Neurologie mit interdisziplinärem Schwerpunkt Neuroonkologie an der Universitätsklinik Tübingen und am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) sowie Sprecherin des Zentrums für Neuroonkologie, Comprehensive Cancer Center Tübingen-Stuttgart. Im Interview zum Welthirntumortag erläutert die Expertin, wie eine neue Impfung den Glioblastom-Betroffenen helfen soll, warum interdisziplinäre Arbeit so wichtig ist, und warum ihre Patientinnen und Patienten sie jeden Tag aufs Neue demütig werden lassen.  

Hertie-Stiftung: Trotz Fortschritten in der Neurochirurgie, Strahlen- und Chemotherapie bleibt die Behandlung eines Glioblastoms eine große Herausforderung. Warum ist es so schwierig, diesen Tumor zu bekämpfen? 

Ghazaleh Tabatabai: Da sind mehrere Aspekte wichtig: einer ist, dass sich hinter der Diagnose Glioblastom viele einzelne molekulare Erkrankungen verbergen. Der Tumor ist einfach zu unterschiedlich. Das zweite ist, dass diese molekulare Vielseitigkeit nicht statisch ist. Der Tumor verändert sich über die Zeit, er ist ein sehr dynamisches Gebilde. Sobald er therapiert wird, lernt er schnell, Fluchtwege zu finden, über die sich die Tumorzellen vor der Therapie verstecken oder an anderer Stelle weiterwachsen können. Deshalb gibt es für diese Art von Tumoren auch den Begriff „moving target“, also ein Ziel, das sich ständig bewegt. Der Tumor ist in der Lage, seine Strategie immer wieder anzupassen. Eine eher „breite“ Allzweckwaffe wie Strahlen- oder die alkylierende Chemotherapie können daher nicht ausreichend und langfristig wirksam sein. Das alles macht es sehr schwer, die Glioblastom-Erkrankung zu bekämpfen. 

"Ich bin überzeugt, dass es sehr wichtig ist, ein Wanderer in beiden Welten zu sein. Also nah und tagtäglich am Patientenbett zu stehen, und gleichzeitig das solide und fundierte Grundverständnis für Forschung zu haben."

Ein heimtückischer Gegner…

Genau! Zudem haben wir das Problem, dass das körpereigene Immunsystem den Tumor kaum als Feind erkennt. Er ist zu geschickt und zieht sich eine Tarnkappe auf. Man hat es also wirklich mit einem Feind mit vielen Gesichtern zu tun. Weil die Erkrankung im zentralen Nervensystem stattfindet, das ein sehr komplexes, lokal hochspezialisiertes und dennoch ausgedehntes Netzwerk ist, kann man auch nur in eher begrenztem Umfang Tumorgewebe operieren und bestrahlen. Es ist also nicht einfach. 

Sie haben nun eine klinische Phase I-Studie gestartet, bei der eine Impfung gegen das Glioblastom eingesetzt wird. Was steckt dahinter?

Prinzipiell gesagt handelt es sich um eine besondere Form der Immuntherapie. Wir kombinieren eine therapeutische Impfung mit einem neuen in Tübingen entwickelten Immunstimulator. Damit sollen die T-Zellen, die eine wichtige Rolle bei der Immunabwehr spielen, gezielt gegen Tumorzellen aktiviert werden und sie vernichten.  Bei dieser Studie setzen wir auf Neues und bauen auf Bekanntem auf, denn Immuntherapien im Kontext von Tumoren gibt es schon lange, auch für das Glioblastom. Die Idee dahinter ist, das eigene Immunsystem gegen den Feind zu mobilisieren. Über eine so genannte therapeutische Impfung, die im Unterschied zu einer prophylaktischen Impfung erst zum Einsatz kommt, wenn eine Erkrankung bereits vorliegt, wollen wir erreichen, dass der Tumor durch das Immunsystem erkannt und eliminiert wird. Neu ist in unserer Studie, dass wir den Impfstoff mit einem Immunstimulator kombinieren, der im Labor von Prof. Hans-Georg Rammensee vom Interfakultären Institut für Zellbiologie in Tübingen entwickelt wurde, und nun erstmals für die Anwendung am Menschen eingesetzt werden kann.  

Was soll der neue Immunstimulator bewirken?

Immunstimulatoren alarmieren das Immunsystem und geben ihm das Signal: „Hier an dieser Stelle ist etwas, mit dem Du Dich auseinandersetzen musst.“ Wir wollen erreichen, dass der Tumor dadurch schneller entdeckt und attackiert werden kann.   

Streben Sie mit der Therapie Heilung an, oder wäre die Impfung eine lebensverlängernde Maßnahme?

Das ist eine schwierige Frage. Im Moment ist das Ziel unserer Studie herauszufinden, wie stark die Immunantwort ist. Natürlich haben wir die langfristige Hoffnung, die Zeit, bis der Tumor weiterwächst, und die Lebenszeit insgesamt zu verlängern. Hierbei steht sehr stark im Vordergrund, dass jeder Gewinn an Lebenszeit auch den Erhalt der Lebensqualität gewährleistet. Deswegen sind in allen neuroonkologischen Therapie-Studien systematische Analysen der Lebensqualität, sogenannte Patient-reported outcome, fester und außerordentlich wichtiger Bestandteil. 

Die Impfung ist sicher nicht für jeden Glioblastom-Patienten geeignet, oder?

Korrekt. Es ist so, dass die Betroffenen einen ganz bestimmten immunologischen Subtyp haben müssen, und dass die Tumorzellen einen sogenannten metyhlierten MGMT-Promoter aufweisen müssen. Wir rechnen damit, dass wir etwa einem Sechstel oder einem Siebtel der neu diagnostizierten Glioblastom-Patientinnen und -Patienten diese Impfung prinzipiell anbieten können. Die weiteren Einschluss- und Ausschlusskriterien müssen natürlich auch erfüllt sein. Diese prüfen wir in den beiden Eingangs-Untersuchungen. So müssen zum Beispiel weitere schwere Erkrankungen ausgeschlossen werden.  

Wie erleben Sie als Studienleiterin den Start einer solchen Studie?

Zum einen bin ich dankbar für die synergistische Teamarbeit, die wir hier leisten. Ich freue mich auch sehr darüber, dass wir jetzt einen neuen Weg in der Behandlung eröffnen können, in den wir viel Herzblut hineinstecken. Wir haben die große Hoffnung, dass wir wenigstens einen kleinen Beitrag im Kampf gegen diese Erkrankung leisten können, um das Leben der Patientinnen und Patienten auf längere Sicht zu verbessern.

Sie sind seit Anfang 2020 Direktorin der am HIH neu geschaffenen Abteilung für Neurologie mit interdisziplinärem Schwerpunkt Neuroonkologie. Wie wichtig ist so eine eigene Abteilung, um Forschung auf den Weg zu bringen?

Fundamental wichtig, weil wir dadurch in das Konzept eingebettet sind, dem wir im Zentrum für Neurologie in Tübingen sehr konsequent folgen: Unsere Abteilungen sind keine reinen klinischen Abteilungen oder reine Forschungsabteilungen, sie sind beides: Die Ärztinnen und Ärzte versorgen die Patientinnen und Patienten, und sie forschen gemeinsam mit naturwissenschaftlichen Grundlagenwissenschaftlern. Diesen Brückenschlag sehe ich als eine sehr wichtige Voraussetzung. Ich selbst zum Beispiel habe als Neurologin zusätzlich einen naturwissenschaftlichen Abschluss. Das bedeutet nicht, dass ich als Person alles kann, so ist es nicht gemeint. Die Herausforderungen packen wir immer in einem Team mit komplementären Kompetenzen an. Ich bin allerdings überzeugt, dass es sehr wichtig ist, ein Wanderer in beiden Welten zu sein. Also nah und tagtäglich am Patientenbett zu stehen, und gleichzeitig das solide und fundierte Grundverständnis für Forschung zu haben, um beide Welten zusammenzuführen. 

Welche Ziele und Schwerpunkte haben Sie für Ihre Abteilung geplant?

Zum einen sind mir unsere Projekte in der Grundlagenwissenschaft wichtig, die uns helfen, die Dynamik und die Fluchtwege der Tumoren auf molekularer Ebene besser zu verstehen. Nicht nur die des Glioblastoms. Unser Ziel ist, die möglichen Wege der Tumoren vorherzusagen, um ihnen einen Schritt voraus zu sein. Für die klinische Weiterentwicklung sind uns gerade die frühen Phase I/II klinische Studien wichtig, weil wir in der Studienlandschaft vor allem dort unseren akademischen Auftrag sehen. Wir gehören zu den führenden neuroonkologischen Zentren in Deutschland was Primärfallzahlen und Studienaktivität angeht. Es soll uns die Qualität unserer Arbeit und die Pionierleistung auszeichnen. Ich sehe unsere Aufgaben vor allem dort, wo man „Terra Incognita“ kartiert. Daher ist es mir außerordentlich wichtig, dass unser Team zusätzlich zu der sehr guten fachlichen Kompetenz und inhaltlichen Expertise auch durch eine Art Abenteuer-Einstellung mit Mut, Neugier, Unvoreingenommenheit und Hilfsbereitschaft geprägt ist, und dass eine hohe gegenseitige Wertschätzung in der Teamarbeit besteht. Wir arbeiten schließlich mit Menschen für Menschen!

Weitere Informationen

Die Abteilung Neurologie mit interdisziplinärem Schwerpunkt Neuroonkologie am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen wird von Prof. Dr. med. Dr. rer. nat Ghazaleh Tabatabai geleitet. Der wissenschaftliche Schwerpunkt beschäftigt sich mit dem gesamten Spektrum neuroonkologischer Erkrankungen.

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Was raten Sie Betroffenen, die eine Glioblastom-Diagnose bekommen haben?

Natürlich ist so eine Diagnose ein schwerer Einschnitt, aber sie bedeutet nicht, dass alles vom ersten Tag an verloren ist. Für Betroffene ist es meines Erachtens wichtig, sich an einem der zertifizierten neuroonkologischen Zentren in Deutschland behandeln zu lassen. Dort arbeiten Expertinnen und Experten unterschiedlicher Fachrichtungen interdisziplinär zusammen, um für die Erkrankten die bestmögliche Therapie zu entwickeln. Außerdem möchte ich die Betroffenen ermutigen, ihren Kampfgeist zu bewahren und nicht aufzugeben. Nach beinahe zwanzig Jahren klinischer Erfahrung, habe ich immer wieder erlebt, wie wichtig gerade dieser Kampfgeist sein kann, um die Situation zu gestalten. Ich habe zum Beispiel Patienten, die mir Fotos aus dem Skiurlaub in den USA schicken oder von einem schönen Konzert. So erfüllt es mich immer wieder mit Demut, wenn ich sehe, wie uns diese tapferen Menschen zeigen, was in jeder Minute des Lebens und in jeder Lebenslage alles noch möglich ist. Dieser stete Wille, dem Schicksal die Stirn zu bieten, setzt enorme Kräfte frei. Genau diese Kraft meiner Patientinnen und Patienten ist für uns eine tagtägliche Inspirationsquelle und vor allem ein sehr unmissverständlich klarer Auftrag, was wir alles noch zu tun haben. 

INFO   Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung  

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