Alzheimer-Forscher Prof. Mathias Jucker: „Wir wollen eine Therapie gegen die ganz frühen Veränderungen im Gehirn entwickeln.“

Presse
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19.09.2016

Der Welt-Alzheimertag findet jedes Jahr am 21. September statt, um auf die Krankheit und die Situation von Betroffenen und deren Familien aufmerksam zu machen. In Deutschland sind rund eine Million Menschen erkrankt. Da die Ursache für Alzheimer immer noch nicht geklärt ist, ist vor allem Grundlagenforschung von entscheidender Bedeutung. Wissenschaftler am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) in Tübingen, dem bundesweit größten und modernsten Zentrum zur Erforschung neurologischer Erkrankungen, beschäftigen sich damit, wie bestimmte Erkrankungen die Arbeitsweise des Gehirns beeinträchtigen. Zentrale Aufgabe ist es, die Entstehung neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer besser zu verstehen und neue Behandlungsstrategien zu entwickeln.

Die Hertie-Stiftung hat das HIH bislang mit rund 37 Millionen Euro unterstützt. Aus diesen Mitteln wurden drei Forschungsabteilungen aufgebaut. Eine davon leitet Prof. Dr. Mathias Jucker, der in der Abteilung Zellbiologie Neurologischer Erkrankungen zusammen mit seinem Team die zellulären und molekularen Mechanismen untersucht, die für die Hirnalterung und die Entstehung von Alzheimer verantwortlich sind.

Anlässlich des Welt-Alzheimertages erklärt Prof. Jucker, wie er zur Alzheimer-Forschung gekommen ist, woran er gerade forscht und was seine Arbeit und seine Liebe fürs Bergsteigen gemeinsam haben.

Prof. Jucker, woran arbeiten Sie gerade?
Wir versuchen gerade, eine Therapie gegen die ganz frühen Veränderungen bei Alzheimer zu entwickeln. Wir wissen heute, dass sich das Gehirn bereits 15 bis 20 Jahre, bevor die ersten Anzeichen für eine Alzheimer-Erkrankung auftreten, verändert, indem sich die ersten falsch gefalteten Eiweiße im Gehirn ablagern. Während man normalerweise mit einer Therapie erst dann beginnt, wenn Krankheitssymptome auftreten, ist das bei Alzheimer eigentlich viel zu spät. Daher versuchen wir, eine Therapie gegen diese ersten Veränderungen im Gehirn zu entwickeln – und das schon 15 bis 20 Jahre, bevor Symptome zu erkennen sind.

Was sind die größten Herausforderungen?
Zuerst einmal müssen wir Personen finden, die in 15 Jahren an Alzheimer erkranken werden. Dann müssen wir versuchen, diese kleinen, missgefalteten Proteine aus dem Weg zu räumen, damit sie keine anderen Eiweiße anstecken. Wir glauben nämlich, dass es erst gar nicht zu einer Erkrankung kommen wird, wenn wir schon die ersten falsch gefalteten Eiweiße entfernen können. Doch das ist extrem schwierig, weil wir gar nicht so richtig wissen, wie diese ersten falsch gefalteten Eiweiße aussehen.

Wie finden Sie Menschen, die in 15 Jahren an Alzheimer erkranken werden?
Ich koordiniere die DIAN-Studie in Deutschland, ein weltweites Projekt, das den Verlauf der dominant vererbten Form der Alzheimer-Erkrankung untersucht. Von den Studienteilnehmern wissen wir, dass in ihren Familien Alzheimer vererbt wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie an Alzheimer erkranken werden, ist also sehr hoch. Daher können wir diese Menschen schon lange Jahre, bevor sie tatsächlich erkranken, regelmäßig auf Veränderungen im Gehirn untersuchen.

Wie ist das für Sie, wenn Sie Teilnehmer des DIAN-Forschungsprojektes treffen? Spornt es Sie an, weiter zu forschen? Oder erschüttert es Sie auch, wenn Sie sich bewusst machen, dass die meisten Teilnehmer bald erkranken werden?
Wenn ich diese Familien treffe, denke ich nicht automatisch, dass sie bald krank sein werden. Aber es fällt mir doch sehr schwer, unbeteiligt zu bleiben. Ich kümmere mich um die Studienteilnehmer, wir telefonieren sehr oft und sind schon fast eine große Familie.

Haben Sie selbst Angst, an Alzheimer zu erkranken?
Ich habe wenig Angst, weil ich immer denke, das kommt noch lange nicht. So ist es auch in der Gesellschaft: Jüngere Menschen haben keine Angst vor Alzheimer. Für ältere Menschen, 70- oder 80-Jährige, ist das wohl eine der größten Ängste, die sie haben.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken?
Das ist eine Altersfrage: Je älter man wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit. Wenn man 100 ist, dann ist sie extrem hoch.

Sie sagen, junge Menschen haben keine Angst, an Alzheimer zu erkranken. Wie sind Sie selbst als junger Mensch dazu gekommen, sich mit Alterserkrankungen zu befassen?
Mich hat schon früh interessiert, wie sich ein Mensch im Alter verändert. Vielleicht durch meine Großmütter, die ich als Kind regelmäßig gesehen habe, oder durch meine Mutter, die sich als ehemalige Krankenschwester in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, um die älteren Menschen gekümmert hat. Gibt es Dinge wie Weisheit? Warum ist man nicht mehr so schnell? Was passiert im alternden Gehirn, bevor man erkrankt? In den USA habe ich dann am National Institute on Aging untersucht, wie sich das Gehirn im Alter verändert. Zurück in Europa habe ich meine Faszination für Alzheimer entdeckt, immerhin die am häufigsten vorkommende neurodegenerative Erkrankung des alternden Gehirns.

Prof. Jucker, Sie sind Schweizer, die Berge liegen quasi vor Ihrer Haustür und seit Ihrer Kindheit sind Sie in den Bergen unterwegs. Kommen Sie heute überhaupt noch dazu, in die Berge zu gehen?
Wie das so ist, wenn man älter wird – man spricht darüber, aber macht immer weniger. Ich habe das Gefühl, ich habe immer weniger Zeit. Aber so richtig nachvollziehen kann ich nicht, warum ich vor zehn Jahren mehr Zeit hatte. Ob das ein Altersproblem ist? Jedenfalls war ich damals häufiger in den Bergen unterwegs als heute.

Und wann waren Sie das letzte Mal in den Bergen?
Vor vier Wochen. Ich bin an den Wochenenden sehr oft in der Schweiz.

Halten Sie Ihre Arbeit dort oben von sich fern oder denken Sie in den Bergen über Lösungen nach?
In den ersten paar Stunden, wenn man einfach hinaufläuft, kann ich gut über die Arbeit nachdenken. Aber wenn man müde wird und es gilt, das Letzte herauszuholen, dann denke ich gar nichts mehr, nur noch an den Berg. Bis man oben ist.

Wollen Sie lieber einen Gipfel bezwingen, wenn Sie unterwegs sind, oder ist für Sie der Weg das Ziel?
Das ist eine gute Frage und gut auf meine Arbeit übertragbar. Zuhause überlege ich mir stundenlang, wie ich auf diesen Berg steige. Ich schaue mir die Karten an und plane und mache. Ich bin völlig drin in dieser Tour und auf diesem Weg und freue mich. Aber wenn ich unterwegs bin, will ich nur noch hoch. Dann interessiert mich der Weg weit weniger.

Arbeiten Sie auch so?
Ja, das ist eigentlich sehr ähnlich. Das ist fast eins zu eins übertragbar.

Wenn man wie Sie Hochtouren macht, muss man jeden Schritt sehr bewusst gehen, um nicht abzustürzen. Müssen Sie auch bei Ihrer Arbeit jeden Schritt vorab bedenken oder lernt man im Labor auch aus Fehlern, während man das im Hochgebirge besser nicht machen sollte? Gilt in der Forschung vielleicht eher die Methode Trial and Error?

Das ist bei mir in den Bergen wie im Labor: Wenn ich mir bei einem Ziel, sei es ein Berggipfel oder irgendein Forschungsprojekt, eingestehen muss, dass der Weg falsch ist, dann fällt es mir schwer umzukehren. Das lernt man erst mit dem Alter. Als ich jung war, wollte ich, koste es, was es wolle, auf den Gipfel oder das Ziel in der Forschung erreichen. Das hat sich in den vergangenen Jahren ein bisschen geändert: Wenn ich denke, es lohnt sich wirklich nicht mehr und jetzt ist es zu gefährlich, dann kehre ich um. Aber Umwege zu laufen, ist akzeptabel.

Können Sie sich an ein Forschungsprojekt oder ein Ziel erinnern, bei dem Sie tatsächlich sagen mussten, hier geht es nicht weiter?
Spontan kommt mir jetzt nichts in den Sinn, aber das hat es natürlich schon gegeben. Umwege haben wir aber oft gemacht. Da kann man nicht loslassen, da probiert man dies und das. Mir wird sogar nachgesagt – und das empfinde ich fast als Kompliment – dass wir nicht die Schnellsten sind, weil wir so gründlich arbeiten. Es heißt dann: Wenn es aus Juckers Labor kommt, wird es wohl wahr sein.

Es gibt viele verschiedene Forschungsansätze bei Alzheimer. Warum halten Sie Ihren Ansatz für vielversprechend?
Viele Forscherkollegen sind überzeugt, dass unser Ansatz richtig ist, nicht erst die Symptome zu behandeln, sondern bereits die ersten, ganz frühen Veränderungen im Gehirn, die wir eigentlich überhaupt noch nicht verstehen. Aber die meisten können sich nicht erlauben, an diesem Problem zu arbeiten, weil es viele Jahre dauern kann, bis man Erfolg hat. Am HIH wird mir dagegen eine langwierige Forschung ermöglicht. Ein vergleichsweise schneller zu erreichendes Ziel ist der „Mönch“ im Berner Oberland, ein Viertausender, den ich gern in diesem Jahr noch mit meiner älteren Tochter besteigen möchte.


Mathias Jucker (Jahrgang 1961) ist Direktor am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung an der Universität Tübingen. Er studierte Neurobiologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und promovierte 1988. Danach war er PostDoc und später Gruppenleiter am National Institute on Aging in Baltimore, USA, bevor er als Juniorprofessor an die Universität Basel ging. 2003 wurde er auf seine derzeitige Professur in Tübingen berufen. Prof. Jucker ist Sprecher für die Graduate School of Cellular and Molecular Neuroscience in Tübingen und seit 2009 am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Tübingen.

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