Gesetz gegen Hassrede beseitigt Beschimpfungen im Internet nicht – persönliche Diskussionsformate ausbauen

Presse
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27.06.2017

Noch im Juni steht das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“, mit dessen Hilfe Hassbeiträge im Internet eingedämmt werden sollen, zur Abstimmung im Bundestag. Die Gemeinnützige Hertie-Stiftung, die sich für eine Stärkung der Debattierkultur in Deutschland einsetzt, plädiert dafür, auf Prävention zu setzen und Diskussionsformate für den Austausch von Angesicht zu Angesicht auszubauen. Allein durch regulatorische Zwänge ließen sich Beschimpfungen im Internet nicht beseitigen.

Die Anhörung von Experten am 19. Juni ergab erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber dem geplanten Gesetz. Trotzdem soll das Gesetz noch in diesem Monat zur Abstimmung gebracht werden. „Das geplante Gesetz hat eher eine symbolische Funktion. Es wäre naiv zu glauben, dass nach Inkrafttreten des Gesetzes Hassbeiträge aus dem Internet verschwinden“, sagt Ansgar Kemmann, Leiter des bundesweiten Wettbewerbs „Jugend debattiert“ bei der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung.

Motivation für Beleidigungen stärker differenzieren
Nach Ansicht von Ansgar Kemmann ist innerhalb der Gruppe derjenigen, die Beleidigungen im Internet verfassen, zu differenzieren: Auf der einen Seite gäbe es diejenigen, die in ihren Postings hauptsächlich von Hass und Gewalt geleitet seien. „Die einschlägigen Beleidiger verfügen in der Regel über ein hohes Aggressionspotenzial. Das Internet fungiert in diesem Fall als dauerhaft geöffnetes Ventil für Wut, die sich im Alltagsleben aufstaut. Die Verletzung anderer wird dabei bewusst in Kauf genommen. Auf der anderen Seite gibt es die große Zahl derjenigen, die sich eher spontan zu einer Beleidigung hinreißen lassen. Viele von ihnen sind sich der Tragweite ihrer Handlungen nicht im Klaren. Das ist die Gruppe, die man erreichen kann“, sagt Kemmann.

Gruppe der Spontan-Beleidiger dürfte offen sein für Meinungsaustausch
„Die große Gruppe der Spontan-Beleidiger testet im Internet einerseits Grenzen der eigenen Wirkungsmacht aus. Zum anderen fehlt vielen offenbar das Instrumentarium, eine Diskussion mit sachbezogenen Argumenten zu führen. Ein Grund dafür sei, dass die Einübung von konstruktivem Streitverhalten in der Schule über Jahrzehnte vernachlässigt worden sei. Die Folge ist, dass zwischen Person und Sache nicht unterschieden werde und polemische Beiträge schnell überhand nehmen.

Formate für den persönlichen Austausch ausbauen
Nach Ansicht von Ansgar Kemmann spiegeln sich im Internet sämtliche Phänomene des Alltags. Eine mangelhafte Streitkultur im Alltäglichen verstärke sich daher im Web. „Wir müssen bestehende Formate für den inhaltlich fundierten, persönlichen Austausch von Angesicht zu Angesicht bewusster und umsichtiger einsetzen. Auch neue Formate gilt es zu entwickeln“, sagt Kemmann.

Neue Formate wie etwa die Initiative der Tagesschau „Sag’s mir ins Gesicht“, bei der sich Journalistinnen und Journalisten, die von Internetnutzern beleidigt wurden, einem offenen Dialog mit Usern stellen, weisen nach Ansicht von Ansgar Kemmann in die richtige Richtung. „Die Erfahrungen zeigen, dass die Hemmschwellen im Internet deutlich niedriger sind als im persönlichen Austausch. Wer lernt, eine Debatte vis-à-vis zu führen, wird sich seltener zu Hasskommentaren im Internet hinreißen lassen“, sagt Kemmann.

Erlernen des Debattierens sollte Bestandteil der schulischen Ausbildung sein
Mit „Jugend debattiert“ hat die Gemeinnützige Hertie-Stiftung selbst im Jahr 2002 einen Wettbewerb initiiert, der Schülerinnen und Schülern das Debattieren näherbringt. Im Rahmen einer vorausgehenden Unterrichtsreihe werden grundlegende Prinzipien wie eine sinnvolle inhaltliche Struktur, gutes Zuhören sowie das Eingehen auf die Argumente des Anderen vermittelt. „Das Einüben des Debattierens sollte für jeden Schüler fester Bestandteil der schulischen Ausbildung sein. Während in einigen Bundesländern Debattierformate wie ‚Jugend debattiert‘ im Lehrplan bereits empfohlen sind, ist dies bei vielen anderen nicht der Fall“, erklärt Ansgar Kemmann. Eine stärkere Verankerung von Debattierformaten im schulischen Curriculum sei nach Ansicht von Kemmann daher sehr wünschenswert.

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