Marian Schreier, Jahrgang 1990, ist 2015 als jüngster Bürgermeister Deutschlands in der 4.500-Seelen-Gemeinde Tengen nahe der Schweizer Grenze gewählt worden. Aufgewachsen in Stuttgart hat er mehrmals bei „Jugend debattiert“ teilgenommen und war 2009 zweiter Landessieger in Baden-Württemberg. Während seines Studiums der Verwaltungswissenschaft in Konstanz wurde er mit zwanzig Jahren Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, zwei Jahre später ging er nach Oxford. Eine Stelle im Berliner Büro von Peer Steinbrück trat er 2013 an, bevor er als 25-Jähriger zurück nach Baden-Württemberg ging und sich in Tengen zur Wahl stellte.
Herr Schreier, rund 70 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab, als im vergangenen Jahr in Tengen der Bürgermeister gewählt wurde. Das Ergebnis war sehr eindeutig: 71 Prozent der Wähler sprachen sich für Sie aus. Auch die Wahlbeteiligung war sehr hoch. Woran, glauben Sie, lag das?
Da kommen mehrere Sachen zusammen: Die Wahlbeteiligung in Tengen ist traditionell hoch. Es gibt hier ein sehr breites, bürgerschaftliches Engagement, wir haben rund 60 Vereine bei viereinhalbtausend Einwohnern und das spiegelt sich in der Wahlbeteiligung wider. Eine engagierte Bürgerschaft bringt sich eben auch bei Wahlen ein. Dazu kam, dass der bisherige Bürgermeister nach 42 Jahren nicht mehr antrat und Wähler verstärkt zur Wahl gehen, wenn sie den Eindruck haben, dass es um etwas geht.
Haben Sie auch dazu beigetragen, dass die Wahlbeteiligung so hoch war?
In meiner Kampagne habe ich gezielt junge Wähler zwischen 16 und 30 Jahren angesprochen. Diese Gruppe gilt gemeinhin als mobilisierungsresistent, vor allen Dingen bei Kommunalwahlen. Ich habe daher eine Veranstaltung für Jungwähler organisiert, an der knapp hundert junge Leute teilgenommen haben.
Sie haben Wahlkampf auch über Ihre Facebook-Seite gemacht. Speziell in den USA sind die sozialen Medien im Wahlkampf sehr stark genutzt worden. Werden die sozialen Medien für den Ausgang von Wahlen immer wichtiger?
Ich glaube, es braucht beides. Ich habe natürlich auch klassischen Wahlkampf geführt mit Bürgergesprächen, Rundgängen, Besuchen bei Vereinen. Digital habe ich meine Facebook-Seite genutzt, um den Wahlkampf zu dokumentieren, aber auch um mit den Wählerinnen und Wählern in Interaktion zu treten. Das ist für mich der wichtigere Teil. Gerade in Deutschland haben die etablierten Parteien die digitalen Medien lange Zeit so benutzt, wie früher das Fernsehen oder die Zeitung: Man hat nur gesendet und wenig auf Interaktion gesetzt. Das ändert sich jetzt und ist der große Vorteil. Außerdem ist diese Form der Kommunikation in meinem Wahlkampf der einzige Weg gewesen, um die Gruppe der 16- bis 35-Jährigen zu erreichen. Die jungen Leute lesen das Mitteilungsblatt der Gemeinde nur noch selten und haben auch keine Regionalzeitung abonniert. Zu meiner Jugendveranstaltung habe ich über Facebook eingeladen und es gab eine Facebook-Gruppe, bei der man vorher schon über den Termin abstimmen und über die Themen diskutieren konnte.
Man spitzt in den sozialen Netzwerken sehr stark zu, man diskutiert ja nicht wirklich in großer Breite. Zählen letztendlich nur die Häufigkeit, mit der man im Netz gesehen wird, und die Zuspitzung der Themen?
Die große Gefahr in den sozialen Medien ist – und das haben wir auch in den USA gesehen –, dass parallele Wirklichkeiten entstehen. In den USA herrschte keine Einigkeit mehr über die Fakten, sondern es wurden zum Teil obskure News-Seiten verlinkt. Das verstärkt sich besonders durch den Algorithmus von Facebook: Man bekommt Themen und Inhalte präsentiert, die auch meine Freunde und Bekannten gut finden und bewegt sich dann schnell in einem eigenen Kosmos, in einer parallelen Realität. Wir haben es daher zunehmend mit einer zersplitterten Öffentlichkeit zu tun und das ist für die etablierte Politik und für die Demokratie eine sehr, sehr große Herausforderung. Häufig sind diese parallelen Öffentlichkeiten gar nicht mehr miteinander kompatibel.
Wenn wir aufgrund von Algorithmen im Social Web nur Themen zu sehen bekommen, die einen vermeintlich interessieren müssten und man daher nicht mehr über den Tellerrand schaut: Was würden Sie dem entgegensetzen?
Wir sollten innerhalb wie außerhalb des Internets Räume schaffen, in denen Meinungsvielfalt und Pluralität herrschen. Wir erleben ja ab und zu politische Bewegungen oder Wahlkämpfe, in denen das noch funktioniert. Aber es ist eine große Herausforderung. Und wir sollten zumindest einen Grundkonsens über die Fakten haben. In den USA wurden ja grundlegende Dinge in Frage gestellt. Früher gab es eine gemeinsame Deutung der Ereignisse über die großen Tageszeitungen, über Radio und Fernsehen. Aus den Fakten konnte man dann unterschiedliche Schlüsse ziehen. Das ist jetzt immer weniger der Fall.
Kennen Sie das in Ihrer täglichen Arbeit auch?
Beim Thema Windkraft werden bei mir in der Region Dinge in Frage gestellt wie zum Beispiel der Stromverbrauch je Haushalt. Das wird gemessen, das ist eine physikalische Größe, die man nachlesen kann, aber trotzdem wird die Zahl angezweifelt. Ich habe auch keine Patentlösung, wie man damit umgeht, außer die Dinge immer wieder richtig zu stellen. Doch das führt zu einem Dilemma: Auf der einen Seite legitimiert man die Gruppen, wenn man auf die Falschbehauptungen eingeht. Auf der anderen Seite muss ich dem aber doch begegnen, weil sich die falschen Zahlen durch ständige Wiederholung in den Köpfen festsetzen.
Sie schreiben auf Ihrer Facebook-Seite nach der Wahl in den USA: „Der Wahlsieg Donald Trumps ist nicht einfach das Werk eines Verführers oder einem grassierenden Rassismus zuzuschreiben. Vielmehr offenbart Trumps Erfolg ein wachsendes Unbehagen in der Bevölkerung, in Teilen offene Ablehnung der etablierten Institutionen in Politik, Wirtschaft und Medien.“ Kennen Sie dieses Unbehagen auch und was setzen Sie dem in Ihrem Umfeld entgegen?
Bei der Unterbringung von Flüchtlingen im vergangenen Jahr hatten einige Bürger den Eindruck, die Auswahl der Unterkünfte sei ein abgekartetes Spiel von Stadt und Landkreis und man würde über ihre Köpfe hinweg entscheiden. Ich habe daraufhin das Gespräch gesucht und wir sind alle kontroversen Punkte durchgegangen. Es gab Themen, die wir relativ schnell klären konnten. Aber es gab auch Punkte, bei denen wir keine Einigkeit erzielt haben. So wurde immer wieder die Angst vor einer Zunahme der Kriminalität genannt. Schaut man in die Kriminalstatistik, gibt es dafür aber kein Indiz. Trotzdem lässt sich die Angst schwer ausräumen, weil es eine Gefühlssache ist. Das muss man dann so stehen lassen. Einige Themen haben wir aber auch abstellen können. Anwohner hatten sich beispielsweise über Lärmbelästigung beklagt. Wir haben Kontakt mit Sozialarbeitern aufgenommen und dafür gesorgt, dass es leiser wurde.
Sie reden mit Ihren Mitbürgern und versuchen, die Menschen mitbestimmen zu lassen. Ist das auch die richtige Strategie gegen populistische Strömungen: entzaubern, indem man sie in die Pflicht nimmt? Denn dann bleibt von den Forderungen und Versprechungen womöglich nicht viel übrig.
Auf diese Frage hat bislang keine der etablierten Parteien eine gute Antwort gefunden. Am Beispiel Österreich kann man sehen, dass weder Ausgrenzung noch Einbindung den Aufstieg der FPÖ verhindert haben. Ich persönlich würde aber dazu tendieren, dass man nicht ausgrenzt, sondern dass man die Diskussion sucht. Es gibt natürlich Grenzen: Über alles, was nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes steht, kann ich nicht diskutieren. Gleichzeitig gilt: Nicht alles, was aus der populistischen Ecke vorgebracht wird, ist per se falsch, nur weil es von dort kommt. Zum Teil stecken tatsächliche Entwicklungen dahinter, die man anerkennen muss – wie beispielsweise der Eindruck vieler Menschen, dass sie der Globalisierung ohnmächtig ausgeliefert sind.
Sie haben mehrmals an „Jugend debattiert“ teilgenommen. Hilft Ihnen das jetzt bei solchen Diskussionen?
Durch „Jugend debattiert“ lernt man, sich schnell auf neue Themen und Sachverhalte einzustellen. In der Vorbereitung schaut man sich ja beide Seiten an, also was spricht dafür und was dagegen. In der politischen Diskussion hilft es mir heute, weil ich ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten kann. Man lernt, sich auch in die andere Seite hineinzuversetzen, man kann Gegenargumente aufnehmen und weiterführen. Das ist ein wesentliches Element im Umgang mit Populismus: Man sollte nicht alle Themen einfach abtun, sondern valide Punkte auch aufnehmen.
Die Hertie-Stiftung unterstützt nicht nur „Jugend debattiert“, sondern hat gerade beispielsweise den Deutschen Integrationspreis ins Leben gerufen. Erstmals werden bei der Finanzierung neue Wege beschritten: Neben der Vergabe von Stiftungsgeldern wird ein Crowdfunding-Wettbewerb ausgeschrieben. Wäre das auch ein Modell für das Gemeinwesen? Erreichen wir mit Projekten im Internet, bei denen alle abstimmen können, die Menschen wieder?
Crowdfunding-Projekte können eine gute Ergänzung sein. Es gibt schon Kommunen, die Projekte ausschreiben wie den Spielplatz, der mithilfe der Crowd finanziert werden soll. Mitmachen und mitbestimmen ist sicher wichtig, aber kein Ersatz für die repräsentative Demokratie. Es ist der richtige Ansatz, wenn man Beteiligungsmöglichkeiten im Internet stärkt, aber man sollte das eher ergänzend zu den bestehenden Mechanismen sehen.
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