Interview mit Anne-Marie Kortas
Integration ist keine Einbahnstraße, sondern ein Auftrag für die ganze Gesellschaft.
Anne-Marie Kortas (32) aus Berlin hat eine wahre Hertie-Erfolgsgeschichte hinter sich: Die Politologin absolvierte 2014 ihren Master of Public Policy an der Hertie-School of Governance, war Kollegiatin des Hertie-Innovationskollegs (HIK) und wurde als Gründerin der Initiative "Angehört" mit dem Alumni Achievement Award der Hertie School ausgezeichnet. Heute ist Anne-Marie Kortas Referentin der Beauftragten für Integration und Migration im Berliner Senat. Im Interview verrät die gebürtige Mecklenburgerin, warum ihr Herz so für die Integration schlägt, wie ihr die Hertie-Erfahrungen im Job weiterhelfen - und warum sie auf dem Rugby-Feld am besten abschalten kann.
Frau Kortas, wir erwischen Sie in der Mittagspause. Viel zu tun im Senat?
Ja, auf jeden Fall. Wer dem Klischee glaubt, in der Verwaltung würde nur rumgesessen und Kaffee getrunken, der irrt sich gewaltig. Das erfahre ich selbst jeden Tag - und es macht riesigen Spaß.
Was ist Ihre Aufgabe als Referentin der Integrationsbeauftragten von Berlin?
Meine Hauptaufgabe ist die Koordinierung und Nachbearbeitung der Integrationsministerkonferenz, die im April in Berlin stattgefunden hat. Auf der Konferenz kommen jedes Jahr die Integrationsminister aller Länder zusammen und diskutieren darüber, wie sie die Politik weiterentwickeln wollen. Mein Job ist es, die eingebrachten Anträge der Länder zu koordinieren. Außerdem kümmere ich mich um unser Förderprogramm zur Unterstützung von Partizipation und Integration.
Welche Integrations-Themen haben gerade Priorität?
Wir haben aus Berlin zwei Schwerpunkte bei der Konferenz gesetzt: Einerseits möchten wir, dass die Sprachfördersysteme der Länder und des Bundes einheitlicher aufeinander abgestimmt werden, denn bisher gibt es in dem Bereich zu viel Verwirrung. Zum anderen geht es um eine bessere Arbeitsmarktintegration der Unionsbürger. Wir wollen z.B., dass alle Unionsbürger einen rechtlichen Anspruch auf Integrationskurse bekommen. Das ist bisher nicht so und behindert die Integration. Unionsbürger bekommen zum Beispiel nur einen Deutschkurs, wenn ein Platz frei ist, aber nicht, weil sie ihn brauchen, um in Job oder Studium besser zurecht zu kommen. Integration ist nun mal keine Einbahnstraße, sondern ein Auftrag für die ganze Gesellschaft, weshalb wir auch Politik für die aufnehmende Gesellschaft machen müssen.
Was sind Unionsbürger genau?
Unionsbürger nennt man die Staatsangehörigen der EU-Länder, also Zugewanderte, die aus der EU nach Deutschland kommen. Diese Menschen sind nicht hierher geflüchtet, sondern kommen wegen einer Arbeit oder wegen des Studiums zu uns. Die Unionsbürger machen übrigens mit fast 50 Prozent den größten Anteil der Zugezogenen aus. „Nur“ 30 Prozent kommen aus Kriegs- und Fluchtländern. Die Zahlen belegen, dass Integration nicht nur ein Fluchtthema ist.
Aus welchen Ländern kommen die Unionsbürger?
Viele sind aus Polen, Italien, Spanien. Das Problem ist, dass über die Unionsbürger kaum geredet wird, weil man davon ausgeht, dass für sie alles gut läuft. Das ist aber nicht so. Der deutsche Arbeitsmarkt ist sehr deutschsprachig, und weil der Deutsche gern Arbeit und Privatleben trennt, ist das soziale Ankommen für Unionsbürger nicht so einfach. Erst recht nicht ohne Sprachkurse.
Wie ist Ihrer Meinung nach der Stand der Integration in Deutschland?
Da ist schwer zu beantworten, es gibt einfach zu viele Unterschiede zwischen den verantwortlichen Städten und Kommunen, aber auch zwischen den Nationalitäten der Herkunftsgruppen. Syrer bekommen zum Beispiel von Rechts wegen schneller Unterstützung als Afghanen, weil ihre sogenannte Bleibeperspektive größer ist. Sie können sofort in Deutschkurse gehen, Afghanen nicht. Das hat natürlich Einfluss auf die Integration.
Sie sitzen nach Studium und Hertie Innovationskolleg (HIK) nun direkt an der Schaltstelle für Integration – wie fühlt sich das an?
Es ist eine interessante Erfahrung. In meinem Projekt Diversität und Integration, das ich als HIK-Kollegiatin geleitet habe, war ich beratend von außen tätig. Hier in Berlin habe ich zwar immer noch den Blick auf die Bedürfnisse des Systems, aber es geht auch darum zu erkennen, wie hier Entscheidungsprozesse stattfinden. Was geht, und was nicht geht.
Worum ging es bei Ihrem Projekt im Hertie Innovationskolleg genau?
Es gibt bei dem Thema „Geflüchtete“ sehr viele Menschen, die sich engagieren - die Zivilgesellschaft, der Staat, Unternehmen. Aber die Akteure sprechen oft nicht mit den Geflüchteten oder auch nicht mit anderen Organisationen, so dass nicht klar wird, ob die Projekte wirklich die Bedürfnisse der Geflüchteten erfüllen. So gab es mit Beginn der Flüchtlingswelle sogar Yogakurse für geflüchtete Frauen. Nett gemeint, aber am Bedarf völlig vorbei. In meinem Projekt habe ich in Städten wie Darmstadt und Dessau-Roßlau zunächst eine Bedarfsanalyse erstellt und die Akteure dann in Workshops in den Austausch gebracht, damit es zielgruppengerechtere Angebote für die Geflüchteten geben kann. Da hat sehr gut geklappt.
Von welchen Erfahrungen, die Sie auf Ihrem Hertie-Weg gemacht haben, profitieren Sie heute bei Ihrer Arbeit?
In der Hertie School habe ich sehr viel Handwerk gelernt, zum Beispiel in Kursen wie Public Management. Erst neulich habe wieder meine Unterlagen rausgeholt, um etwas zu typischen politischen und Verwaltungsprozessen nachzulesen. Ich wollte Abläufe meines Alltags verstehen und prüfen, was zu tun ist, um ein Schieflaufen zu verhindern. Die Hertie School hat mir schon einen sehr breiten Blickwinkel mitgegeben.
Zugewanderte gehören überall dazu, so wie Frauen, Menschen mit Behinderungen oder andere Zielgruppen.
Und das Hertie-Innovationskolleg?
Das HIK hat mich bereichert, weil ich Integration in vielen unterschiedlichen Bereichen kennengelernt habe. Aus Sicht einer Kommune zum Beispiel, aber auch aus Sicht der Ehrenamtlichen und der Geflüchteten natürlich. In den zwei Jahren habe ich mich mit dem Thema sehr stark auseinandergesetzt, dadurch bin ich mit vielfältigen Erfahrungen in den Senat gezogen. Wenn man nur aus der Wissenschaft kommt, reicht es für diesen Job dann auch nicht, glaube ich.
War Ihr Weg von der Hertie School in die Berliner Verwaltung geplant?
Nein, obwohl ich immer gesagt habe, dass ich es interessant fände, in der Verwaltung zu arbeiten, weil man hier viel machen und bewegen kann. Ich hatte ja meine Arbeit als selbständige Beraterin von Kommunen im Integrationsbereich, die durch das HIK-Projekt entstanden ist. Hätte ich nicht das Jobangebot beim Senat gesehen, hätte ich so weiter gemacht.
Sie haben vor dem HIK-Projekt Ihre feste Anstellung am Wissenschaftszentrum Berlin aufgegeben, um sich Ihrer Geflüchteten-Initiative „Angehört“ zu widmen, Ein Sprung ins kalte Wasser.
Ja, aber der Sommer 2015 war kein normaler Sommer. So viele Geflüchtete kamen in unser Land. Ich konnte nicht länger am Schreibtisch sitzen, wenn vor meiner Haustür jede Hand gebraucht wurde. Gelebt habe ich damals von meinem Ersparten, aber dann kam ja auch schon bald die Hertie-Förderung für mein HIK-Projekt, das ich starten konnte.
Warum brennen Sie eigentlich so für das Thema Integration und Geflüchtete?
Es belastet mich einfach, wenn ich sehe, dass andere Menschen ungleich behandelt werden aus Gründen, für die sie nichts können. Wenn man aus der Heimat fliehen muss, sucht man sich das ja nicht aus. Ich bin hier sehr privilegiert aufgewachsen, bin zur Schule gegangen, konnte in Costa Rica, Argentinien und Neuseeland leben. Ich bin der Meinung, dass wir alle die gleichen Chancen bekommen sollten, egal woher wir kommen. Es prägt mich sicher auch, dass drei meiner vier Großeltern nach dem Krieg aus Schlesien und Ostpreußen fliehen mussten. Wenn ihnen damals niemand geholfen hätte, hätten sie nie in Mecklenburg Fuß fassen können.
Was möchten Sie im Integrationsbereich noch erreichen?
Ich möchte, dass Integration als Querschnittsthema in allen Häusern der Politik ankommt, also in allen Ministerien und Verwaltungsbereichen. Im Moment ist es so: Immer wenn von jemandem etwas zum Thema Integration kommt, landet es bei uns, dabei sind wir oftmals gar nicht die Spezialisten. Wenn es zum Beispiel um die Gesundheitsversorgung oder den Zugang zu einem Hort geht. Da ist dann eigentlich eine andere Verwaltung zuständig. Es wäre einfach toll, wenn dies Konsens wäre. Zugewanderte gehören überall dazu, so wie Frauen, Menschen mit Behinderungen oder andere Zielgruppen.
Sie sind gut ausgebildet, wurden gefördert - sehen Sie sich als Teil einer Verantwortungselite mit einem besonderen Auftrag?
Das Wort Elite ist schwierig, weil nicht immer klar ist, was es bedeutet. Für mich gehört zur Elite eine Person, die etwas bewirken kann. Ob ich das als Referentin, die noch abhängig von Chef und Chefin ist, schon bin, kann ich nicht sagen. Aber ich sehe es schon als Verantwortung, mein Wissen und meine Erfahrungen einzubringen. Dass bedeutet auch manchmal, Strukturen aufzuwirbeln und zu sagen: „Ist ja schön, dass ihr das immer so gemacht habt, aber lasst uns doch mal was Neues versuchen.“
#Demokratiestärken
Die Stärkung der Demokratie in Deutschland und Europa ist einer der beiden Arbeitsbereiche der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Von Initiativen zur mehr Bürgerbeteiligung über digitale Wege der Demokratie bis hin zur international renommierten Hertie School in Berlin setzt sich die Hertie-Stiftung für dieses Anliegen ein.
Ist das im Berliner Senat möglich?
Zum Glück ja. Meine Herangehensweise ist so, dass ich einen Vorschlag mache, der über das hinaus geht, wie es bisher gelaufen ist, und dann sehe ich ja, ob ich damit durchkomme oder nicht. Was ich toll an unserer Abteilung Integration finde, ist, dass wir sehr jung und agil sind. Viele von uns sind neu in die Verwaltung gekommen und wollen einfach etwas bewegen. Das hilft natürlich.
Was kann Integrationspolitik auf kommunaler Ebene überhaupt leisten?
Berlin ist außergewöhnlich, weil wir ein Stadtstaat sind, deswegen können wir mehr bewirken als z.B. eine Stadt in Thüringen oder Bayern. Generell gilt sicher: Die Rahmenbedingungen müssen ordentlich sein, damit die Länder arbeiten können. Aber auf kommunaler Ebene ist schon ein gewisser Spielraum, das habe ich erlebt, als ich für mein HIK-Projekt unterwegs war. Man muss sich nur mit anderen Akteuren zusammenschließen und austauschen.
Sie spielen in Ihrer Freizeit 7er-Rugby in einer bundesweiten Liga. Was fasziniert Sie an dem ruppigen Sport?
Zum einen ist es ein Teamsport, bei dem niemand allein gewinnen kann. Jede hat ihre Rolle und wird mit ihren Stärken gebraucht. Und ja, der Sport ist sehr körperlich, aber er ist auch sehr fair, sodass man hart, aber kontrolliert miteinander umgeht. Gerade weil ich viel arbeite und mich zum Teil mit schwierigen sozialen Fragen beschäftige, gibt mir der Sport einen Ausgleich. Nach einem langen Tag auf den Platz zu gehen, zu rennen und zu tackeln ist der beste Ausgleich!
Tackeln?
Ja, das ist das gezielte Stoppen des Gegners im Vollkontakt - ganz fair natürlich.
INFO Das Interview führte Rena Beeg, newskontor, für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung