Silvia-Tennenbaum-Stipendium
Writer-in-Residence-Programm

Die weltweite Zunahme von antisemitischem Denken und Handeln ist eine zentrale Herausforderung für die liberale Demokratie. Mit dem Silvia-Tennenbaum-Stipendium gibt die Hertie-Stiftung Autorinnen, Kritikern und Künstlerinnen, die sich mit dem Themenkomplex Antisemitismus, Erinnerungskultur und Demokratie beschäftigen, die Möglichkeit, ein neues Projekt umzusetzen. Die Stipendiaten halten sich einen Teil der Zeit in Frankfurt auf und nehmen an internen und öffentlichen Veranstaltungen der Stiftung teil.

Die Stipendiaten 2026

Aufgrund der Relevanz und Vielschichtigkeit des Themenfeldes hat die Stiftung sich entschieden, im ersten Programmjahr zwei Stipendien zu vergeben.

„Die außergewöhnliche Qualität und Vielfalt der eingereichten Projekte hat uns tief beeindruck. Die ausgewählten Stipendiaten ergänzen sich inhaltlich wie künstlerisch auf bemerkenswerte Weise und verdeutlichen das breite Spektrum an Perspektiven und Ausdrucksformen, das der Themenkomplex ermöglicht,“ erklärt Annette Schavan, Vorstandsvorsitzende der Hertie-Stiftung.

Arndt Emmerich

Der Kultursoziologe Dr. Arndt Emmerich, Junior Professor an der University of Hertfordshire in England, wird das Stipendium nutzen, um sich mit den urbanen Begegnungen zwischen Juden und Muslimen in Frankfurt und London zu beschäftigen. 

„Seine wissenschaftliche Exzellenz verbindet sich mit der Fähigkeit, komplexe Erkenntnisse in einen breiteren gesellschaftlichen Dialog einzubringen. Besonders beeindruckte seine Haltung, geprägt von Ernsthaftigkeit, Empathie und intellektueller Aufrichtigkeit. Damit verkörpert er in herausragender Weise den Anspruch des Silvia-Tennenbaum-Stipendiums,“ sagt Jury-Mitglied Stefanie Kreyenhop.

Drei Fragen an Arndt Emmerich

Warum interessieren Sie sich für das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen in Europa?

Ich interessiere mich für dieses Verhältnis, da es ein Barometer für die zentralen Herausforderungen postmigrantischer Gesellschaften in Europa ist. In der öffentlichen Debatte werden jüdische und muslimische Gemeinschaften oft als antagonistische Gegensätze dargestellt. Dabei wird die Komplexität und Widerstandsfähigkeit ihrer tatsächlichen Beziehungen ignoriert und die verschiedenen lokalen Solidaritätsgemeinschaften aus gemeinsamen Erfahrungen von struktureller Diskriminierung und Ausgrenzung als Minderheiten in Deutschland außer Acht gelassen.

Mit meiner Forschung möchte ich diese Vereinfachungen durch empirische, ethnografische Fakten über Koexistenz und Solidarität korrigieren. Ich möchte zeigen, dass im Alltag der Stadtviertel, abseits der politischen Schlagzeilen, oft eine vielschichtige und generationenübergreifende Verbundenheit existiert, die für die Stabilität unserer Demokratie von unschätzbarem Wert ist. 

Was fanden Sie bei Ihren bisherigen Untersuchungen im Frankfurter Bahnhofsviertel besonders bemerkenswert?

Besonders bemerkenswert fand ich die Resilienz sowie den pragmatischen Ansatz der Nachbarschaftshilfe, die sich über Jahrzehnte hinweg zwischen jüdischen und muslimischen Akteuren entwickelt haben. Meine Forschung hat ergeben, dass diese Beziehungen oft tief in gemeinsamen Erfahrungen der Marginalisierung, der Migration und der Not verwurzelt sind, also im geteilten Status als Minderheit. Diese „urbanen Skripte der Konvivialität” sind viel älter und robuster als die formalen Dialoginitiativen der letzten zwanzig Jahre. Sie beinhalten gegenseitigen Schutz und ökonomische Solidarität und zeigen, dass die Fundamente des Zusammenlebens in lokalen Quartieren nicht in abstrakter Toleranz, sondern in konkreter, über Generationen gewachsener Zusammenarbeit liegen.

Wen möchten Sie mit dem geplanten Sachbuch erreichen?

Mit meinem geplanten Sachbuch möchte ich drei zentrale Gruppen erreichen. Erstens möchte ich Politiker und Stadtplaner erreichen, um ihnen evidenzbasierte Einblicke in die tatsächliche Wirkung von Integrations- und Kulturpolitik zu vermitteln. Zweitens möchte ich Lehrer und Studierende erreichen, um ihnen einen differenzierten ethnografischen Blick auf die Geschichte und Soziologie der Vielfalt in Deutschland zu ermöglichen. Am wichtigsten ist mir die breite Öffentlichkeit, die durch Schlagzeilen oft nur polarisierte Bilder sieht. Das Buch soll als Gegennarrativ dienen, Mut machen und die Macht der alltäglichen Verbundenheit sowie die Fähigkeit der Gesellschaft zur Veränderung von unten nach oben in den Vordergrund stellen.

Dana von Suffrin

Die Schriftstellerin Dr. Dana von Suffrin wird das Stipendium nutzen, um ein Drehbuch über die Lebensgeschichte von Philipp Auerbach zu schreiben, der als Jude den Holocaust überlebte und 1946 in Bayern zum Staatskommissar für rassistisch, religiös und politisch Verfolgte wurde – ein Amt, dass er sehr engagiert ausführte, bis er aufgrund einer antisemitischen Hetzkampagne zu Unrecht verurteilt wurde und sich daraufhin das Leben nahm.

„Die Jury zeigte sich von diesem Beitrag zur Erinnerungskultur begeistert, der einem breiten Publikum Einsicht in ein tragisches Schicksal ermöglicht und an diesem historischen Fall die fatalen Wirkungen von Hassrede und Diffamierung veranschaulicht,“ erläutert Prof. Dr. Maximilian Benz die Entscheidung der Jury.

Foto: Kyrill ConstantinidesDrei Fragen an Dana von Suffrin

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich mit dem Schicksal von Philipp Auerbach zu beschäftigen? 

Ich bin Münchnerin und habe immer wieder von Auerbach gehört, auch im Studium, ich bin Historikerin. Ich habe schon zu einigen historischen Themen künstlerisch gearbeitet, zu den Displaced Persons in München habe ich ein Hörspiel geschrieben. Ich bin damals wieder auf Philipp Auerbach und seine Behörde gestoßen. Mich hat seine Lebensgeschichte sehr bewegt, das war ja keine klassische Politikerbiografie. Ich habe dann sehr lange überlegt, wie ich den Stoff fiktionalisieren und trotzdem der historischen Person und ihrem schweren Schicksal gerecht werden könnte.

Was bewegt Sie an der Geschichte und wieso ist sie ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur? 

Erstens ist Auerbach wirklich fast vergessen – das ist an sich schon ein Skandal. Mich persönlich hat sehr imponiert, mit viel Energie, moralischer Entschiedenheit und Hilfsbereitschaft Auerbach seinen Klienten geholfen hat, er hat übrigens auch schon sehr früh andere Opfergruppen wie Sinti und Roma miteinbezogen, das war damals sehr, sehr progressiv. Zweitens erfahren wir auch durch seine Biografie und sein Werk viel über die Lebensrealität der Displaced Persons im Nachkrieg – und umgekehrt natürlich auch über Deutschland in den 1950ern. 

Warum reizt Sie der Fernsehfilm als Format für Ihren Stoff?

Ich habe zunächst ein Hörspiel geschrieben, das fast ausschließlich im Landesentschädigungsamt spielt. Auerbach taucht darin kaum auf – ich habe fast nur andere über ihn sprechen lassen, weil ich dachte, so könnte ich symbolisch zeigen, dass er, als der antisemitische Skandal begann und sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zuzog, irgendwann gar kein Akteur mehr in diesem ganzen Drama war, sondern nur noch ein Opfer. Für das Drehbuch möchte ich einen anderen Zugang wählen, Auerbach soll hier im Zentrum stehen.

Zur Ausschreibung

Das Silvia-Tennenbaum-Stipendium richtet sich an Autoren, Kritikerinnen und Künstler, deren Praxis auf Schreiben basiert und die sich inhaltlich mit den Themen Antisemitismus, Erinnerungskultur und Demokratie beschäftigen. Europäische Bewerbungen sind willkommen, sehr gute Deutschkenntnisse werden vorausgesetzt.

Im Rahmen des Programms setzen die Stipendiatinnen und Stipendiaten ein konkretes Projekt um. Dies kann etwa eine Publikation, eine Ausstellung oder ein Filmdrehbuch sein. Sie nehmen zudem an internen und externen Veranstaltungen der Hertie-Stiftung teil und partizipieren an Austauschformaten mit Frankfurter Initiativen und Organisationen im Themenumfeld.

Innerhalb des sechsmonatigen Stipendiums verbringen die Stipendiaten drei Monate in Frankfurt. Die Zeiträume des Aufenthalts können flexibel gewählt werden.

Die Förderung im Rahmen des Stipendiums umfasst eine monatliche Zuwendung von 2.000 Euro für sechs Monate sowie einen Mietzuschuss in Höhe von 2.500 Euro für drei Monate Aufenthalt in Frankfurt.

Das Stipendium wird einmal im Jahr vergeben.

Die nächste Ausschreibung erfolgt 2026.

Kriterien und Jury

 Über den Zuschlag entscheidet eine Jury der Hertie-Stiftung, die die Einsendungen nach den folgenden drei Leitkriterien beurteilt:

  • Relevanz - Ist das gewählte Thema bedeutsam für die gesellschaftliche Debatte? Beleuchtet es neue und relevante Perspektiven oder Aspekte?  
  • Originalität- Ist der künstlerische Ansatz originell und kreativ? Passt die angestrebte Umsetzungsform zum Thema?
  • Strahlkraft- Verspricht das geplante Projekt Wirkung in der öffentlichen Wahrnehmung und Inspiration für andere Autorinnen und Künstler?

Silvia Tennenbaum

„Ich will es irgendwie erreichen, eine Botschafterin aus der alten Welt zu sein. Ich möchte Wege finden, durch die die Geschichte der Juden in Deutschland in ihrer wahren Form erhalten bleibt.“ 

Mehr über die Namensgeberin

Jury-Mitglieder

Prof. (HSG) Dr. Sascha Spoun

Prof. Dr. Maximilian Benz

Elisabeth Niejahr

Kreyenhop

Stefanie Kreyenhop

Julia Karnahl

Kontakt

Julia Karnahl

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Das Digital Holocaust Memorial (DHM) ist ein interaktives, digitales Bildungsangebot partizipativer Erinnerungskultur, das von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung über den Fonds zur Antisemitismus-Bekämpfung und Aufklärung gefördert wird. Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, empfiehlt das DHM als wichtigen und zukunftsweisenden Beitrag zur Erinnerungskultur.

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Mit dem "Fonds für Antisemitismus-Bekämpfung und Aufklärung" fördert die Hertie-Stiftung über ihr bereits vorhandenes Engagement hinaus zusätzlich Projekte und Initiativen, die sich für die Erforschung und Bekämpfung des Antisemitismus und für jüdisches Leben in Deutschland einsetzen. Durch Unterstützung von Bildungs- und Dialogprojekten wollen wir zur Aufklärung und Stärkung der Gesellschaft und zu Toleranz beitragen.

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