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Interview mit Karl von Rohr, Juni 2025

Als Hertie-Stiftung haben wir das Mandat, uns für den Staat einzubringen

Wie kann Deutschland wieder handlungsfähig werden und Reformen erfolgreich umsetzen? Karl von Rohr erklärt, welche Herausforderungen die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ sieht, wie der Austausch zwischen Experten verlief und welche Schritte nötig sind, damit staatliches Handeln wieder wirksam wird.
Demokratie stärken

Quick Read: Worum es geht

Deutschland steht sich beim Reformieren oft selbst im Weg – obwohl die Herausforderungen wie demografischer Wandel, Digitalisierung und Bildungskrise seit Jahren bekannt sind.  Im Interview analysiert Karl von Rohr, Vorstandsmitglied der Hertie-Stiftung,  die strukturellen Ursachen für die Reformträgheit: von überforderter Politik in einem komplexen föderalen System über einen Reformstau in der Verwaltung bis hin zu einer öffentlichen Debatte, die sich oft in Nebenfragen verliert. Er zeigt auf, wo Hebel für echte Veränderung liegen – und warum es dafür vor allem eines braucht: Mut zur Priorisierung.

Rund 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind der Ansicht, dass der Staat mit seinen Aufgaben überfordert ist, so eine Umfrage des Deutschen Beamtenbundes aus 2024. Das Vertrauen in die staatliche Handlungsfähigkeit steht im Minus – für unsere Demokratie eine bedrohliche Situation. Die Hertie-Stiftung, die sich in ihrem Programmbereich Demokratie stärken auch mit dem Thema Gutes Regieren beschäftigt, unterstützt deshalb gemeinsam mit drei weiteren Stiftungen die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“, die ihre Ergebnisse in einem Bericht mit großer Resonanz in der Politik und Öffentlichkeit präsentiert hat. Er beinhaltet ein Reformkonzept mit 30 konkreten Empfehlungen, wie staatliches Handeln besser gelingen kann. 54 Expertinnen und Experten aus allen Bereichen der Gesellschaft haben über mehrere Monate in sieben Arbeitsgruppen daran gearbeitet. Auch Karl von Rohr, Vorstandsmitglied der Hertie-Stiftung, und ehemaliger stellv. Vorstandsvorsitzender der Deutsche Bank AG, hat sich mit seiner Expertise in die Initiative eingebracht. Warum dieses Engagement wichtig ist – und warum der Start in der Arbeitsgruppe „ziemlich hart“ war? Unser Interview mit Karl von Rohr lesen Sie hier:   

Worin sehen Sie die Notwendigkeit für die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“?

Die Veränderungen in der geopolitischen Architektur haben in den letzten drei Jahren viele der Herausforderungen in unserem Land schmerzhaft deutlich werden lassen: Das fängt mit den Themen Verteidigungsfähigkeit und Infrastruktur an und setzt sich mit den Baustellen bezahlbare Energie, Klimawandel und Digitalisierung fort. Zugleich merken wir, dass die Debatten zum Thema Föderalismus und Bürokratieabbau an Schärfe zunehmen. Aus Angst vor dem eigenen Statusverlust, aber auch im Kontext der Generationengerechtigkeitsfrage - immer häufiger haben immer mehr Menschen erhebliche Zweifel an der Handlungsfähigkeit unseres Staates. Das Vertrauen in unsere Form der Demokratie erodiert. Die vier Initiatoren der Initiative – die Medienmanagerin und Aufsichtsrätin Julia Jäkel, die früheren Bundesminister Peer Steinbrück und Thomas de Maizière sowie der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle – haben die Dringlichkeit erkannt: Es braucht ein Reformkonzept. Eine Initiative für einen handlungsfähigen Staat, der unabhängig von politischen Konstellationen effektiv, verlässlich und zügig auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger reagiert. Und der damit langfristig das Fundament unserer Demokratie stärkt.  

Die Hertie-Stiftung unterstützt die Initiative gemeinsam mit den Stiftungen Mercator, Thyssen und Zeit Bucerius finanziell und organisatorisch. Wie wichtig ist es, dass sich die Hertie-Stiftung in solchen Initiativen für den Staat einbringt?

Es sind vier Aspekte, die mir in den Sinn kommen. Erstens: Als Stiftung erkennen wir Querschnittsthemen – und es ist unsere Aufgabe, genau solche Themen aufzugreifen und zu bearbeiten. Zweitens: Wir haben, gerade auch qua inhaltlicher Ausrichtung der Hertie-Stiftung das Mandat, uns mit diesen Fragestellungen zu befassen und damit einen Beitrag für den Staat zu leisten. Das gilt für alle vier Stiftungen, die an der Initiative beteiligt sind. Denn wir verfügen in gewissem Maße über die Zeit und die Ressourcen, uns mit Themen auseinanderzusetzen, für die in der kurzfristigen politischen Betrachtung manchmal nicht die ausreichende Geduld aufgebracht wird. Wir können unsere Stiftungsgelder gezielt und priorisiert einsetzen – etwa um eine Initiative wie diese konkret zu unterstützen. Dazu gehört zum Beispiel die Einrichtung einer Geschäftsstelle an der Hertie School in Berlin, die für die Koordination und die wissenschaftliche Begleitung des Projekts zuständig ist. Aus meiner Sicht ist diese Geschäftsstelle für die Zusammenarbeit der beteiligten Stiftungen sehr wertvoll. Ebenso wichtig ist sie, wenn es darum geht, die Initiatoren dabei zu unterstützen, die enorme Themenvielfalt zu strukturieren – und letztlich in einen Zwischen- und einen Abschlussbericht zu überführen. Und drittens: Wir bringen eine Expertise mit, die wir gezielt einsetzen können. In der Hertie-Stiftung haben wir den Förderbereich „Demokratie stärken“ – mit exzellenten Expertinnen und Experten, die in ganz unterschiedlichen Feldern, auch jenseits des Themas Staatsreform, aktiv sind. Sie leisten dort einen sehr konkreten Beitrag für unsere Demokratie, gerade weil wir Querschnittsthemen adressieren, um die sich die Gesellschaft vielleicht nicht in ausreichendem Maße kümmert.

Was war Ihre Motivation, sich in der Arbeitsgruppe „Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschlands“ für die Initiative zu engagieren?

Es war gewissermaßen eine Mischung aus Sorge um den Standort Deutschland – und vielleicht auch ein Stück weit Verzweiflung darüber, dass sich nicht genug bewegt. Es reicht eben nicht, nur an der Seitenlinie zu stehen und zu meckern. Man muss sich auch selbst einbringen und aktiv werden. Also: eigene Vorschläge machen und – wo immer es möglich ist – bei der Umsetzung mithelfen.

Wie muss man sich die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Expertinnen und Expertinnen praktisch vorstellen?

Es gab mehrere Arbeitsgruppen, alle haben primär online getagt. Die Abläufe waren klar strukturiert, was auch notwendig war – allein schon wegen der großen Herausforderung, die Gruppen terminlich zusammenzubringen. Trotzdem ist es uns fast jedes Mal gelungen, in voller Besetzung zusammenzukommen. Die Sitzungen dauerten jeweils zwei Stunden und wurden sehr stringent moderiert. In unserer Gruppe hat das Julia Jäkel ganz hervorragend gemacht. Sie hat regelmäßig Vorschläge eingesammelt, die wir dann gemeinsam diskutiert haben. Teilweise gab es ergänzend auch bilaterale Gespräche mit den Initiatoren, um bestimmte Aspekte zu vertiefen. Die Teilnehmenden wurden außerdem gebeten, zentrale Themen, die in den Sitzungen angesprochen wurden, noch einmal schriftlich auszuarbeiten. Die große Leistung der Geschäftsstelle und der Initiatoren bestand schließlich darin, aus den Protokollen und den schriftlichen Beiträgen die zentralen Richtungshypothesen herauszuarbeiten und daraus die Empfehlungen zu formulieren und den Bericht zu verfassen. Sicher fehlen in diesem Bericht auch Themen wie der europäische Binnenmarkt oder die Rolle der Gerichte. Aber der Anspruch war nicht, ein allumfassendes Papier zu verfassen. Deshalb wurden einige Themenbereiche bewusst nicht weiterverfolgt, auch wenn sie durchaus diskutiert wurden.

Waren Sie sich untereinander denn immer einig?

Ehrlicherweise war es ein ziemlich harter Start, weil es ganz unterschiedliche Ansatzpunkte gab, wie in wahrscheinlich allen Arbeitsgruppen. Wenn man allein die Zusammensetzung unserer Gruppe „Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland“ anschaut, wird die große, zugleich aber auch wertvolle Bandbreite sehr unterschiedlicher Perspektiven deutlich. Bei uns waren zum Beispiel die Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Siemens AG, der Oberbürgermeister Stadt Weiden in der Oberpfalz, eine Juraprofessorin, mehrere Unternehmer, der Präsident des ifo Institutes, aber auch der ehemalige Präsident des Zentralverbands des deutschen Handwerks vertreten. Allein durch diese vielseitige Besetzung hatten wir ein breites Spektrum an Sichtweisen, das wir erst einmal sortieren mussten.

"Uns ging es weniger um die Frage: Was genau muss getan werden? Sondern vielmehr um die Frage: Wie müssen wir es anpacken, damit wir endlich auch mal wirklich zu Ergebnissen in der Umsetzung kommen?"

Wie sind Sie dann auf einen Nenner gekommen?

Ausschlaggebend war, dass wir in der Grundidee der Initiative alle denselben Ansatz verfolgt haben: Nicht mit einzelnen Policy-Vorschlägen zu starten, sondern uns wirklich die Frage zu stellen: Warum scheitern so viele gute Reformvorschläge? Und: Was sind eigentlich die Gelingensbedingungen staatlichen Handelns? Das bedeutete, sich nicht nur mit einzelnen Reformfeldern zu beschäftigen, sondern viele Sektoren in den Blick zu nehmen – mit dem Ziel, am Ende die Verbindungen dazwischen herzustellen. In der Realität greifen die Dinge oft ineinander. Das ist allerdings weniger einfach, als man zunächst denkt. Denn natürlich neigt jeder dazu, schnell in konkrete Lösungs- oder Policy-Vorschläge einzusteigen. Uns ging es aber weniger um die Frage: Was genau muss getan werden? Sondern vielmehr um die Frage: Wie müssen wir es anpacken, damit wir endlich auch mal wirklich zu Ergebnissen in der Umsetzung kommen?

Da müssen die Köpfe ja ziemlich geraucht haben…

Ja, das stimmt. Dieser Ansatz hatte den Vorteil, dass wir nicht über weltanschauliche Fragen oder politische Positionen streiten mussten. Stattdessen konnten wir uns gemeinsam darauf konzentrieren, was getan werden muss, damit Reformvorschläge überhaupt erfolgreich sind – unabhängig davon, wie die einzelnen Vorschläge konkret aussehen. Das ist nicht immer trennscharf gelungen, aber wenn man sich die 30 Empfehlungen im Bericht im Zusammenhang anschaut, erkennt man, dass wir vor allem Strukturvorschläge gemacht haben und weniger einzelne Policy- oder Sachvorschläge.

Können Sie ein oder zwei Empfehlungen nennen, die aus Ihrer Sicht besonders wichtig sind, um den Standort Deutschland zu stärken?

Ich glaube, dass man die Frage eben nicht auf ein oder zwei Punkte verengen kann. Genau deshalb sind es am Ende auch 30 Empfehlungen geworden – und wahrscheinlich hätten es auch 80 sein können. Entscheidend ist die Implementierung. Die liegt allerdings nicht bei uns, sondern letztlich bei der Bundesregierung, den Landesregierungen und den Kommunen. Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist für mich: Wir müssen wieder pragmatischer werden. In Deutschland neigen wir dazu, Einzelfallgerechtigkeit sehr hochzuhängen – und laufen damit in die Perfektionismus-Falle. Die Folge: unlesbare, hochkomplexe Gesetzestexte, die mit einem in der Praxis kaum handhabbaren Umsetzungsaufwand verbunden sind. Deshalb ist aus meiner Sicht Komplexitätsreduktion ein zentraler Grundsatz. Ein zweiter Grundsatz: Wir müssen weg von übermäßigen Dokumentationspflichten und hin zu mehr Vertrauen – Vertrauen darauf, dass Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in Deutschland das Richtige tun wollen. Statt immer neuer Nachweispflichten braucht es klare Gebote und Verbote, die im Fall von Verstößen auch konsequent sanktioniert werden. Und vielleicht noch ein dritter Punkt: Ich glaube, dass es uns in Deutschland an mancher Stelle an Eigenverantwortung mangelt. Einerseits möchte man sich den Staat gern vom Leibe halten, andererseits strecken Interessengruppen, Unternehmen und Verbände in schwierigen Zeiten gern die Hand aus, wenn es um Subventionen geht. Hier sollte der Gedanke der Eigenverantwortung wieder stärker in den Fokus rücken.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Empfehlungen der Initiative Anklang finden und auch umgesetzt werden?

Ich bin zunächst einmal sehr ermutigt durch die Tatsache, dass unsere vier Initiatoren von der neuen Bundesregierung mit offenen Armen empfangen wurden. Die Initiative wurde im Koalitionsvertrag genannt und im Bundestag von unterschiedlichen Rednern ausdrücklich erwähnt. Darüber hinaus waren die Initiatoren bei mehreren Ministerpräsidenten zu Gesprächen eingeladen und haben auch dort viel positive Resonanz erfahren – ebenso in den Medien. Am 11. März 2025 haben die Initiatoren den Bericht an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier übergeben, der Schirmherr der Initiative ist. All das stimmt mich sehr, sehr positiv – denn das ist keineswegs selbstverständlich. Natürlich folgt in den kommenden 24 Monaten der Realitätscheck: Dann wird sich zeigen, was tatsächlich umgesetzt wird. Bis zur Vorstellung des Abschlussberichts im Juli werden die Vorschläge weiterentwickelt und um neue Impulse ergänzt. Damit endet unser Mandat in gewisser Weise. Das ist auch richtig so – denn wir sind nicht demokratisch legitimiert, die Vorschläge selbst umzusetzen. Wir können bestenfalls beratend zur Seite stehen, sofern der Bedarf aus der Politik besteht. Die Idee war nie, dass die Initiative selbstständig umsetzt oder ein festes Beratungsmandat erhält. Vielmehr stehen wir als Mitarbeitende oder Teilnehmende der Initiative für Gespräche bereit – dort, wo wir gebraucht werden. Es bewegt sich also etwas. Und das freut mich sehr.

Initiative für einen handlungsfähigen Staat – Reformen für eine starke Demokratie

Die Initiative für einen handlungsfähigen Staat verfolgt das Ziel, die Effizienz und Bürgernähe der deutschen Verwaltung durch umfassende Reformen zu stärken. Gegründet von Julia Jäkel, Peer Steinbrück,Thomas de Maizière und Andreas Voßkuhle, sollen die Expertinnen und Experten gemeinsam konkrete Ansätze erarbeiten, wie staatliche Strukturen in Deutschland zukunftsfähig gestaltet werden können. 

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Welche Erfahrungen haben Sie persönlich für sich mitgenommen?

Das Engagement für die Initiative stimmt mich zuversichtlich, dass Veränderung möglich ist – vor allem dann, wenn sich die gesellschaftlichen Kräfte an einen Tisch setzen. Nicht jeder sollte seinen Standpunkt bis zum Äußersten verteidigen, sondern es braucht den Willen, über die wirklich wichtigen Fragen ins Gespräch zu kommen. Etwa: Wie schaffen wir es, Reformen im Land tatsächlich umzusetzen? Und wie kommen wir weg von der Praxis, dass jeder nur markige Headlines hinausposaunt? Ich nehme mich da nicht aus. Wahrscheinlich hat jeder, der in der Öffentlichkeit steht, schon einmal seine „Top Ten“ präsentiert – und dann schnell der Politik vorgeworfen, dass nichts passiert. Dabei haben sich viele nicht ausreichend Gedanken darüber gemacht, wie man diese Vorschläge konkret umsetzen könnte. Ich empfinde es als sehr hilfreich, wenn gesellschaftliche Kräfte eingebunden und gebündelt werden – und wenn alle mit der Bereitschaft hineingehen, auch die eigene Position zu hinterfragen. Damit sich wirklich etwas bewegen lässt.

INFO Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung

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