
Interview mit Annette Schavan, Februar 2025
Die großen Zukunftsfragen können nur gemeinsam beantwortet werden
Annette Schavan sieht in der Hertie-Stiftung großes Potenzial, besonders in der Demokratieförderung und der Arbeit mit jungen Generationen. Sie betont die Notwendigkeit, europäische Werte zu stärken und das Verständnis für die deutsch-israelischen Beziehungen zu vertiefen. Besorgt blickt sie auf die wachsende gesellschaftliche Polarisierung und setzt sich für eine lebendige Erinnerungskultur ein. Persönlich bleibt sie eng mit ihrer rheinländischen Heimat und ihrer Zeit in Rom verbunden – beides prägt ihren Blick auf Kultur, Gesellschaft und Politik.
Annette Schavan, geboren 1955 in Jüchen in Nordrhein-Westfalen, war Bundesbildungsministerin (2005–2013) und deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl (2014–2018). Zuvor prägte sie als Kultusministerin in Baden-Württemberg die Bildungspolitik des Landes. Seit 2024 steht sie an der Spitze der Hertie-Stiftung und setzt sich für Demokratie, Bildung und europäische Werte ein. Im Interview spricht sie über ihre ersten Monate im Amt, ihre Pläne für die Stiftung und die Herausforderungen Europas. Sie reflektiert über Erinnerungskultur, deutsch-israelische Beziehungen und ihre persönliche Verbindung zu Rom, ihrer rheinländischen Heimat und zur Musik. Warum sie Europas Zukunft mit Sorge sieht, erklärt sie hier.
Frau Schavan, Sie kennen die Hertie-Stiftung schon lange, seit April 2024 sind Sie Vorstandsvorsitzende. Wie waren Ihre ersten Monate im neuen Amt?
Mir ist in vielen Gesprächen das große Potenzial deutlich geworden, das in der Stiftung steckt. Ich begleite schon lange Projekte wie Jugend debattiert oder das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen. Jetzt wird mir klar, wie gut sich die vielen Erkenntnisse und langjährigen Erfahrungen weiterentwickeln lassen, wobei ich den Schwerpunkt auf die jungen Generationen legen möchte.
"Lasst uns Projekte und Initiativen ergreifen, mit denen wir dazu beitragen, dass Talente von Menschen sich entfalten können."
Gibt es etwas, das Ihnen bei der Hertie-Stiftung besonders Spaß macht oder Sie auch überrascht hat?
Besonders freut mich, dass ich in der Stiftung stark motivierte und engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter treffe. Sie haben viele gute Ideen, diskutieren sie über Fachgrenzen hinweg und praktizieren ein gutes Projektmanagement. Generell schätze ich das zivilgesellschaftliche Engagement der Stiftung sehr. Veränderung in der Gesellschaft braucht immer den Rückenwind aus ihrer Mitte – dazu gehören Stiftungen - bevor es in die eigentlich politische Debatte geht.
Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit bei der Stiftung von Ihrer früheren Tätigkeit und was bringen Sie mit?
Anders als in der Politik lässt sich in einer Stiftung etwas in Ruhe entwickeln. In der Politik geschieht alles im Licht der Öffentlichkeit und in einem Tempo, das nicht jeder Entscheidung guttut. Ich bringe Erfahrungen aus vielen Jahren in der Politik mit, konkret in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Und ich bringe Impulse für Neues ein: So werden wir in der Hertie-Stiftung mit dem Thema Europa einen neuen Weg gehen. Wir sollten die jeweils junge Generation ermutigen, an der Zukunft Europas mitzuwirken und an einem Verständnis von europäischer Identität zu arbeiten. Am stärksten ist meine Überzeugung: Lasst uns Projekte und Initiativen ergreifen, mit denen wir dazu beitragen, dass Talente von Menschen sich entfalten können. So hat übrigens mein Berufsweg 1981 beim Cusanuswerk begonnen, einem Begabtenförderungswerk.

Wie schauen Sie auf 2025? Gibt es etwas, das Ihnen besonders wichtig ist oder was sich ändern wird?
2025 ist das Jahr, in dem wir 60 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland feiern. Das ist für mich ein Grund zum Feiern. Es ist nicht nur eine unserer interessantesten Wissenschaftsbeziehungen. Es ist vor allem auch eine Beziehung, in der gilt, was die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel einmal gesagt hat: Es gibt eine Staatsräson. Wir müssen überzeugend sein, wenn es um die Weiterentwicklung der deutsch-israelischen Beziehungen und um die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in Deutschland geht. Das spielt für mich eine große Rolle in diesem Jahr. So möchten wir gemeinsam mit anderen Stiftungen jungen Menschen in Israel und Deutschland, die in der Kultur, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, ja auch in der Politik gestalten wollen, die Möglichkeit geben, sich und das jeweils andere Land besser kennenzulernen. Wir möchten der Rhetorik, dass immer das eigene Land Priorität hat, etwas entgegensetzen.
Wie blicken Sie auf Europa und die aktuelle Entwicklung?
Ich blicke besorgt auf Europa. Mir scheinen alle Zeichen für Europa und die globale Welt auf Konfrontation zu stehen. Konfrontation bewirkt Eskalation, bewirkt eine wachsende Unversöhnlichkeit. Alle schauen nur auf die eigene Situation und vergessen, dass die großen Zukunftsfragen nur gemeinsam zu beantworten sind. Weder der Klimawandel noch die Themen, die mit Armut und Entwicklungsperspektiven zu tun haben, lassen sich in einem nationalen Kontext bewältigen. Für meine Generation war das eine große Vision, gemeinsame Antworten zu finden auf die großen Fragen auch als wirksamen Weg für den Frieden. Jetzt wird darum wieder gerungen. Und deshalb ist es so wichtig, eine junge Generation dafür empfänglich zu machen, dass die globale Welt nur mit Interesse für andere Regionen, andere Gedanken, andere Kulturen gelingen kann.
Sie haben schon angesprochen, wie wichtig Ihnen ein Austausch zwischen Deutschland und Israel ist. Lebendige Erinnerungskultur und ein entschiedenes Eintreten gegen den Antisemitismus sind Ihnen ein besonderes Anliegen. Welchen Bezug haben Sie zu dem Thema?
Ich habe enge Beziehungen und viele Freunde in Israel, ich kenne dieses Land seit Jahrzehnten - seine Stärken, seine Gefährdung. Gerade seit dem 7. Oktober 2023 frage ich mich immer häufiger, ob die Formulierung „Nie wieder ist jetzt“ möglicherweise eine Illusion war. Oder anders gesagt: Was ist notwendig, damit das „nie wieder“ eine Realität wird? Der erste Schritt ist für mich, mit der Dämonisierung des anderen, des Fremden, aufzuhören. Sowohl das Aushalten von Vielfalt als ein wichtiger Teil der Stärkung von Demokratie, als auch diese Vielfalt zu mögen, sie als kulturelle Kraft zu sehen, ist gekippt. Für viele Menschen ist die Vielfalt zu anstrengend, sie wirkt auf sie verunsichernd, obwohl junge Generationen so international unterwegs sind wie nie zuvor.
"Ich bin davon überzeugt, dass Demokratie nicht vom Himmel fällt, sie muss in jeder Generation neu entdeckt und geschätzt werden."
Sie haben neben Ihrem Amt bei der Hertie-Stiftung zahlreiche weitere Engagements. Was ist dafür Ihr Antrieb?
Als ich nach vier Jahren als Botschafterin in Rom nach Deutschland zurückkehrte, war mir klar, ich gehe nicht mehr auf die politische Bühne zurück. 18 Ministerjahre sind eine ziemlich lange Zeit für ein einziges Leben. Ich wollte dahin, wo ich meine Erfahrungen einbringen kann und wo ich thematisch gute Zusammenhänge sehe. Der Kuratoriumsvorsitz in der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft und in der Finkelstein Stiftung und meine Aufgabe hier passen wunderbar zusammen. Ich bin davon überzeugt, dass Demokratie nicht vom Himmel fällt, sie muss in jeder Generation neu entdeckt und geschätzt werden. Dafür wollen wir arbeiten.
Neuss, Rom, Berlin, Ulm, Frankfurt – das sind nur einige Ihrer Stationen. Wo fühlen Sie sich besonders wohl? Und fühlen Sie sich als Rheinländerin oder als Deutsche oder als Europäerin?
Ich bin Rheinländerin durch und durch. Ich liebe Rom und ich wohne gerne in Ulm. Wer Rom gut kennt oder dort einige Zeit lebt, der entdeckt seine Liebe zu dieser Stadt. Ich frische sie ein bis zwei Mal im Jahr immer wieder auf. Die so genannte italienische Lebensart sollte man nicht wieder ganz verlieren. Sie hat sehr viel positive Kraft und setzt Kreativität frei. Schließlich: Der Weg vom Rheinland nach Brüssel ist kurz. Der Weg von Baden ins Elsass ein Spaziergang in die Nachbarschaft. Europa ist meine Heimat in der globalen Welt.

Diese italienische Lebensart würde Frankfurt sicherlich auch guttun. Haben Sie durch Ihre Tätigkeit - jetzt sind Sie ja häufiger in Frankfurt - neue Facetten von der Stadt am Main kennengelernt?
Eindeutig. Für mich war Frankfurt lange Zeit ein eher unbeschriebenes Blatt und ich finde, die Stadt hat einen enormen Schub gemacht. Petra Roth hat während ihrer Amtszeit als Oberbürgermeisterin dazu wesentlich beigetragen. Es ist eine wirklich liebenswerte Stadt, in der Kunst und Kultur ausgeprägt sind und die eine dichte Stifterlandschaft hat. Hier leben viele Bürgerinnen und Bürger, denen das Gemeinwesen und die Stadtgesellschaft am Herzen liegt. Das ist spürbar und ich schätze das sehr.
Noch ganz persönlich: Gibt es ein Buch, das Sie besonders geprägt hat? Oder was lesen Sie aktuell?
Aktuell lese ich das Pariser Tagebuch von Thea Sternheim. Sie ist wie ich in Neuss geboren, als Kind in einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie aufgewachsen. Sie ist früh, noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, nach Paris ausgewandert und hat dort viele Jahre gelebt. Das Tagebuch bezieht sich auf die Zeit 1932 bis 1949. Sie ist eine großartige Chronistin ihrer Zeit. Von Paris aus beschreibt sie messerscharf die Vorgänge in Deutschland, bereits bevor es 1933 wirklich losgeht. Geprägt hat mich das Buch der Psalmen im Alten Testament. Psalmen werden seit über 3000 Jahren von Juden und Christen gelesen und gebetet. In ihnen ist beschrieben, was Menschen bewegt und erfahren und vor Gott tragen. In keinem anderen Buch steckt so viel Wahrheit über das menschliche Leben.
Welche Musik hören Sie gerne?
Zu meinen Lieblingskomponisten gehört Arvo Pärt. Seine Musik ist für mich auch eine faszinierende Sprache des Glaubens. Besonders gerne höre ich die Cellosonaten von Bach, gespielt von einem guten Freund, dem Cellisten Julius Berger. Mit ihm habe ich übrigens eine CD veröffentlicht, die den Titel trägt “Warum toben Völker”. Er spielt Musik von Ernest Bloch, ich lese Psalmen und ein Percussion Duo begleitet. Und ich höre auch gerne Musik von Haydn, Mozart und Vivaldi.
Was sollte man über Sie wissen, was nicht in den Medien steht?
Dass ich das Leben liebe und zuversichtlich auf den Menschen schaue.