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Farid Bidardel, Foto: Abbi Wensyel
Interview mit Farid Bidardel, März 2024

Wir wertschätzen Jugendliche so wie sie sind

Die START-Stiftung fördert Jugendliche mit Migrationshintergrund durch Bildungsstipendien und Programme zur Persönlichkeitsentwicklung. Im Interview spricht Geschäftsführer Farid Bidardel über die Ziele und das Engagement der Organisation.
Demokratie stärken

Herr Bidardel, Sie sind Geschäftsführer der START-Stiftung. Was hat es mit dieser Organisation auf sich und was will sie erreichen? 

 START vergibt in erster Linie dreijährige Stipendien an ausgewählte Schülerinnen und Schüler mit Migrationsbezug – und zwar über alle Schularten hinweg. Wir möchten die jungen Menschen damit vor allem in ihrer Bildungsbiografie und in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern, sie aber auch zu gesellschaftlichem Engagement ermutigen. Es geht dabei um berufliche Orientierung, Austausch, Demokratie und Medienkompetenz, aber auch um das Netzwerken und darum, nachhaltige Freundschaften zu schließen. Dazu gibt es im Rahmen des Stipendiums verschiedene Kurse, Workshops und Trainings – online oder auch in Präsenz – sowie finanzielle Unterstützung. Wir haben das Programm seit seiner Etablierung immer wieder verändert und weiterentwickelt, um zeitgemäß und bedürfnisgerecht zu bleiben: Ganz neu im Angebot haben wir jetzt einjährige Förderprogramme mit einem inhaltlichen Fokus wie ›Berufsorientierung‹ oder ›App-Programmierung‹, um junge Menschen zu gewinnen, die sich eher einen bestimmten Förderschwerpunkt wünschen. Und es gibt nun auch ein komplett frei zugängliches Community-Angebot, um noch mehr Jugendliche an START teilhaben zu lassen.« 

Die Programme zielen ja sicherlich auch darauf ab, die Integration der Jugendlichen zu fördern, oder? 

Ehrlich gesagt finde ich den Begriff „Integration“ an sich etwas problematisch. Er suggeriert, dass es eine homogene Mehrheitsgruppe gäbe, in die sich die Minderheitsgruppe einfügen soll. Wir möchten lieber eine Umgebung schaffen, in der eine gleichberechtigte Teilhabe aller möglich ist. Daher nehmen wir mit den Jugendlichen lieber eine Perspektive ein, in der wir sie als die Individuen anerkennen, die sie sind, um dann gemeinsam mit ihnen zu schauen, wie sie mit den Werten, Ideen und vor allem Talenten, die sie aus ihrem Hintergrund bereits mitbringen, ihren individuellen Beitrag zu unserer Gesellschaft leisten können. Ich denke, dass wir ihren Potenzialen so sehr viel eher gerecht werden, als wenn wir ihnen beibringen wollten, wie man in Deutschland zu sein, zu leben, zu arbeiten und zu funktionieren hat. Wir wertschätzen sie so wie sie sind und bauen dann gemeinsam darauf auf. Das stärkt ihr Zugehörigkeitsgefühl und ihre Selbstsicherheit.« 

Inwiefern mangelt es migrantischen jungen Menschen im Vergleich zu »biodeutschen« möglicherweise an Selbstsicherheit? 

Das kann man sich als nicht migrantische Person vielleicht kaum vorstellen, aber selbst wenn man keine direkte rassistische Diskriminierung erfahren würde – die man natürlich immer wieder erfährt –, ist da eben doch ein Anderssein gegenüber der Mehrheitsgesellschaft – das andere Aussehen, der ›fremdländische‹ Name –, mit dem man im Alltag immer wieder konfrontiert wird. Oft passiert das in der an sich wohlmeinenden Frage, wo man eigentlich herkäme. Ich denke, das blockiert auf Dauer das Gefühl, wirklich dazuzugehören. Und dann wissen wir auch aus Studien, dass Hautfarbe und Name im Alltag zu realen Benachteiligungen führen. Wir wollen die jungen Menschen dahingehend in ihrer Persönlichkeit stärken, um mit solchen Situationen souveräner umgehen zu können. Aber es bräuchte wahrscheinlich auch einfach mehr Sichtbarkeit und Repräsentation migrantischer Menschen in der Gesellschaft, mehr Vorbilder.  

Beispiele für in unserer Gesellschaft sichtbare Persönlichkeiten mit Migrationsbezug gibt es ja schon. Man denke an den amtierenden Landwirtschaftsminister, das Ehepaar, das Biontech gegründet hat, verschiedene Kulturschaffende … 

Natürlich, aber das sind nach wie vor Ausnahmen, die eher die Regel bestätigen. Und sie sind vielleicht auch schon wieder zu weit weg von den Jugendlichen. Wir waren vor kurzem mit einer Gruppe im Deutschen Bundestag zu Besuch und haben dort Kassem Taher Saleh getroffen, der seit 2021 Abgeordneter und ein START-Alumnus ist. Da gab es Reaktionen wie: „Wenn er das mit so einem Namen und so einer Herkunft geschafft hat, kann ich das vielleicht auch.“ Es müsste einfach mehr Kassems in allen möglichen gesellschaftlichen Positionen geben, damit für diese jungen Leute überhaupt vorstellbar wird, was sie erreichen können, welche Ziele sie sich stecken sollten. Dafür bräuchten wir aber vor allem auch echte Chancengerechtigkeit. 

START-Stiftung

Mit dem START-Stipendium unterstützt die Hertie-Stiftung motivierte Jugendliche mit Einwanderungsgeschichte bei der Gestaltung ihrer Bildungsbiografie – für eine demokratische, pluralistische und inklusive Gesellschaft.

Website der START-Stiftung

Wo geht die Reise für START hin? Was sind die nächsten Ziele? 

Zunächst wollen wir die eingangs erwähnten zusätzlichen Angebote weiter ausbauen, um mehr Jugendliche außerhalb des klassischen Stipendienprogramms zu erreichen. Seit der Gründung 2002 haben rund 3.500 von ihnen unser Programm durchlaufen – 10.000 oder 100.000 wären natürlich besser. Ein immer wichtigeres Thema wird sicherlich die Medienkompetenz, vor allem mit Blick auf Social Media. Da sind gerade benachteiligte und marginalisierte Jugendliche großen Gefahren ausgesetzt, die durch die steigende Verbreitung von KI massiv zunehmen werden. Deshalb müssen wir die jungen Menschen verstärkt gegen Phänomene wie Desinformation, Manipulation, Hassrede und Verschwörungserzählungen und durch Algorithmen generierte Meinungs-Bubbles wappnen. Darin sehe ich für uns eine extrem wichtige Aufgabe. 

INFO  Das Interview führte Michael Neser (Fuenfwerken)  für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung  

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