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Interview mit Prof. Dr. Manuel A. Friese, März 2024

Aus dem Patientenkontakt entstehen neue Ideen und Impulse

Im Interview berichtet Prof. Dr. Manuel A. Friese, der die Forschung und Patientenversorgung bei Multiple Sklerose am INIMS in Hamburg vorantreibt, welche neuen Therapieansätze derzeit erforscht werden.
Gehirn erforschen

Prof. Dr. Manuel A. Friese leitet das Institut für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose, kurz INIMS, am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er gilt als führender Spezialist für Neuroimmunologie im Kontext der MS. Im folgenden Gespräch gibt er Einblicke in die Arbeit seines Instituts sowie den allgemeinen Stand der MS-Forschung und der klinischen Praxis. 

Herr Prof. Friese, warum sollten Medizinerinnen und Mediziner mit ihrer ärztlichen Ausrichtung überhaupt in die Forschung gehen, wo doch Biologen dafür eigentlich besser ausgebildet sind? Und bleibt Ihnen als forschendem Neurologen überhaupt noch Zeit für den Patientenkontakt? 

Ja, ich lege sogar großen Wert darauf, auch in der Patientenversorgung aktiv zu sein. Die Möglichkeit dazu macht unser Institut und meine Stelle hier ziemlich einzigartig. An zwei Tagen in der Woche sehe ich die Patientinnen und Patienten und kann so im Blick behalten, wo die größten Versorgungslücken für die Betroffenen sind. Aus dieser zweiseitigen Perspektive entstehen auch oft ganz neue Ideen und Impulse, gerade was den Einsatz von Medikamenten angeht. Das halte ich für sehr wertvoll. Derzeit beobachten wir aber einen dramatischen Rückgang bei den klinischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, also bei denjenigen, die sich aus der medizinischen Ausbildung heraus auch für die Forschung begeistern können, allein schon, weil das heute eine enorme Doppelbelastung bedeutet. Ich finde es daher toll, dass die Hertie-Stiftung genau das fördert. 

Was tut sich denn gerade in der Grundlagenforschung zur MS – was sind da aktuell die zentralen Themen? 

Da gibt es eine ganze Menge. Hier bei uns am Institut setzen wir uns derzeit schwerpunktmäßig damit auseinander, wie Nervenzellen nach einer chronischen Entzündung überhaupt absterben, also welche Mechanismen dabei ablaufen. Wenn wir die verstehen, können wir vielleicht eingreifen. Damit stehen wir aber noch ziemlich am Anfang. Außerdem versuchen wir unter anderem, aus der Schwangerschaft zu lernen. Wenn im Körper der Frau ein Kind heranwächst, das zu 50 % aus fremden Genen besteht, wird die Immunreaktion stark unterdrückt, damit es nicht abgestoßen wird. Es gibt vielversprechende Hinweise, dass wir daraus therapeutische Ansätze ableiten können. Und wir gehen in diesem Zusammenhang auch der Frage nach, warum Frauen grundsätzlich häufiger an MS erkranken als Männer. 

Welche Therapieansätze gelten derzeit als Hoffnungsträger? 

Was uns gerade etwas ernüchtert, ist die Anwendung von Immuntherapien in der MS, mit denen wir zwar die Schübe, also die akuten klinischen Symptome, sehr gut unterdrücken können. Das langfristige Voranschreiten der Krankheit bekommen wir damit aber leider nicht in den Griff. Aktuell verfolgen wir vor allem zwei therapeutische Ansätze. Auf der einen Seite in Richtung der direkten Bekämpfung der Entzündung im Nervensystem selbst, auf der anderen in Richtung einer erhöhten Resilienz der Nervenzellen gegenüber der Entzündung. Dazu schauen wir uns verstärkt Medikamente aus anderen Indikationen wie der Krebs- oder Diabetestherapie an. In der klinischen Praxis haben wir die wohl ersten MS-Patienten weltweit mit sogenannten CAR-T-Zellen behandelt, die bis ins Nervensystem vordringen können – eine innovative Therapieform aus der Onkologie. Auch führen wir vermehrt Stammzelltransplantationen durch, mit denen wir das Immunsystem zu einer Art „Reset“ bringen möchten.  

Wie stehen Sie zur aktuell viel diskutierten EBV-Impfung? Ist die ein echter „Game Changer“? 

Ein hoch umstrittenes Thema. Der Zusammenhang zwischen EBV und MS steht dabei außer Frage. Schaut man aber evolutionär zurück, haben wir die EBV-Infektion womöglich bereits mit der Auswanderung des Homo sapiens aus Afrika mitgebracht und tragen sie heute wohl alle in uns. Daher scheint EBV eine wichtige Rolle im Menschen zu spielen, sonst wäre das im Lauf dieser langen Evolution wieder verschwunden. Wenn es zwischen dem Virus und uns also vielleicht auch symbiotische Effekte gibt, wissen wir noch gar nicht, ob wir mit einer EBV-Impfung nicht auch Schaden anrichten. 

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Es bleibt also noch sehr viel zu erforschen und zu verstehen, bevor wir MS vielleicht eines Tages heilen oder – besser noch – ganz verhindern können. 

Ja, da liegt sicher noch ein weiter Weg vor uns, was aber nicht heißt, dass wir nicht bereits viele Fortschritte gemacht hätten. Und dazu hat auch die Hertie-Stiftung in mancherlei Hinsicht ihren Teil beigetragen. Neben vielen anderen Aspekten profitiere ich da heute sehr vom standortübergreifenden Hertie Network of Excellence in Clinical Neuroscience, das sich immer wieder als äußerst fruchtbar und wertvoll erweist. Dadurch sind viele Projekte, Interaktionen und auch Freundschaften entstanden, die wiederum der Forschung und der klinischen Arbeit zugutekommen – und damit schlussendlich auch den Patientinnen und Patienten. 

INFO  Das Interview führte Michael Neser (Fuenfwerken)  für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung  

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