Interview mit Fanny Bräuning
Es ist faszinierend, wie sich unsere Vorstellungen über ein lebenswertes Leben verändern können.
Die Schweizer Regisseurin Fanny Bräuning (43) aus Basel war zwei Jahre alt, als bei ihrer Mutter Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert wurde. Die junge Fanny wächst damit auf, empfindet die stetig fortschreitende Erkrankung der Mutter zunächst als „normal“ – sie kennt es nicht anders. Dann, 20 Jahre später, fällt ihre Mutter Annette Bräuning plötzlich ins Koma. Als sie nach einer Woche erwacht, ist sie vom Hals abwärts gelähmt. Für die Familie ein Schlag, doch Fannys Vater Niggi Bräuning lässt sich nicht aus der Bahn werfen: Der Fotograf gibt seinen Beruf auf, um seine Frau zu pflegen. Er beginnt einen Kleinbus umzubauen und mit ihr zu verreisen. Das war vor 20 Jahren. Mittlerweile ist das Ehepaar bis zu drei Mal pro Jahr im Bus unterwegs. Ihre Tochter Fanny hat die beiden auf Reisen durch Griechenland, Albanien, Sizilien begleitet und einen berührenden Film über ihre Eltern gedreht. Entstanden ist eine Hommage an das Leben, die Mut macht, es trotz gesundheitlicher Einschränkungen zu meistern. Der auf den Solothurner Filmtagen preisgekrönte Dokumentarfilm „Immer und ewig“ wird am 23. Oktober in Kooperation mit der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft bundesweit in deutschen Kinos gezeigt. Wir haben mit Fanny Bräuning ein Interview geführt.
Ich erzähle eine Geschichte über die Suche nach einem würdevollen und lebenswerten Leben
Frau Bräuning, warum haben Sie „Immer und ewig“ gedreht?
Ich habe vor 20 Jahren schon mal einen Kurzfilm über meine Mutter gemacht, nachdem sie ins Koma gefallen war. Meine Mutter verbrachte damals ein Jahr in der Reha und machte sich sehr viele Gedanken über ihre Zukunft. Sie hatte zum Beispiel die Sorge, ihre Hände nie mehr bewegen zu können. Dann, über zehn Jahre später, habe ich gemerkt, dass es spannend wäre, einen Film über meine Mutter und meinen Vater zu drehen, denn eine schwere Erkrankung oder Behinderung betrifft ja nicht nur einen Menschen, sondern auch die nächsten Angehörigen. Mich hat interessiert, was das für ihre Beziehung bedeutet und woher sie ihren Lebensmut nehmen. So habe ich sie auf ihren Bustouren begleitet.
Ihre Mutter ist seit über 40 Jahren an MS erkrankt und 1999 ins Koma gefallen. Was war der Auslöser?
Es war ein septisch-toxischer Schock, der nichts direkt mit der MS zu tun hatte. Die Ärzte sagten uns damals, das könne jedem passieren, zum Beispiel durch einen Bienenstich. Was die genaue Ursache war, ist bis heute nicht klar, nur war meine Mutter natürlich durch die MS körperlich geschwächt. Der Komazustand hatte dann eine zusätzliche Nervenkrankheit ausgelöst. Warum am Ende eine Querschnittlähmung aller vier Gliedmaßen zurückblieb, konnten uns die Ärzte nicht genau erklären: Sie wussten nicht, ob die Verschlechterung auf die MS zurückzuführen ist, oder ob das Koma und die eine zusätzliche Erkrankung der Nerven dafür gesorgt hatten, dass meine Mutter zum Beispiel die Hände nicht mehr bewegen konnte und sich ihr Zustand verschlechtert hat.
Wie kam es dazu, dass Ihre Eltern mit einem Bus auf Reisen gingen?
Mein Vater hatte die Idee. Er wollte sich nicht damit abfinden, dass sie in einem Pflegeheim an die Decke starren würde, sondern wollte ihr ermöglichen, dass sie mit ihm gemeinsam wieder am normalen Leben teilhaben kann, inklusive Reisen. Deshalb hat er sehr lange recherchiert und nach Lösungen gesucht, um den Kleinbus umbauen zu können. Und er hat es geschafft. Heute hat der Bus alles, was es braucht, damit jemand, der vom Hals abwärts gelähmt ist, versorgt werden kann - quasi eine mobile Pflegestation. Das könnte kein behindertengerechtes Hotel leisten. Mein Vater sagt immer: „Das sind Hotels für ‚gesunde Behinderte’, die sich noch selbst aus dem Rollstuhl hieven können.“ Bei meiner Mutter geht das alles nicht mehr. Das übernimmt mein Vater. Er kann auch den Bauchkatheter wechseln und die Magensonde. Das hat er alles von den Pflegerinnen gelernt, die sich sonst zuhause um meine Mutter kümmern.
Wie lange sind Ihre Eltern immer unterwegs?
Oft reisen sie sechs Wochen am Stück. In den letzten beiden Jahren waren sie sogar dreimal pro Jahr unterwegs; Auf Reisen übernachten sie meist mit ihrem Bus an den schönsten Orten im Parkverbot, mitten im Leben, und profitieren davon, dass sie dies mit dem Behindertenausweis dürfen.
Woher nimmt Ihr Vater die Kraft für diese Reisen?
Mein Vater war früher Matrose, und er sagt, das sei seine Lebensschule gewesen. An Bord habe man nicht lange diskutiert. Wenn ein Loch im Schiff war, habe man es dicht gemacht. Er weiß, dass er die Krankheit meiner Mutter nicht ändern kann, aber er sagt immer, dass es für viele Probleme praktische Lösungen gibt. Ihn nervt es sogar, wenn die Leute zu ihm sagen: „Das ist ja toll, was Du für Deine Frau tust“. Er antwortet dann immer: „Das mache ich ja nicht für sie, sondern für uns.“ Er möchte einfach ihr gemeinsames Leben weiterführen.
Hier sehen Sie "Immer und Ewig"
„Immer und ewig“ wird am 23. Oktober bundesweit in ausgewählten Kinos gezeigt, danach jeweils an Einzelterminen. In einigen Städten finden Events zum Filmstart und Gespräche mit der Regisseurin Fanny Bräuning statt. Hier finden Sie eine Übersicht, in welchen Kinos „Immer und ewig“ gezeigt wird:
Wie ist es für Sie als Tochter, die Erkrankung Ihrer Mutter zu erleben?
Ich kannte es als Kind nicht anders, für mich war es „normal“, eine kranke Mutter zu haben, auch wenn sich die MS nach und nach verschlechterte. Nach dem Koma spürte ich zunehmend, dass ich eigentlich vieles mit meiner Mutter nicht so erleben kann, wie gesunde Mütter es mit ihren Töchtern erleben. Oder dass meine Mutter auch mit meinem Sohn nicht viel gemeinsam unternehmen kann, was sie sehr traurig gemacht hat.
Welche Botschaft hat „Immer und ewig“?
Ich erzähle eine Geschichte über die Suche nach einem würdevollen und lebenswerten Leben, trotz schwerer Erkrankung. Mich fasziniert daran zum Beispiel etwas „Verrücktes“, was ich erst als Erwachsene erfahren habe: Als meine Mutter an MS erkrankte, hat sie sich bei der Sterbehilfeorganisation Exit angemeldet. Sie dachte immer, wenn sie im Rollstuhl landen würde, möchte sie nicht mehr leben. Dann saß sie eines Tages im Rollstuhl. Danach dachte sie, wenn sie ihre Hände nicht mehr bewegen kann, möchte sie nicht mehr leben. Mittlerweile ist all das eingetreten – und sie hat sich bei Exit abgemeldet! Das finde ich so faszinierend, dass sich unsere Vorstellung darüber, was ein lebenswertes Leben ausmacht, ändern kann. Dass meine Mutter etwas gefunden hat, was sie heute sagen lässt: "Ich lebe gern". Das berührt mich immer wieder.
Wie finden Ihre Eltern Ihren Film?
Meine Mutter hat auf den Reisen vor allem genossen, so viel Zeit mit mir zu verbringen und zu erzählen, was für sie wichtig ist. Sie hat viel Freude an dem Film. Mein Vater hätte gerne im Film die technische und pflegerische Seite noch mehr im Vordergrund gehabt. Ihm ist es ein Hauptanliegen, anderen Betroffenen und ihren Familien Mut zu machen und zu zeigen, was alles möglich ist. Er hat sogar die Hoffnung, dass ihn nach dem Film Betroffene in einer ähnlichen Situation anrufen und Tipps möchten, wie sie ebenfalls im Bus auf Reisen gehen können. Es klingt zwar blöd, immer über die Toilette für Schwerbehinderte zu reden, aber genau daran scheitern solche Reisepläne oft. Wer also Tipps zum Busausbau oder andere Lösungen braucht, kann sich sehr gern bei meinem Vater melden. Das hat er mir gleich mit auf den Weg gegeben.
Das Gespräch führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung.