Interview mit Prof. Holger Lerche
Da kommt eine Revolution auf uns zu, was Therapien angeht.
Epilepsien sind eine heterogene Gruppe neurologischer Erkrankungen, die anfallsartig auftreten, genauso wie die Migräne. Prof. Holger Lerche ist Ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH). Der Neurologe und sein Team haben sich auf anfallsartig auftretende Erkrankungen spezialisiert und forschen mit Hochdruck an neuen Therapien. Welche das sind und was es Neues zur Epilepsie gibt, erläutert Prof. Lerche in unserem Interview.
Epilepsien gehören zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen, etwa ein Prozent der Bevölkerung ist betroffen. Die typischen Symptome sind unterschiedliche Arten epileptischer Anfälle. Gibt es aktuelle Erkenntnisse über diese Krankheiten?
Zunächst ist mir wichtig: Epilepsien sind zwar Erkrankungen, die anfallsartig auftreten, diese Anfälle müssen aber keineswegs mit dramatisch wirkenden Verkrampfungen oder Stürzen einher gehen, wie oft angenommen wird – das betrifft nur die stärkste Form eines epileptischen Anfalls. Es gibt auch ganz leichte epileptische Anfälle, bei denen eine leichte Übelkeit, ein Zucken in der Hand, ein Kribbeln im Arm oder auch nur eine kurze Abwesenheit auftritt. Es gibt deshalb sehr viele verschiedene Arten von Epilepsien. Hinzu kommt, dass etwa zwei Drittel der Betroffenen medikamentös so gut eingestellt werden können, dass sie ohne Anfälle leben können. Eine rasante Entwicklung mit Blick auf diese Erkrankungen hat sich in den vergangenen fünf bis zehn Jahren durch die Gentechnologie ergeben, da wir immer wieder unterschiedliche genetische Formen von Epilepsien entdecken und dadurch die Mechanismen der Krankheiten besser verstehen können. Bis zu etwa 40 Prozent der Epilepsien sind ja genetisch bedingt. Wir erkennen immer präziser, was eine bestimmte Genveränderung bewirkt und warum sie zu einer Epilepsie führt. Dadurch sind wir auch in der Lage, Therapien zu entwickeln. Am HIH haben wir bereits einige Beiträge dazu leisten können. Wir lernen also ständig Neues über diese Krankheit.
"Wir möchten am Hertie-Institut das Thema Gentherapie weiterentwickeln."
Sie forschen auch zu den so genannten Ionenkanälen, die Epilepsie, Migräne oder andere Anfalls-Erkrankungen verursachen können. Worum geht es dabei?
Ein Schwerpunkt der bekannten genetischen Veränderungen bei Epilepsien findet sich in Ionenkanalgenen. Durch die Erforschung dieser Ionenkanalveränderungen sind wir einen großen Schritt weitergekommen, um Therapiemöglichkeiten für diese Erkrankungen zu entwickeln. Ionenkanäle sind Proteine, ohne die unser Denken und Handeln nicht möglich wäre, genauso wie die Bewegungskoordination und die Weiterleitung von Reizen, wie Schmerzen. Sie sitzen in der Zellmembran und lassen selektiv bestimmte Ionen, wie Natrium oder Kalium, durch. Dadurch bilden sie die Grundlage für die Erregbarkeit von Nerven- und Muskelzellen. Die genetischen Mutationen führen typischerweise zu einer Funktionsänderung der Ionenkanäle, etwas vereinfacht entweder zu einer Über- oder Unterfunktion, die dann anfallsartige Erkrankungen auslösen. Diese Erkrankungen umfassen neben den Epilepsien auch bestimmte Formen der Migräne, anfallsartigen Schmerzsyndromen, erbliche Muskelerkrankungen oder Herzrhythmusstörungen, je nachdem welche Kanäle betroffen sind, ob solche des Gehirns, peripherer Nerven oder der Skelett- oder Herzmuskulatur.
Wie gehen Sie therapeutisch vor?
Es gibt bereits erfolgreiche Anti-Anfalls-Medikamente, die zur Behandlung von Ionenkanalerkrankungen eingesetzt werden können. Zum Beispiel können sogenannte Natriumkanalblocker passgenau eine Überfunktion dieser Kanäle reduzieren, und somit epileptische Anfälle, Schmerzen oder Muskelverkrampfungen verhindern. Sehr hilfreich bei den Ionenkanalerkrankungen ist dabei, dass man Wirkprinzipien von Medikamenten von einer auf die andere Erkrankung aufgrund der ähnlichen oder identischen Krankheitsmechanismen übertragen kann. Dann gibt es Medikamente, die eigentlich zur Therapie einer ganz anderen Erkrankung zugelassen sind, bei denen wir aber über den genetischen Krankheitsmechanismus herausgefunden haben, dass sie auch bei bestimmten Epilepsie-Formen oder anderen Ionenkanalerkrankungen wirksam sein sollten. Man spricht hier von dem sogenannten Drug-Repurposing: Ein Medikamentenwirkstoff, der bei einer ganz anderen Erkrankung eingesetzt wird, wird sozusagen zur Behandlung einer spezifischen genetischen Erkrankung umgewidmet. Am HIH arbeiten wir zurzeit an so einer Therapie: Eine Substanz, die bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) gegen chronische Gangstörungen wirkt, kann auch bei Kindern mit einer schweren genetisch bedingten Epilepsie vielversprechende Fortschritte bewirken. So können Drei- und Fünfjährige, die zuvor nur Einwortsätze sprechen und kaum laufen konnten, mit dem MS-Medikament Fünfwortsätze sprechen, deutlich stabiler laufen, und haben weniger oder gar keine Anfälle mehr.
Gibt es weitere neue Therapieansätze?
Ja, und nun wird es wirklich spannend, denn was noch viel spezifischer wirkt als Medikamente, ist die Gentherapie. Durch die Gentherapie sind wir in der Lage, die Gene, deren Veränderung eine Fehlfunktion in den Ionenkanälen bewirkt und somit eine Epilepsie bzw. die Anfälle auslöst, spezifisch zu regulieren. Man kann im einfachsten Fall defekte Gene teilweise abschalten oder man versucht ein Gen, das fehlt, zu ersetzen. Laborergebnisse sind bereits sehr vielversprechend, so dass zurzeit daran gearbeitet wird, solche Therapien auch am Menschen anzuwenden. Interessant und wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass solche Gentherapien auch bei nicht genetisch bedingten Formen von Epilepsie Anwendung finden, weil die Wirkprinzipien, nämlich eine Übererregbarkeit von Nervengewebe zu reduzieren, auch auf andere Formen von Epilepsie anwendbar sind. Was sich zudem für die etwas fernere Zukunft abzeichnet, ist die Möglichkeit, mit einer so genannten Genschere Mutationen in einem Gen direkt zu korrigieren. Davon sind wir aktuell noch weit entfernt, aber es ist ein sehr vielversprechender Ansatz.
Gehirn erforschen
Die Hertie-Stiftung stellt in ihrem Arbeitsgebiet „Gehirn erforschen“ die Funktionsweise des Gehirns und die Bekämpfung seiner Erkrankungen in den Mittelpunkt. Schwerpunkte bilden die Förderung klinischer Hirnforschung und Projekte im Bereich der Grundlagenforschung sowie die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Darüber hinaus unterstützen wir neurowissenschaftliche Initiativen für innovative Forschungs-, Bildungs- und Kommunikationsformate.
In wieweit haben die Fortschritte der Gentechnologie die Neurowissenschaft und Ihre Arbeit verändert?
Was sich dramatisch verbessert hat ist, dass wir nun erstmals die Möglichkeit haben, Gene überhaupt in das Nervensystem einzubringen. Man arbeitet hier mit kleinen DNA-Schnipseln, die so gestaltet sind, dass sie sich an bestimmt Stellen bei der Übersetzung des Erbguts anlagern, so dass ein fehlerhaftes Gen nicht abgelesen und der entsprechende Eiweißstoff nicht produziert wird. Das Medikament wird als Injektion in das Nervenwasser im Bereich der Lendenwirbelsäule eingebracht, über eine sogenannte Lubalpunktion. Bisher wird diese Therapie nur bei der Behandlung der Spinalen Muskelatrophie angewandt, aber erste klinische Studien zur Behandlung von Epilepsie sind in Vorbereitung. Letztendlich kann man sagen, dass durch die rasante Entwicklung der Gentechnik eine Revolution auf uns zukommt, was die Therapien angeht. Das ist eine ungeheure Chance für die Neurowissenschaften und natürlich für die Medizin insgesamt. Es wird zum Beispiel aktuell daran gearbeitet, Viren zu entwickeln, die in das gesamte Gehirn eindringen und dort Genveränderungen in den Nervenzellen durchführen können.
Erste Entwicklungen dazu gibt es bereits. Bei den häufigsten fokalen Epilepsien, die auch die meisten therapeutischen Probleme bereiten, oder anderen Erkrankungen, die an einer ganz bestimmten Stelle im Gehirn ihren Auslöser haben, kann auch durch lokale Gentherapie gezielt geholfen werden, indem nur an dieser Stelle das Nervengewebe weniger erregbar gemacht wird. So wie Medikamente es auch machen würden, nur dass Medikamente aufgrund ihrer Wirkung auf das ganze Gehirn häufig Nebenwirkungen verursachen. Die Gentherapie wirkt in diesem Fall also nur an der Stelle, an der es nötig ist. Hierzu gibt es bereits aussichtsreiche Ansätze, so dass bereits klinische Anwendungen und Studien vorbereitet werden. Wir sind mit unserer Abteilung auch dabei, gemeinsam mit Kooperationspartnern einen neuen Ansatz vorzubereiten, zunächst nur im Labor. Insgesamt möchten wir am HIH das Thema Gentherapie weiterentwickeln. Mehrere Arbeitsgruppen verfolgen bereits verschiedene Ansätze bei unterschiedlichen neurologischen Erkrankungen – zunächst meist seltenen Erbkrankheiten –, so dass wir die Gentherapie bei Gehirnerkrankungen im Allgemeinen wirklich voranbringen wollen.
Was fasziniert Sie persönlich so an dem Fachbereich Epileptologie und übergreifend an der Neurologie?
Was mich in meiner Arbeit immer wieder begeistert, ist die Möglichkeit, wirklich helfen zu können. Gerade wenn junge Patientinnen und Patienten kommen, die durch erste epileptische Anfälle zunächst schwer getroffen und verunsichert sind, und die wir dann mit bereits verfügbaren Medikamenten so gut therapieren können, dass diese jungen Menschen ein Leben ohne Anfälle führen können. Viele von ihnen gehen mittlerweile unbeschwert ihrer Arbeit und ihren Hobbies nach. Diese Erleichterung darüber, dass doch ein normales Leben möglich ist, berührt mich jedes Mal. Gerade in der Neurologie war es ja lange Zeit so, dass man nur ganz wenigen Patientinnen und Patienten helfen konnte. Aber wenn man dann über seine Forschung die Mechanismen einer Krankheit versteht, so dass man etwas Neues entwickeln und Menschen unterstützen kann, ist das faszinierend und auch beflügelnd für mich. Zudem kann ich meine Patientinnen und Patienten regelmäßig sehen und gleichzeitig Forschung betreiben, das macht meine Arbeit für mich so interessant. Möglich macht dieses Zusammenspiel genau das Model der unterschiedlichen neurologischen Schwerpunkt-Abteilungen am Hertie-Institut. Wenn ich allein eine Klinik leiten müsste, könnte ich nicht etwa 30 Prozent meiner Arbeitszeit in die Forschung investieren. Das ist am HIH schon ein Riesenvorteil.
INFO Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung.