Interview über die Initiative „Erstwahlprofis“, Oktober 2023
Die Erstwahlprofis sind Botschafter der Demokratie
Inken Gonzalez spricht in unserem Interview über die Initiative "Erstwahlprofis" - ein Demokratieprojekt des HAUS RISSEN in Hamburg. Das Projekt bildet junge Menschen als Wahlhelfer aus, fördert ihr Verständnis für Demokratie und stärkt ihre politische Teilhabe. Das Ziel des Projekts ist es, Berührungsängste mit dem Thema Wahlen abzubauen und die Repräsentation von jungen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in Wahlvorständen zu erhöhen. Inken Gonzalez erzählt, wie die MITWIRKEN-Projektförderung das Projekt vorangebracht hat und welche Ziele sie für die Zukunft haben. Ein bewegendes Beispiel aus dem Projekt zeigt, welch starken Wert die Demokratie für Menschen hat, die sie zuvor nicht erlebt haben.
Gute Demokratieprojekte sollen keine einmaligen Leuchtfeuer bleiben, sondern gesellschaftlich verankert werden. Deshalb unterstützt MITWIRKEN - das Hertie-Förderprogramm für gelebte Demokratie - derzeit 15 ausgewählte Projekte im Rahmen der MITWIRKEN-Projektentwicklung. Durch Coaching, Beratung, Vernetzung und finanzielle Förderung von bis zu 30.000 Euro bekommen die Projekte eine nachhaltige Starthilfe, um ihre Arbeit zu professionalisieren. Eines der Demokratieprojekte ist die Initiative „Erstwahlprofis“ des HAUS RISSEN in Hamburg. Wer die Erstwahlprofis sind, welche Pläne sie haben, und was die MITWIRKEN-Förderung bisher bewirkt hat, berichtet Projektreferentin Inken Gonzalez in unserem Interview.
Worum geht es bei den Erstwahlprofis?
In unserem Projekt geht es darum, dass wir junge und neu eingebürgerte Menschen für die Demokratie begeistern wollen. Das machen wir, indem wir sie zu Wahlhelferinnen und Wahlhelfern ausbilden. Konkret lernen die Teilnehmenden in einem Seminar durch ein Rollenspiel alles, was sie brauchen, um am Wahltag als Profis im Wahllokal auftreten zu können. Darüber hinaus werden sie dazu befähigt, ihre eigene Wahlentscheidung zu treffen, und sich in ihrem Familien- und Freundeskreis für die Demokratie stark zu machen. Die Erstwahlprofis sind also generell Botschafterinnen und Botschafter der Demokratie. Gerade in Zeiten politscher Polarisierung ist es wichtig, demokratische Werte zu vermitteln und dafür einzustehen.
Welches Ziel verfolgen Sie mit dem Projekt?
Wir möchten Berührungsängste mit dem Thema Wahlen abbauen, Demokratie näherbringen und dadurch die politische Teilhabe von jungen Menschen sowie von Menschen mit Migrationsgeschichte stärken. Durch den Einsatz am Wahltag als Wahlhelfende können sie konkret Verantwortung für die Demokratie und ihre Umsetzung vor Ort übernehmen. Damit sorgt das Projekt gleichzeitig dafür, dass nachhaltig für Nachwuchs in den Wahlvorständen gesorgt wird. Wir wissen aus den vergangenen Jahren, dass sich viele unserer Teilnehmenden auch in den darauffolgenden Jahren im Wahllokal engagiert haben.
"In unserem Projekt geht es darum, dass wir junge und neu eingebürgerte Menschen für die Demokratie begeistern wollen. Das machen wir, indem wir sie zu Wahlhelferinnen und Wahlhelfern ausbilden. "
Erstwahlprofi werden - wie muss man sich das in der Praxis vorstellen?
Die Teilnehmenden absolvieren ein Seminar, in dem zunächst konkretes Wissen zu dem Thema Wahlen vermittelt wird. Dafür haben wir im Rahmen der MITWIRKEN-Projektförderung aus unserem bisherigen Seminarkonzept einen Seminarbaukasten entwickelt, aus dem sich unsere Kooperationseinrichtungen vor Ort nach Bedarf verschiedene Einheiten zu demokratischen Grundlagen heraussuchen können. Das kann zum Beispiel zu der Frage „Wieso wählen gehen?“ sein. Oder zu: „Was hat die Europawahl mit meinem Leben zu tun?“ Wir wollen generell das Demokratiewissen stärken. Herzstück des Seminars ist aber ein Rollenspiel, in dem man von A bis Z lernt, wie ein Wahllokal geleitet wird, beziehungsweise wie man es mitleitet. Das geht vom Aufbau des Wahllokals bis zur Zählung der abgegebenen Stimmen. Es ist ein Learning by Doing. Wir haben selbst die Erfahrung gemacht und auch das Feedback von Teilnehmenden und Wahlvorständen bekommen, dass es einen Unterschied macht, ob man vor einer Wahl wirklich einmal komplett durchgespielt hat, wie so ein Wahltag abläuft. Im Rollenspiel nehmen alle die unterschiedlichsten Positionen ein, sei es als wählende Person oder als Wahlvorstand. Und wir üben die „Sonderfälle“, die am Wahltag auftreten können. Das macht den Teilnehmenden besonders Spaß, denn es geht ja darum, sie auf alle Eventualitäten vorzubereiten.
Hört sich interessant an, haben Sie Beispiele?
Der Klassiker ist, dass ein Elternteil mit einem Kind in die Wahlkabine gehen möchte, was aufgrund der Geheimhaltung nicht erlaubt ist. Damit müssen Wahlhelfende umgehen können und einen Kompromiss finden. Wir haben von einem Wahllokal schon einmal gehört, dass sie für Kinder eine eigene „Wahlecke“ aufgebaut haben, wo dann Ente, Elefant oder Maus gewählt wurde. Das kann man jetzt aber nicht erwarten. Uns geht es darum, dass die Teilnehmenden selbst eine Lösung für solche Fälle finden, deshalb intervenieren wir während des Rollenspiels nicht, sondern klären in der Nachbetrachtung, was gut gelaufen ist, und was beim nächsten Mal anders gemacht werden könnte. Andere „Sonderfälle“ wären beispielsweise: Was mache ich, wenn eine Person mit den Briefwahlunterlagen wählen gehen möchte? Oder wenn der Person die Wahlbenachrichtigung fehlt? Da gibt es unterschiedliche Szenerien, zu denen man genau wissen muss, was zu tun ist.
Warum sind die Erstwahlprofis Ihrer Ansicht nach für die Demokratie so wichtig?
Es ist immens wichtig, dass wir gerade junge Menschen, aber auch Menschen mit Migrationsgeschichte für die Demokratie begeistern, weil wir bei beiden Gruppen eine geringe Wahlbeteiligung haben und eine noch geringere Repräsentation im politischen System. Das kann Phänomene wie Politikverdrossenheit und Unmut mit den etablierten Parteien befördern.
Wir möchten solchen Trends entgegenwirken und junge sowie migrantische Menschen in ihrer Selbstwirksamkeit stärken. Durch ihren Einsatz im Wahllokal sehen und erleben sie direkt, dass sie einen Unterschied machen. Außerdem möchten wir für Nachwuchs in den Wahlvorständen sorgen. Wir haben eine alternde Gesellschaft, und auch die Wahlvorstände werden irgendwann einmal in Rente gehen. Deshalb brauchen wir weitere Wählerinnen und Wähler, die dieses Ehrenamt ausführen.
In wie vielen Bundesländern sind die Erstwahlprofis aktiv?
Uns gibt es derzeit in zehn Bundesländern. Dort sind wir gerade für die Europawahl aktiv, die im Juni 2024 stattfindet. Wir haben diesen Sommer damit angefangen, Kooperationseinrichtungen zu suchen, die das Projekt vor Ort durchführen möchten. Das HAUS RISSEN selbst hat 2017 damit angefangen, Erstwahlprofis in Hamburg und Schleswig-Holstein zu schulen und an Wahllokale zu vermitteln. Seit der Bundestagswahl 2021 führen wir das Projekt nun bundesweit in Zusammenarbeit mit lokalen Bildungseinrichtungen durch. 2022 waren wir mit diesem Konzept zu den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, NRW und Niedersachsen erneut aktiv, ebenso in diesem Jahr zur Berliner Wahlwiederholung. Insgesamt konnten wir bisher über 1.300 Erstwahlprofis erreichen. Zur Europawahl hoffen wir wieder auf ganz viele Teilnehmende. Im nächsten Jahr dürfen junge Deutsche erstmals ab 16 Jahren an der Europawahl teilnehmen.
"Durch die MITWIRKEN-Projektförderung sind wir gehalten, uns mit unseren Zielen zu beschäftigen, das ist wirklich sehr wertvoll. Dadurch, dass wir regelmäßige Update Calls mit dem MITWIRKEN-Team haben, merken wir auch selbst, wie viel wir eigentlich schon geschafft haben. "
Seit Januar 2023 nehmen die Erstwahlprofis an der MITWIRKEN-Projektentwicklung teil. Was hat sich bisher getan?
Wir freuen uns sehr, dass unser Projekt für die Förderung ausgewählt wurde. Im vergangenen Jahr hatten wir entschieden, dass wir 2023 vor allem für die Europawahl nutzen wollen, um unser Projekt strategisch weiterzuentwickeln. Da kam die MITWIRKEN-Projektförderung wirklich zum perfekten Zeitpunkt. Wir haben nun die Möglichkeit, unsere strategischen Ziele wirklich in den Fokus zu setzen. Durch das Coaching, das wir erhalten, entwickeln wir uns ständig weiter, vor allem in Richtung Organisationsentwicklung haben wir viel gemacht. Zum Beispiel konnten wir im Team die Zusammenarbeit noch weiter professionalisieren. Hinzu kommen die vielen Möglichkeiten der Fortbildung, aus denen wir auswählen dürfen. Durch eine Weiterbildung im Wirkungsmanagement konnten wir zum Beispiel wichtige Grundlagen für unsere weitere Evaluationen setzen. Was für uns außerdem sehr wertvoll ist, sind die Vernetzungsmöglichkeiten, die uns das MITWIRKEN-Team zur Verfügung stellt. Wir kommen jetzt regelmäßig mit ähnlichen Demokratieprojekten in den Austausch, können aber auch das große Netzwerk der Hertie-Stiftung nutzen. Dadurch, dass wir unsere Etappen-Ziele, die so genannten Meilensteine, innerhalb einer bestimmten Zeit umsetzen müssen, bleiben wir einfach am Ball. Es passiert ja sonst öfter mal, dass im Tagesgeschäft die strategischen Ziele untergehen. Durch die MITWIRKEN-Projektförderung sind wir gehalten, uns mit unseren Zielen zu beschäftigen, das ist wirklich sehr wertvoll. Und dadurch, dass wir regelmäßige Update Calls mit dem MITWIRKEN-Team haben, merken wir auch selbst, wie viel wir eigentlich schon geschafft haben.
Sind die Erstwahlprofis inzwischen auch sichtbarer geworden?
Ja, das kann man so sagen. Tatsächlich sind einige Einrichtungen auf uns zugekommen, die am Projekt teilnehmen wollen, weil sie durch MITWIRKEN auf uns aufmerksam geworden sind. Es ist toll zu sehen, dass wir jetzt auch noch bekannter werden.
Wofür nutzen Sie die finanzielle Unterstützung der MITWIRKEN-Projektförderung? Zum Start gibt es 10.000 Euro, dann für jeden der drei Meilensteine 5.000 Euro.
Generell ist die Finanzierung von Demokratieprojekten immer ein großes Thema, auch bei uns. Jede finanzielle Förderung hilft da schon einmal, auch die von MITWIRKEN. Neben unseren laufenden Projektkosten haben wir das Geld zum einen dafür genutzt, unser Seminarkonzept zu digitalisieren. Zum anderen nutzen wir einen Teil der Förderung für die Train-the-Trainer Seminare, die wir derzeit im HAUS RISSEN durchführen. Hinzu kommt das Fortbildungsbudget, das wir sonst nicht hätten. Jetzt sind wir angehalten, einen bestimmten Teil unserer Förderung für Fortbildung zu nutzen. Das ist tatsächlich sehr hilfreich.
Welche Ziele gibt es noch für das Projekt Erstwahlprofis?
Langfristig möchten wir Erstwahlprofis natürlich gern weiter bundesweit in der Bildungslandschaft verankern, also perspektivisch in allen Bundesländern aktiv sein. Konkret möchten wir in der nächsten Zeit aber erst einmal die Zielgruppe der neueingebürgerten Erstwählerinnen und Erstwähler noch besser erreichen. Dafür müssen wir inhaltlich und didaktisch an unserem Seminar-Konzept arbeiten. Denn konkret geht es darum, dass sich gerade Menschen mit Migrationsgeschichte seltener an den Wahlen beteiligen. Dem wollen wir entgegenwirken und versuchen, gegenüber den Themen Wahl und Demokratie Berührungsängste abzubauen. Viele Neueingebürgerte verbinden mit einer Wahl etwas Bürokratisches, da existieren eher Hemmungen. Oder es handelt sich um Menschen, die bisher nicht an demokratischen Wahlen teilnehmen konnten. Es ist auf jeden Fall eine sehr heterogene Gruppe. Aber unser Einsatz lohnt sich immer wieder
Woran merken Sie das?
Wir hatten im vergangenen Jahr eine neueingebürgerte Teilnehmerin aus Syrien, die sich ganz bewusst als Erstwahlhelferin engagieren wollte. „Weil ich jetzt in einem demokratischen Land lebe“, sagte sie. Die junge Frau durfte erstmals wählen und wollte alles hautnah miterleben. Es war sehr berührend zu sehen, welchen Wert die Demokratie gerade für diejenigen haben kann, die sie bisher nicht erleben durften. Für uns ist das ein Ansporn, mit unserem Projekt möglichst viele dieser Menschen zu erreichen.
INFO Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung