Interview mit Ahmad Mansour
Ich will Jugendliche dazu bewegen, ihre Meinung zu äußern.
Der Psychologe Ahmad Mansour (44) gehört seit Anfang des Jahres dem Kuratorium von Jugend debattiert an. Eine Herzensangelegenheit für den Berliner mit arabisch-israelischen Wurzeln, denn seit mehr als einem Jahrzehnt kämpft der mehrfach ausgezeichnete Islamismus-Experte gegen Extremismus und für mehr Mut zur eigenen Meinung. Regelmäßig klärt Mansour mit seinem Team in Schulen, Gefängnissen, aber auch an der Berliner Polizeiakademie über Antisemitismus und Radikalisierung in der muslimischen Community auf. Wie er die Debattenkultur erlebt, welche Pläne er bundesweit für die Polizei hat, und wie sich junge Menschen für das Debattieren begeistern lassen, erzählt Mansour in diesem Interview.
Sie gehören dem Kuratorium von Jugend debattiert an. Warum engagieren Sie sich insbesondere für das Thema Jugendliche + Debatte?
In meiner Projektarbeit mit jungen Menschen im Alter zwischen 13 und 29 Jahren und in meinen Beobachtungen der gesellschaftlichen Entwicklung habe ich gemerkt, dass das Demokratieverständnis unter Jugendlichen abgenommen hat. Ich bin häufig in Schulen vor Ort, treffe junge Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Die Bereitschaft, sich zu politischen Themen zu äußern und darüber zu diskutieren, ist kaum noch da – egal, um welches Thema es sich handelt, ob Islamismus, Antisemitismus, Integration oder Islamfeindlichkeit. Das hat mir große Sorgen gemacht. Ich bin überzeugt, dass eine der besten Lösungen, die wir in unseren Schulen neben verstärkter politischer Bildung brauchen, das Debattieren-Lernen ist. In jeder Schule und zu aktuellen Themen, die Jugendliche wirklich interessieren. Debattieren zu können ist eine Schlüsselkompetenz, die den Mut zur eigenen Meinung stärkt und somit das Verständnis für Demokratie und Mündigkeit. Deshalb engagiere ich mich für Jugend debattiert.
Wie erleben Sie außerhalb von Jugend debattiert die Debattenkultur unter jungen Menschen?
Ich erlebe, dass Jugendliche eigentlich sehr gern diskutieren, nur trauen sie sich oft nicht, ihre Meinung zu sagen, weil sie Abwertung, Mobbing und Konsequenzen fürchten. Eine eigene Meinung zu vertreten erfordert Mut, weil man die Reaktionen der anderen aushalten muss. Viele fürchten sich davor, oder es ist ihnen einfach zu anstrengend. Oft haben junge Leute auch gelernt, zu bestimmten Themen ihren Mund zu halten. Sie sagen nichts oder posten zum Beispiel in den sozialen Netzen ihre eigene Meinung nicht, weil sie meinen, es sei „nicht erlaubt“, sich kritisch äußern.
Haben Sie ein Beispiel für diese „Lieber-den-Mund-halten“-Einstellung?
Wenn ich in den östlichen Bundesländern an einem Gymnasium bin und über Antisemitismus spreche, dann setzt oft das große Schweigen ein. Ich erinnere mich an eine junge Frau, die einmal sagte: „Wir Deutschen werden erzogen zu schweigen.“ Das halte ich für falsch und gefährlich. Es gibt in dieser und auch vielen anderen Schülergruppen durchaus Meinungen zu Antisemitismus, nur fühlen sich die jungen Leute in Gesprächen nicht abgeholt. Oder Einzelne trauen sich wieder nicht, ihre wahre Meinung zu äußern. Hier ist es dringend notwendig, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und sie zu ermutigen, die eigene Meinung zu äußern. Wie sollen wir überhaupt eine Veränderung erreichen, wenn Jugendliche über ihre antisemitische Einstellungen schweigen? Nur so können wir das Phänomen des „Nicht reden Dürfens“, das in den östlichen Bundesländern noch sehr verbreitet ist, auflösen.
Das Gleiche gilt für den Umgang mit Autoritäten. Wer aus einem autoritären Regime kommt, wie ein Großteil der Geflüchteten, hat gelernt, vor allem zu politischen Themen lieber zu schweigen. Hinzu kommt, dass es viele Geflüchtete, vor allem Mädchen, aus ihrer Heimat oft gar nicht kennen, mit Männern oder älteren „Respektpersonen“ eine Diskussion oder sogar Debatte zu führen, die es ja erfordert, sich bewusst in die Gegenposition hineinzuversetzen. Dieses „gelernte Schweigen“ und die Autoritätenangst sind zwei Phänomene, die zwei sehr definierte Gruppen beschreiben, aber in der Mitte der Gesellschaft stattfinden. Meine Aufgabe ist es deshalb seit über zehn Jahren, Jugendliche dazu zu bewegen, ihre Meinung zu äußern. Das ist nicht immer einfach, vor allem nicht, wenn dir einer direkt ins Gesicht sagt: „Ich will mit Juden nichts zu tun haben“, wie es mir bereits passiert ist. Aber wenn ich mit Konsequenzen drohen würde, schweigen diese jungen Menschen wieder, und dann kommen wir keinen Schritt weiter.
Wie kommen Sie in Ihren Projekten vor Ort mit den Teilnehmern ins Gespräch?Indem mein Team und ich jede Meinung akzeptieren und niemanden für seine Worte verurteilen. Wir sprechen auf Augenhöhe mit den jungen Leuten. Meine Team-Mitglieder haben oft den gleichen Hintergrund wie die Zielgruppe. Sie sind türkisch, kurdisch oder in Kreuzberg aufgewachsen; eine Kollegin kommt aus Ägypten, ich selbst bin Palästinenser. Das schafft schon mal Vertrauen, wenn der Jugendliche merkt: „Der kennt meine Welt“. Dann arbeiten wir mit Rollenspielen und imitieren Situationen, die viele von Zuhause kennen. Zum Beispiel schreit ein sehr autoritärer Vater seinen Sohn an und beschimpft ihn als „Schande für die Familie“, vielleicht würde er ihn sogar schlagen. Oder eine 21-Jährige möchte von Zuhause ausziehen und gilt nun ebenfalls als „Schande“. Einige in der Gruppe finden das richtig, andere nicht - und so beginnt sofort eine Diskussion. Darin steckt jedes Mal ein riesiges Potenzial. Das erwacht aber nur, wenn wir mit den jungen Leuten über Themen reden, die sie wirklich beschäftigen. Ein respektvoller Austausch, bei dem es nicht darum geht, dass eine Seite gewinnt, sondern dass die Jugendlichen einander zuhören und sich dafür öffnen, die eigene Sicht der Dinge auch Mal in Frage zu stellen.
Sie sind auch Dozent an der Polizeiakademie in Berlin. Was thematisieren Sie dort?
Jeder zukünftige Polizist und jede zukünftige Polizistin in Berlin muss verpflichtend für eine Woche das Thema „Interkulturelle Kompetenz“ belegen, und meine Aufgabe ist es, die Menschen bei der Polizei mit meinen Kollegen zu den Themen Rassismus, Diskriminierung, Diversity und Identitäten zu sensibilisieren. Wir arbeiten viel mit Alltagssituationen, um die zukünftigen Polizisten und Polizistinnen auf eine Arbeit in einer so vielfältigen Stadt wie Berlin vorzubereiten.
Was erleben Sie während dieser Arbeit mit dem polizeilichen Nachwuchs?
Ich erlebe alles. Enttäuschung und Wut darüber, dass die Polizei in der Öffentlichkeit immer wieder als rassistisch dargestellt wird. Aber auch sehr viel Verantwortungsgefühl gegenüber der Aufgabe. Mir geht es erst einmal darum, Vertrauen aufzubauen und das Gefühl zu vermitteln, dass ich diese jungen Polizistinnen und Polizisten als Menschen gewinnen will. Wir spielen dann Situationen durch, wie man zum Beispiel damit umgeht, wenn ein Mann aus religiösen Gründen nicht von einer Polizistin kontrolliert werden möchte. Oder was ich als Polizist mit Migrationshintergrund tue, wenn ein Clan-Mitglied vor Kollegen zu mir sagt: „Bruder, wir kennen uns, mach jetzt mal was!“ Oder wenn ein Neonazi auf einer Demo nur mit einem „echten deutschen Polizisten“ sprechen will? Das geht manchen dieser jungen Polizeianwärter und -anwärterinnen sehr nah. Wir finden dann Strategien, um mit der Situation umzugehen.
Sie planen ein bundesweites Antisemitismus-Projekt mit der Polizei, das von der Hertie-Stiftung unterstützt wird. Was können Sie dazu verraten?
Wir wollen mit diesem Projekt alle Polizistinnen und Polizisten in Deutschland für das Thema Antisemitismus sensibilisieren. Von vielen jüdischen Menschen, die Opfer antisemitischer Straftaten geworden sind, bekommen wir zunehmend die Rückmeldung, dass sie sich von der Polizei nicht ernst genommen und verstanden fühlen. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass viele Menschen unter Antisemitismus die alten klassischen Nazibilder im Kopf haben. Aber heute ist Antisemitismus vielfältig: Es gibt muslimischen Antisemitismus oder Antisemitismus, der viel mit dem Nahost-Konflikt zu tun hat. Es gibt Verschwörungstheorien, die Juden als eine Übermacht sehen, die die Welt beherrschen will. Unsere Aufgabe ist es, der Polizei mit praxisorientierten Fällen und Beispielen aufzuzeigen, was Antisemitismus alles sein kann, damit ihn die Beamten und Beamtinnen in ihrem Alltag besser einordnen können. Wir sind bereits mit einigen Bundesländern und Polizeigewerkschaften in Kontakt, um unser Projekt umzusetzen.
Radikalisierung und Antisemitismus nehmen zu, Verschwörungstheoretiker verschaffen sich Gehör. Wie kann es uns als Gesellschaft gelingen, mit diesen Kräften umzugehen?
Das ist die allerwichtigste Frage. Ich glaube, wir können nur gesamtgesellschaftlich etwas dagegen tun. Zum Beispiel in den Schulen, die in ihrer Struktur in den 70er Jahren stecken geblieben sind. Corona hat gezeigt, wo die Schwierigkeiten liegen: bei der Digitalisierung. Aber politische Bildung und Wertevermittlung sind genauso wichtig. Zudem müssen wir Medienkompetenz vermitteln. Ich bin erschrocken, wie wenig die Jugendlichen darüber wissen, wie sie mit ihren Daten umgehen. Auch beim Umgang mit sozialen Medien haben wir Nachholbedarf. Sie sind rechtsfreie Räume geworden, und es kann nicht sein, dass eine demokratische Gesellschaft keine Antwort darauf hat. Jugendliche treffen sich heute nicht mehr im Jugendzentrum. Sie sind online, durchschnittlich vier Stunden pro Tag. Da muss auch Sozialarbeit stattfinden. Digitale Sozialarbeit.
Wie können Debatten dazu beitragen, das Urteilsvermögen einer Gesellschaft zu verbessern?
Indem die Debatten Themen anpacken, die die Menschen wirklich interessieren. Themen aus ihrer direkten Lebenswirklichkeit mit allen Sorgen, Ängsten und Wünschen. Wenn wir zudem eine Neugier für das Debattieren an sich schaffen und eine Atmosphäre, in der Menschen ihre Meinung sagen können, ohne ausgegrenzt zu werden, können wir unfassbar viel erreichen. Gerade mit Jugendlichen wird das Debattieren einfacher, wenn es um ihre Themen geht. So stärken wir ihre Toleranz gegenüber anderen Meinungen. Das ist ein Fundament, auf dem unsere Demokratie wachsen kann.
INFO Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung