Interview mit Martin Papke, August 2024
Die Jugend entscheidet bei uns bisher nicht – das muss sich ändern
Martin Papke, Oberbürgermeister von Weißenfels, will die politische Beteiligung der Jugend stärken und setzt dabei auf das Programm Jugend entscheidet. Weißenfels ist eine der zehn neuen Kommunen im Hertie-Programm, in denen Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren über konkrete lokalpolitische Themen mitentscheiden können. Der Bürgermeister sieht in der persönlichen Ansprache und im direkten Kontakt mit der Jugend den Schlüssel zu einer lebendigen, demokratischen und zukunftsorientierten Stadt.
Martin Papke (35) ist Oberbürgermeister von Weißenfels, einer 40.100-Einwohner-Stadt im schönen Burgenlandkreis von Sachsen-Anhalt. Das klingt idyllisch, doch gerade die Jugendlichen im Osten Deutschlands blicken eher düster in die Zukunft und setzen kaum noch Hoffnung in die Demokratie, was die Ergebnisse der zurückliegenden Europa- und Kommunalwahlen bestätigen. Martin Papke will das ändern und nimmt mit Weißenfels an dem aktuellen Hertie-Programm Jugend entscheidet teil, das in einem gut durchdachten Verfahren dabei unterstützt, Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren über ein konkretes lokalpolitisches Thema entscheiden zu lassen. Welche Herausforderungen und Chancen es in Weißenfels gibt, warum die Jugend dort bisher kaum eine Stimme hat – und wie der Bürgermeister die jungen Menschen erreichen will, lesen Sie in unserem Interview.
"Ich möchte, dass wir die Antworten auf die Fragen der Jugendlichen gemeinsam mit ihnen finden und nicht an dem Bedarf vorbei."
Was sind die wichtigsten Themen, mit denen Sie sich als Oberbürgermeister von Weißenfels derzeit beschäftigen?
Das Allerwichtigste ist für mich, in Weißenfels eine Gesellschaft mit einer Perspektive aufzubauen und eine bürgerliche Mitte zu schaffen. Nach der Wende kam es in Mitteldeutschland zu einem starken Weggang der jungen, arbeitenden Bevölkerung und das spüren wir jetzt. Uns fehlt die Lücke der 30er-, 40er-, 50er, die im Alltagsgeschehen auch das Prekariat auffangen, also Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen sehr früh abbrechen und nicht in den Erwerb kommen, sondern Transferleistungen beziehen. Zudem haben wir eine starke Zuwanderung von EU-Migranten, große Gruppen aus Rumänien und Bulgarien, die es der Stadtgesellschaft leider nicht immer leicht machen, weil sie ganz andere kulturelle Prägungen haben. Oft ist es eine Frage der Bildung, dass die Zuwanderer nicht wissen, was den Bürgerinnen und Bürgern in Weißenfels wichtig ist, dass man zum Beispiel nicht die ganze Nacht lautstark durchfeiert oder dass man eben seinen Müll trennt. Davon haben wir einfach zu viel, beziehungsweise wir haben zu wenig zivilgesellschaftliches Engagement, das da reingeht und sagt: „Nachbarschaft besteht auch im Voneinander-Lernen. Das muss das Ziel sein.“ Nur: Themen wie die Entwicklung der Innenstadt, zivilgesellschaftliche Nachbarschaftsideen oder die Frage, was es eigentlich heißt, in einer Gesellschaft zu arbeiten – dazu braucht man ein Milieu, eine Gruppe innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft, die das im Blick hat, die einen kulturellen Hunger hat, die gut gebildet ist und natürlich auch eine Einkommensstruktur hat, die sich im Kaufverhalten in der Stadt widerspiegelt. Strukturwandel ist also bei uns ein großes Thema. Wir wollen nun durch neue Bebauungsgebiete und den kostengünstigen Hausbau mit Lehm Familien aus den Oberzentren und aus der Metropole Leipzig ansprechen, beziehungsweise ansaugen wie mit einem Staubsauger.
Warum beteiligt sich Weißenfels an dem Programm Jugend entscheidet?
Weil die Jugend bei uns momentan überhaupt nicht entscheidet. Das Thema Jugendbeteiligung darf aber nicht nur ein Thema innerhalb von Wahlkämpfen sein, es muss in die Tat umgesetzt werden, und zwar mit den Jugendlichen gemeinsam. Jugendbeteiligung ist eine Frage der demokratischen Bildung: Wie kann ich mich selbst einbringen? Was ist meine Aufgabe in dieser Gesellschaft? Welche Optionen habe ich eigentlich? Diese Auseinandersetzung ist sehr verkümmert bei uns.
Es gibt bisher noch keine Jugendbeteiligung in Weißenfels?
Ganz wenig und auch nicht strategisch. Ich möchte, dass wir die Antworten auf die Fragen der Jugendlichen gemeinsam mit ihnen finden und nicht an dem Bedarf vorbei. Momentan entscheidet ein Großteil der Stadträte über große Projekte, aber wir vergessen dabei, dass wir auch Fragen in der Gesellschaft haben, die unter anderem auch Jugendliche betreffen. Dafür brauchen wir natürlich den Bedarf und den Stallgeruch der Jugendlichen. Wir müssen herausfinden, wie sie ticken. Deswegen ist es wichtig, zum Beispiel einen Jugendbeirat zu etablieren, auch wenn wir wissen, dass die jungen Leute nach drei, vier Jahren vielleicht gar nicht mehr da sind. Darauf müssen wir uns einstellen. Ich arbeite dazu mit dem Amt für Sozialraumentwicklung gerade Ideen aus. Es geht dabei um die Frage der Einsamkeit von alten, aber auch jungen Menschen. Ein wichtiges Thema in einer Stadt. Jugend entscheidet ist für mich ein guter Aufschlag, die Dinge zusammenzuführen.
Gibt es schon konkrete Projekte, die Sie mit Jugend entscheidet umsetzen möchten?
Ganz klar ist es der Jugendbeirat, aber die große demokratische Überschrift wäre „gemeinsam Orte schaffen“. Wo die sind, wie sie aussehen und welche Aufgabe die Jugendlichen haben, werden wir in diesem Prozess herausfinden.
Der Rechtsruck im Osten sorgt viele Menschen. Ihre Partei, die CDU, ist aus den Kommunalwahlen am 9. Juni 2024 als stärkste Kraft hervorgegangen, knapp gefolgt von der AfD. Was bedeutet das Ergebnis für Ihre politische Arbeit, gerade auch mit den jungen Menschen?
Wir wissen, dass von den Erstwählern in diesem Jahr ein großer Teil AfD gewählt hat, aber ich zähle jetzt nicht durch „jeder Dritte hat AfD gewählt“, wenn Menschen vor mir stehen. Ich bin immer der politischen Auffassung gewesen: „Gemeinsam machen ist Macht“. Gemeinsam machen hier vor Ort und miteinander reden, auch mit den Jugendlichen. Das hilft meiner Ansicht nach, eine Beziehung zur Politik und zu Personen aufzubauen. Deswegen müssen wir in den direkten Kontakt gehen und nicht über Zeitung oder Social Media kommunizieren. Es braucht die Persönlichkeit, wir dürfen uns als Gesellschaft nicht in eine Anonymität zurückziehen. Das ist die größte Herausforderung. Die AfD, die jetzt zwar theoretisch zehn Sitze im Stadtrat hätte, aber nur drei besetzen kann, spielt dabei für mich keine Rolle. Aber wir haben eine gesellschaftliche Diskussion, und da müssen wir dabei sein. Da müssen wir gute Antworten geben. Mit der AfD selbst beschäftige ich mich nicht, weil sie für mich sozusagen Teil des Stadtrates ist. Sie sind gewählt, damit sind sie Teil der ganzen Geschichte, aber eben auch nur ein Teil. Ich überhöhe das nicht. Ich grenze auch niemanden aus, weil Ausgrenzung nur dazu führt, dass man den anderen größer macht, als er ist.
"Weißenfels ist eine riesige Chance für Mitteldeutschland, weil bereits viel Gutes aus der Stadt heraus und in der Stadt passiert ist."
Nachdem es 2023 beim ersten Christopher Street Day des Burgenlandkreises zu Angriffen aus der rechten Szene gekommen war, wurde Weißenfels von der Tagesschau als „Nazi-Hochburg“ betitelt...
Ja, und dafür haben sich die ARD und der MDR auch bei mir entschuldigt. Dieses Thema hat sich erledigt, weil das völlig überzogen war, auch in der Berichterstattung. Alle, selbst die Chefredakteure, haben sich bei mir gemeldet. Der CSD war eine große Veranstaltung und eine Minderheit hat versucht, sie zu stören. Die waren noch nicht mal aus Weißenfels. Das können Sie in jeder beliebigen Stadt erleben. Deswegen wird daraus keine Hochburg. Ich habe dazu gleich Stellung bezogen. Für mich ist Weißenfels keine Nazi-Hochburg, fertig. Weißenfels ist wesentlich mehr, und wird auch nur mehr, wenn man die Unterschiedlichkeit und die Chancen erkennt, die diese Stadt hat. Ich zum Beispiel wollte immer Oberbürgermeister von Weißenfels werden, weil die Stadt noch lange nicht fertig ist. Hier sind so viele Dinge, die kreativ gelöst werden müssen, wo Platz ist für einen Aufbruch. Weißenfels ist eine riesige Chance für Mitteldeutschland, weil bereits viel Gutes aus der Stadt heraus und in der Stadt passiert ist. Und es werden noch mehr großartige Dinge passieren, wie zum Beispiel die Sanierung der Innenstadt und unseres Schlosses oder der Neubau einer Bibliothek. Das ist, glaube ich, die allerwichtigste Nachricht, die ich hier mitgeben kann.
Welche Strategien haben Sie, um die Jugendlichen in Weißenfels direkt zu erreichen?
Ich setzte auf den persönlichen Kontakt. Auf die jungen Menschen zugehen, sich für sie interessieren und nicht darauf warten, bis sie von selbst irgendwelche Angebote annehmen. Die Komm-Struktur war noch nie gut. Wir müssen in einer Dynamik bleiben, dass wir nicht einfach zentrale Dinge schaffen, sondern mit den Jugendlichen gemeinsam unterwegs sind. Wir wollen mit ihnen gemeinsam Angebote kreieren, die aus sich heraus entstehen. Da müssen wir hin, auch im Sinne der Demokratie: Die Jugendlichen wählen oftmals nach ihrer Gefühlslage, und das hat mit Personen zu tun, mit einer einfachen Sprache und mit einer Ehrlichkeit und Authentizität. Wir brauchen ehrliche Personen, die politisch, aber auch gesellschaftlich unterwegs sind. Wenn wir das nicht aufgeben, wenn wir da reingehen, dann wird das ein Erfolg sein für uns alle. Deswegen glaube ich auch, dass dieses Jahrhundert das Jahrhundert der Städte sein wird, weil sich Dinge ganz konkret vor Ort abspielen.
Sie haben im Rahmen der Jugend entscheidet-Auftaktveranstaltung einen offenen Brief an die Bundesregierung unterzeichnet, in dem Sie und neun weitere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister bessere Rahmenbedingungen für die Beteiligung der nächsten Generation an politischen Prozessen fordern. Wo sehen Sie die größten Hindernisse? Was kann dann die Bundesregierung tun?
Die kommunalen Finanzen sind das allergrößte Problem, aber das sieht die Bundesregierung natürlich anders. Im Moment ist es so, dass wir uns in Bezug auf die Fördermittel inhaltlich verbiegen, um der vorgegebenen Form gerecht zu werden - auch wenn das Ganze oftmals nicht mehr viel mit uns oder unseren Zielen und Wünschen zu tun hat. Wir schreiben dann auch den Antrag entsprechend, um auf diese Weise die finanziellen Mittel zu bekommen. Ich fände die Subsidiarität, also die größtmögliche Selbstbestimmung und Eigenverantwortung unserer Kommune, als Prinzip der Demokratie besser geeignet. Dass die Dinge von unten her gewürdigt werden, indem sie gut ausgestattet werden mit Investitionspauschalen, mit finanziellen Mitteln, die unterstreichen: „Ihr entscheidet bei euch vor Ort selbst und nicht die Förderrichtlinie.“ Das ist etwas, was bisher ein großes Problem darstellt. Subsidiarität muss also mehr in die Mitte, auch der finanziellen Ausrichtungen und Aussteuerung.
Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Kommunen sind immer wieder verbalen und sogar körperlichen Attacken ausgesetzt. Wie gehen Sie damit um?
Ich erlebe diese Dinge auch, aber es schreckt mich nicht ab. Mir war vor Amtsantritt völlig klar, dass so etwas passieren wird. Auch die Dimensionen waren mir klar, inklusive aller Schutzmaßnahmen, die man selbst veranlassen kann für sich und die Personenkreise, die einen umgeben. Man kann gewisse Dinge steuern, aber wer sich als Hahn aufs Kirchdach stellt, der muss damit rechnen, dass er von allen Seiten Wind bekommt. Dazu gehört leider, das muss ich so sagen, auch die Gewalt, die nicht weniger wird, sondern eher mehr in den nächsten Jahren. Wenn Ereignisse auf Bundesebene oder von globaler Bedeutung passieren, hat das auch ganz konkret Konsequenzen für einen Bürgermeister. Ich habe mich dafür entschieden, dass ich mich dieser Situation stelle, aber ich kann auch jeden verstehen, der das nicht aushält. Das ist sicher auch eine Frage des eigenen Mindsets. Außerdem habe ich einen Vorteil: Ich bin 2,03 Meter groß und recht stämmig. Ich stehe da, glaube ich, ganz gut. Da hilft die Körperlichkeit. Hass und Hetze auf Social Media erlebe ich natürlich auch, weil es ja schön bequem ist, von zu Hause vom Sofa aus den Bürgermeister zu beschimpfen oder irgendwelchen Mist zu schreiben. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, wenn ich versuche, diese Menschen einzuladen oder konkret anzusprechen, werden sie in vielen Fällen weich wie Butter. Denn oft handelt es sich um Menschen, die einsam sind und nie gelernt haben, die Schwere ihres Alltags zu kanalisieren.
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INFO Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung