Interview mit Prof. Matthias Endres
Hier kommt die Schlaganfall-Therapie ins Rollen.
"Patienten, die in einem STEMO versorgt werden, bekommen ihre Therapie 20 bis 30 Minuten früher als Patienten, die erst in einer Klinik behandelt werden."
„Time is Brain“ – „Zeit ist Hirn“, heißt es in der Notfallmedizin, denn nach einem Schlaganfall zählt jede Minute, um irreparable Hirnschäden zu vermeiden. In Berlin sind deshalb seit 2017 mittlerweile drei speziell ausgestattete Rettungsfahrzeuge - sogenannte Stroke-Einsatz-Mobile (STEMO) - im Regelbetrieb unterwegs, um Menschen bei Schlaganfall schneller therapieren zu können. Aber profitieren die Betroffenen wirklich von den rollenden Stroke-Units? Prof. Matthias Endres ist Direktor der Klinik für Neurologie und Experimentelle Neurologie an der Charité in Berlin und ein Standortsprecher des Hertie Network of Excellence in Clinical Neuroscience. Erstmals konnte der Neurowissenschaftler nun gemeinsam mit einem Forscherteam der Charité unter der Leitung von Prof. Heinrich Audebert in einer Studie zeigen, dass STEMO-Behandelte eine bessere Prognose haben: Sie überleben häufiger ohne bleibende Behinderung. In unserem Interview erläutert Prof. Endres, was das Besondere am STEMO ist, und für welche Region der Einsatz lohnt.
Was ist das Besondere an einem STROKE-Einsatzmobil (STEMO)?
Ein STEMO ist ein Rettungswagen, der so konzipiert und ausgestattet ist, dass im Falle eines Schlaganfalls sofort eine Therapieentscheidung für den Patienten getroffen und die Behandlung eingeleitet werden kann. Zusätzlich zu der klassischen Ausstattung eines Notarztwagens gibt es an Bord einen Computertomographen und ein Minilabor. Neben dem Fahrer bzw. Rettungsassistenten von der Feuerwehr gehören ein Notarzt, der zugleich Neurologe ist, sowie ein Röntgenassistent zur Besatzung. Wird bei einem Patienten zum Beispiel im STEMO diagnostiziert, dass ein verstopftes Blutgefäß den Schlaganfall ausgelöst hat, kann sofort mit der hocheffektiven Lysetherapie begonnen werden, um die Verstopfung aufzulösen. Aber auch andere Schlaganfallauslöser, wie die Hirnblutung, können bereits im Fahrzeug erkannt und für die Therapie in der Klinik vorbereitet werden. Weil die STEMO telemedizinisch mit den radiologischen Abteilungen der beteiligten Kliniken verbunden sind, werden die Befunddaten aus dem Wagen noch vor Eintreffen des Patienten übertragen. Man kann sagen: Patienten, die in einem STEMO versorgt werden, bekommen ihre Therapie 20 bis 30 Minuten früher als Patienten, die erst in einer Klinik behandelt werden.
Es heißt immer „Zeit ist Hirn“ - warum ist eine zügige Schlaganfall-Versorgung so wichtig?
Ein Schlaganfall ist ein plötzliches neurologisches Defizit, ausgelöst durch eine Gefäßerkrankung des Gehirns. Meistens liegt hierbei eine Durchblutungsstörung vor. Das heißt, ein Gefäß ist verschlossen, und das Gehirngewebe wird durch Minderdurchblutung geschädigt. Unbehandelt sterben dabei etwa zwei Millionen Nervenzellen pro Minute ab, so dass das Hirn großen Schaden nimmt. Deshalb ist eine schnelle Behandlung so wichtig, um Behinderungen und natürlich auch Todesfälle zu verhindern. Die Lysetherapie oder auch Thrombolyse, mit der wir die gefäßverstopfenden Blutgerinnsel medikamentös auflösen können, ist die entsprechende Therapie, die wir im Wagen anbieten.
Was ist in dem Wagen noch möglich?
Patienten, die ein sehr großes Gerinnsel haben, das sich durch Medikamente nicht auflösen lässt, werden auf eine Katheter-Therapie vorbereitet und mit entsprechender Voranmeldung direkt zu einer Klinik mit Katheter-Labor gefahren. Hat ein Patient eine Hirnblutung, wird er direkt in eine Klinik gebracht, die einen Neurochirurgen im Einsatz hat.
Sie haben Anfang des Jahres eine Studie publiziert, die zeigt, welche Auswirkung der Einsatz der STEMO auf das Behandlungsergebnis für die Patienten hat. Was haben Sie genau herausgefunden?
Man sollte kurz vorab erläutern: Wir hatten bereits eine Vorläufer-Studie durchgeführt, in der wir zeigen konnten, dass durch den Einsatz einer Stroke-Mobile-Unit eine Behandlung 25 bis 30 Minuten schneller beginnen kann. Der Anteil der Patienten, die innerhalb der ersten Stunde nach der Schlaganfall-Diagnose eine Lysetherapie bekommen konnten, hatte sich verzehnfacht. Was wir nicht beantworten konnten, war die Frage, ob sich auch das Behandlungsergebnis der Patienten verändert hat. Wie geht es den Betroffenen nach drei Monaten? Liegen keine oder leichte Behinderungen vor, oder lebt der Patient vielleicht gar nicht mehr? Unser Problem war, dass wir studientechnisch zwar die im STEMO behandelten Patienten verfolgen konnten, aber keine ausreichend evaluierbare Kontrollgruppe hatten.
Wie haben Sie das Problem gelöst?
Die große Herausforderung für unsere Studie war, unter Wahrung der deutschen Datenschutzvorgaben ein Studiensetting zu schaffen, das uns erlaubt, Schlaganfallpatienten nachzuverfolgen, und zwar aus den Behandlungskrankenhäusern heraus. Wir haben daher über die gesamte Studiendauer flächendeckend in Berlin alle akuten Schlaganfallpatienten nach entsprechend ausführlichen Informationen nach dem Opt-out-Verfahren, also unter Beachtung von entsprechenden Widersprüchen, angerufen, um das Behandlungsergebnis abzufragen. Bei nur sechs Prozent Opt-out-Anteil in beiden Gruppen konnten wir beide Gruppen aussagekräftig miteinander vergleichen.
Und was kam dabei heraus?
Das Behandlungsergebnis der STEMO-Patienten war grundsätzlich besser: Der Anteil der Patientinnen und Patienten, die ihren Schlaganfall ohne Behinderung überlebten, konnte von 42 auf 51 Prozent gesteigert werden. Rückte ein STEMO aus, verstarben rund 7 Prozent der Patienten, bei konventioneller Rettungsdienstversorgung waren es rund 9 Prozent. Das ist ein Ergebnis, mit dem wir sehr zufrieden sind. Es deckt sich zudem mit einer ähnlich konzipierten Studie aus Nordamerika, die gerade publiziert wurde.
Wer entscheidet, ob ein STEMO zum Einsatz kommt?
Wer die 112 wählt, landet in Berlin in der Leitstelle der Feuerwehr. Der Disponent verfügt in seinem Computer über einen Entscheidungsalgorithmus, mit dem anhand der Symptome ein akuter Schlaganfall identifiziert werden kann. Betroffene oder ihre Angehörigen sprechen am Telefon manchmal schon von einem Schlaganfall oder nennen die typischen Symptome wie Lähmungen, Schwindel, Kribbeln oder Taubheit. Wenn das alles binnen der letzten vier Stunden passiert ist, wird ein STEMO eingesetzt.
Im Schnitt hat ein STEMO in Berlin sieben Einsätze pro Tag, allerdings sind davon nur die Hälfte Schlaganfallpatienten. Liegt es am Algorithmus?
Es wäre illusorisch sich vorzustellen, dass man bei 100 Prozent landet. Der Schlaganfall ist zwar eine klinische Diagnose, aber am Telefon nicht immer leicht festzustellen. Man will ja auch keinen Schlaganfallpatienten verpassen, nur weil es eventuell eine Unsicherheit gibt. Die „Trefferquote“ für den in Berlin entwickelten Algorithmus liegt bei 59 Prozent, das ist eine gute Quote. Allerdings sind in dem computerbasierten Algorithmus keine Einzelheiten umgesetzt, und es kommt natürlich auch immer auf die Aufmerksamkeit der Disponenten für mögliche neurologische Symptome an. Aus meiner Sicht profitieren aber auch die anderen Patienten von der Versorgung durch STEMO. Viele haben eine andere neurologische Erkrankung, z.B. einen epileptischen Anfall oder eine Gefäßerkrankung wie einen Herzinfarkt. Insofern sind das jetzt keine Patienten, die fehlversorgt sind. Aber es bleibt trotzdem eine kritische Herausforderung im Betrieb stets sicher zu stellen, dass die STEMO zu den richtigen Patienten geschickt werden.
Wie teuer ist ein STEMO in Anschaffung und Betrieb?
Die Anschaffungskosten liegen bei 1,1 Millionen Euro pro Wagen, der jährliche Betrieb kostet alles inklusive etwa 1 Million Euro. Die gesundheitsökonomische Evaluation ist noch in Arbeit. Es zeichnet sich aber ab, dass der Einsatz der STEMO aus Kostensicht gerechtfertigt ist, zumal der medizinische Vorteil für die Bevölkerung in unserer Studie klar belegt werden konnte.
Für wen lohnt sich ein STEMO - eher für die Großstadt oder das platte Land?
Es ist nicht das Fahrzeug, das die Lösung schafft, sondern ein Konzept, das ein solches Fahrzeug so einsetzen lässt, dass eine deutliche Verbesserung zur Regelversorgung entsteht. Man muss sagen, dass das STEMO für Metropolregionen wie Berlin gut geeignet ist, aber auch für Regionen wie das dicht besiedelte Ruhrgebiet von Vorteil wäre. Ein STEMO rechnet sich nur, wenn es mindestens vier bis 5 Einsätze am Tag hat, und nicht zu lange Anfahrtswege. Für struktur- und bevölkerungsarme Flächenländer passt es somit eher nicht, da entweder die Einsatzzahlen zu gering oder die Anfahrtszeiten zu lang wären. Hier arbeiten wir an anderen Lösungen. Auch in Metropolregionen von Schwellenländern, in denen die übliche Versorgung schlecht ist, wäre der Einsatz der STEMO aus unserer Sicht von großem Vorteil.
Zum Abschluss Themenwechsel: Sie sind Standortsprecher des Hertie Exzellenz-Netzwerkes für klinische Neurowissenschaften – wie erleben Sie die Zusammenarbeit?
Im Hertie-Netzwerk geht es ja darum, den Austausch zwischen Grundlagenforschung und klinischer Forschung zu fördern, sowie den medizinischen Nachwuchs aus diesen beiden Welten zu unterstützen. In Berlin sind wir mit einem breiten Konzept in das Netzwerk eingetreten, haben uns mit vier Bereichen positioniert, darunter auch mit dem Schlaganfall. Ich kann nur sagen, dass wir von dem Netzwerk und der Zusammenarbeit mit den anderen Standorten sehr begeistert sind, alles entwickelt sich sehr gut. Im November findet in Berlin ein Netzwerktreffen statt, dort werden wir auch die Ergebnisse unserer STEMO-Studie vorstellen und diskutieren. Wir freuen uns sehr darauf.
INFO Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung