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Interview mit Andreas Bauer, Mai 2024

Meine Schülerinnen bremsen mit Künstlicher Intelligenz die Multiple Sklerose aus

Anlässlich des Welt-MS-Tags spricht Lehrer Andreas Bauer über ein Projekt seiner Schülerinnen Lotte Luise Goldenstein und Finja Harms, die ein Bremssystem für Rollstühle entwickelt haben. Damit wollen sie Menschen mit Multipler Sklerose den Alltag erleichtern.
Gehirn erforschen

Quick Read: Worum es geht

Gymnasiallehrer  Andreas Bauer aus Papenburg berichtet von seinen Schülerinnen Lotte Luise Goldenstein und Finja Harms, die  den "Smart Wheel" entwickelt haben. Dabei handelt es sich um  einen Rollstuhl mit einem besonderen Bremssystem, das auf das auf Künstlicher Intelligenz basiert. Damit soll Menschen mit Multiple Sklerose  der Alltag erleichtert werden.  Das Projekt wurde von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung im Rahmen der Initative mitMiSsion mit  5.600 Euro gefördert. 

Für Menschen mit Multipler Sklerose (MS), die auf den Rollstuhl angewiesen sind, ist es nicht immer leicht, mit dem Gefährt zurechtzukommen. Lotte Luise Goldenstein (17) und Finja Harms (18) vom Gymnasium Papenburg (Niedersachsen) haben nun speziell für diese Menschen ein Bremssystem entwickelt, das auf Künstlicher Intelligenz basiert – und sich prompt für den aktuellen Bundeswettbewerb von „Jugend forscht“ qualifiziert. Von Beginn an begleitet wurden die beiden Tüftlerinnen von ihrem Lehrer Andreas Bauer (53), für den es bereits das zweite MS-Projekt ist, das er an seiner Schule umsetzt. Wie es zu der Idee kam, was die Hertie-Stiftung damit zu tun hat, und warum es Andreas Bauer in MS-Mission sogar nach Japan verschlug, lesen Sie in diesem Interview.    

„Die Idee ist durch eine Kollegin  entstanden, die Multiple Sklerose  hat und auf den Rollstuhl angewiesen ist.“

Mit „Smart Wheel“ haben Ihre Schülerinnen ein Bremssystem für Rollstühle entwickelt, das Menschen mit Multipler Sklerose den Alltag erleichtern soll. Wie kam es zu der Idee?

Die Idee ist durch eine Kollegin von mir entstanden, die Multiple Sklerose in ausgeprägter Form hat und auf den Rollstuhl angewiesen ist. Lottes und Finjas Beobachtung war, dass es ihrer Lehrerin an manchen Tagen schwerfällt, die Bremsen zu lösen. MS ist ja sehr tagesformabhängig. Das hat zu der Idee geführt, das Lösen und Anziehen der Bremsen zu erleichtern, gleichwohl aber die eigene aktive Bewegung nicht zu sehr einzuschränken. Der Rollstuhl sollte also wie üblich genutzt werden, um in Bewegung zu bleiben und nicht auf einen Elektrorollstuhl umzusteigen, der einem viel aktive Bewegung abnimmt. Das war der Auslöser.     

Und wie muss man sich die Umsetzung praktisch vorstellen?

Ein Sensor erkennt, dass die Räder des Rollstuhls stehen, und stellt die Bremsen fest. Mit einer bestimmten Körperbewegung lassen sie sich wieder lösen. Das war zunächst gar nicht so einfach für die Schülerinnen, denn das Problem ist ja nicht das Anhalten, sondern das Wiederlösen und Anfahren. Ein Beispiel: Möchte die Person, die im Rollstuhl sitzt, wirklich losfahren oder beugt sie sich nur vor, um etwas zu trinken? An dieser Herausforderung haben Lotte und Finja immer weitergearbeitet: Sie haben die Sitzfläche und die Rückenfläche mit Sensoren ausgestattet, Bewegungsmuster erfasst und dann sogenannte Decision-Modelle, also Entscheidungsmodelle, entwickelt, die auf einem KI-Chip verarbeitet werden. Auf Basis der erlernten Bewegungsmuster deutet dieser dann die Bewegung und entscheidet, um welche Bewegung es sich genau handelt. Gleichzeitig lernt der KI-Chip die individuellen MS-Symptome der Person, weil sich diese kontinuierlich verschlechtern können. Er passt sich in seinen Entscheidungen automatisch daran an.

In welchem Unterrichtsfach haben Sie dieses Projekt mit Ihren Schülerinnen entwickelt?

Es handelt sich um ein außerunterrichtliches Projekt. Ich habe vor Jahren mit einem Kollegen eine Begabtenförderung, den GymPap ScienceClub, auf die Beine gestellt, weil wir uns gedacht haben, dass ein weiteres Angebot, das überdurchschnittlich kluge Schülerinnen und Schüler fördert und herausfordert, an unserer Schule gut wäre. Wir haben uns viel im Bereich Biologie bewegt, Geografie, Chemie und ein bisschen Informatik. Die Schülerinnen und Schüler, von denen wir glauben, dass sie Lust auf solche Projekte haben, haben wir direkt angesprochen. Das hat sich in der Schülerschaft herumgesprochen. Finja und Lotte hatten mich schon vor einiger Zeit gefragt, ob sie nicht ein Projekt mit mir zusammen machen könnten. Na ja, man braucht ja auch eine zündende Idee - und die lag dann plötzlich auf dem Tisch. Das Thema hat die beiden dann so angesprochen, dass es kurzfristig losging. Seitdem sind sie unfassbar engagiert.

Wie sind die Schülerinnen dann direkt vorgegangen? Haben sie zuhause getüftelt oder in der Schule?

Wir nutzen die Schule vor allem als Kommunikationsraum, treffen uns dort, um den Projektstand zu erörtern, zu reflektieren. Anschließend entwickeln die beiden dann etwas und erproben es. Ich kann mittlerweile inhaltlich da gar nichts mehr zu sagen, weil das so abgefahren ist, was die beiden machen. Ich kann nur noch fragen: Wo sind die Probleme und wie können wir sie überwinden? Ich schaffe also eher den organisatorischen Rahmen. Wir haben einen kleinen KI-Computer angeschafft, Sensoren und Motoren und alles, was wir so brauchen, und was zwischendurch mal kaputt geht im Eifer des Gefechts. Aber am Ende ist es so, dass Lotte und Finja mir dann sagen, was sie benötigen, und ich habe zugesehen, dass wir es besorgen können. Da kommt dann auch die Gemeinnützige Hertie-Stiftung ins Spiel, die das Ganze durch ihre Projektförderung eigentlich erst möglich macht. Zumindest auf dem Niveau, auf dem wir uns jetzt befinden. Auf einfachem Niveau wäre man möglicherweise noch mit Bordmitteln ausgekommen, aber das haben wir schon lange hinter uns gelassen. Wir freuen uns also sehr, dass die Hertie-Stiftung uns mit einer Förderung von 5.600 Euro unterstützt.

"Wir haben durchaus mehr zu leisten im Sinne einer humanitären und sozialen Schule, also auch Verantwortung zu übernehmen für andere."

Wie bekommen Lotte und Finja die Rückmeldung von Menschen mit MS, um „Smart Wheel“ zu perfektionieren?  

Die an MS erkrankte Lehrerin unterrichtet an unserer Schule, da sind die Wege kurz, und es gibt hier eine Behinderten-Sport-Gemeinschaft im Landkreis Emsland. Die treffen sich einmal im Monat in einer Turnhalle vor Ort, da sind mehrere MS-Patienten mit Rollstuhl dabei. Irgendwann ist man in dieser Community ohnehin so ein bisschen drin und hat dann auch keine Schwierigkeiten mehr, Menschen zu finden, die das Projekt unterstützen und sagen: „Probiert das mal mit mir aus“.

„Smart Wheel“ ist nicht das erste Projekt, das Sie mit der Begabtenförderung zum Thema MS angestoßen haben – Ihre Schüler konnten sogar Erfolge in Japan feiern…

Ja, da hat sich inzwischen ein Schwerpunkt entwickelt. Unser erstes Projekt mit MS aus dem Jahr 2018 hat hinterfragt, ob man über die Erfassung von Symptomen auf die Wirksamkeit von Medikamenten schließen kann, denn die meisten Medikamente bei MS sind ja auf die Symptome ausgelegt. Lilian Rieke und Tim Depping, damals Schüler unseres Gymnasiums, haben eine entsprechende Smartphone-App entwickelt. Es war interessant, über Bewegungssensoren das Gangbild zu erfassen und auch gefühlte oder selbst eingeschätzte Symptomatiken per Fragebogen zu erheben. Als wir das Ganze als App aufsetzen wollten, war uns schnell klar, dass wir Geld brauchen würden, um das nötige Computer-Equipment anzuschaffen. Auch damals hat uns die Hertie-Stiftung im Rahmen der Projektförderung mitMiSsion finanziell unterstützt. Aber nicht nur das: Unsere Schüler haben von der Hertie-Stiftung auch sehr viel Wertschätzung für ihr Engagement für Menschen mit MS erfahren, nach dem Motto: „Es geht nicht nur um die große Forschung im Kampf gegen MS, sondern es ist gut und wichtig, was auch ihr als Schüler leistet.“ Lilian und Tim schafften es dann mit ihrer Idee bis zum Bundeswettbewerb von „Jugend forscht“, sind dort aber nicht mehr ausgezeichnet worden. Das war dennoch eine unfassbare Erfahrung für die beiden. Als wir wieder nachhause an die Schule kamen, gab es dann noch eine Überraschung: Unser Gymnasium ist Mitglied im MINT-EC, dem Excellence-Schulnetzwerk, und die haben gefragt, ob die beiden Lust hätten, an einem Wettbewerb in Japan teilzunehmen. Das war so etwas Ähnliches wie „Jugend forscht“, nur dass in Japan alle Projekte zur gleichen Zeit an einem Ort präsentiert werden. Es war eine Veranstaltung mit 4000 Schülerinnen und Schülern und Hunderten von Lehrkräften. Die ausländischen Projekte konnten mit einem Publikumspreis ausgezeichnet werden, und das haben Lilian und Tim tatsächlich geschafft. Es war sehr schön zu sehen, wie die beiden sich entwickelt haben im Laufe dieser Wettbewerbe, und wie sie ihr Projekt am Ende mit breiter Brust vor japanischem Publikum frei auf Englisch vorgestellt haben. Tim hat dann seine beruflichen Pläne geändert und angefangen, Informatik zu studieren, er ist jetzt im Bereich E-Health weiter tätig. Das alles hat mir große Freude bereitet und strahlt zurück in meinen Schulalltag. Ich habe mittlerweile ein großes Vertrauen in Schülerleistungen gewonnen.

mitMiSsion

Im Rahmen der  Initiative mitMiSsion fördert die   Gemeinnützige Hertie-Stiftung  jährlich   die Entwicklung und Realisierung   sozialer Projekte im  Bereich der Erkrankung Multiple Sklerose.  Es werden insgesamt bis zu   550.000 Euro  für die Gestaltung und Umsetzung zukünftiger Vorhaben zur Verfügung gestellt.   Multiple Sklerose (MS) ist eine   autoimmune, chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Multiple Sklerose  ist die häufigste neurologische Erkrankung im jungen Erwachsenenalter. Allein in Deutschland leben mehr als 250.000 Menschen mit MS.

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Lotte und Finja haben sich aktuell für den Bundeswettbewerb von „Jugend forscht“ qualifiziert. Was treibt die beiden Ihrer Meinung nach an, sich für das MS-Projekt zu engagieren?

Sie sind einfach klug, fleißig und auch so erzogen, dass sie sich für andere engagieren, jetzt vor dem Bundeswettbewerb sind sie natürlich auch etwas aufgeregt. Aber sie haben Interesse und sind motiviert, das war schon immer so. Die beiden wollen was, können was und sind frustrationstolerant. Wenn mal etwas schiefgeht, ist das keine Katastrophe, sondern ein Anlass, es zu überwinden. Lotte sagt zum Beispiel immer:  "Es gab viele Rückschläge, aber davon haben wir uns nicht unterkriegen lassen. Die Motivation für dieses Projekt und das Ziel sind uns einfach sehr wichtig". Und als ich Finja nach ihren Erfahrungen fragte, sagte sie: „Es war zwar eine sehr stressige Zeit, in der wir immer mindestens drei Dinge gleichzeitig erledigt haben, aber wir haben viel gelernt, neue Menschen kennengelernt und auch Erfolg gehabt.”

Was macht es mit Ihnen als Lehrer, dass Ihre Schülerinnen mit ihrem MS-Projekt so erfolgreich sind?

Ich finde es einfach toll, was Lotte und Finja können und erreichen. Am Gymnasium steht ja häufig das Unterrichtsfach im Vordergrund, aber wir haben durchaus mehr zu leisten im Sinne einer humanitären und sozialen Schule, also auch Verantwortung zu übernehmen für andere. Wenn unsere talentierten Schülerinnen und Schüler nicht wären, wer übernimmt später im Berufsleben mal Verantwortung für sich und für andere? Gleichzeitig macht es mir viel Spaß, die beiden begleiten zu dürfen. Was mich so sehr motiviert, ist dieses nahe Dransein an Bildungswegen. Das ist oft eher abstrakt in meinem Beruf: Man gibt eine Klassenarbeit zurück, man gibt eine Zeugnisnote und dann sind die nach dem Abitur weg, gehen ihre Ausbildungs- und Studienwege. Hier ist das anders: Ich stehe quasi unmittelbar daneben, wenn Schülerinnen ihre Kompetenzen erwerben und auch abrufen können und zeigen, was sie können. Außerdem lerne ich immer wieder sehr engagierte Menschen kennen, entweder über die Projekte selbst, aber auch über die Gemeinnützige Hertie-Stiftung. Das nehme ich als sehr kreativ, interessant und für mich weiterführend wahr. Es gibt in Papenburg eine Interessengemeinschaft für Menschen mit Behinderungen, die sich im Nachgang zum niedersächsischen Landeswettbewerb „Jugend forscht“ mit einem Buchgutschein bei Lotte und Finja für ihr Engagement bedankt haben. Die beiden sind geplatzt vor Stolz. Und ich stehe daneben, schaue die beiden an - und bin es für sie auch.

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INFO  Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung im Mai 2024  

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