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Andreas Schleicher, Foto: Gemeinnützige Hertie-Stiftung/Mike Auerbach
Interview mit Andreas Schleicher

Die beste Bildung ist, wenn sie ein Projekt der Gesellschaft ist, wenn alle beteiligt sind

Im Gespräch mit Andreas Schleicher, Direktor des Direktorats für Bildung der OECD und Mitglied der Hertie-Kommission Demokratie und Bildung.
Demokratie stärken

Unsere Demokratie ist in Bedrängnis. Gezielte Desinformationen sowie eine Vertrauenskrise zwischen Staat und Bürgern gefährden den Zusammenhalt. Umso wichtiger ist es, bereits Kindern und Jugendlichen Kompetenzen zu vermitteln, die für eine pluralistische, offene Gesellschaft entscheidend sind. Wie können also schulische Angebote zur Stärkung der Demokratie beitragen? Vor diesem Hintergrund wurde die Hertie-Kommission Demokratie und Bildung ins Leben gerufen, die bis Anfang 2023 konkret umsetzbare Reformen anregen wird. Zu ihren Mitgliedern gehört auch Andreas Schleicher (58), Direktor des Direktorats für Bildung der OECD, der vor 27 Jahren die PISA-Studie konzipierte und seit 2002 verantwortet. Welche Reformen unsere Schulen nötig hätten, was wir von anderen Ländern lernen können und warum es kein Schulfach „Demokratie“ braucht, erzählt der Bildungsforscher in unserem Interview. 

Ist Schule nicht zwangsläufig ein undemokratischer Raum - eine Lehrkraft muss ja nun mal Entscheidungen fällen, benoten, auch mal sanktionieren. Frage also: Wieviel Demokratie verträgt die Schule?

Entscheidungen zu fällen, ist ja gerade die Hauptaufgabe von Demokratie. Es geht schließlich nicht darum, dass jeder machen kann, was er will, sondern dass man sich in der Schule auf gute Verfahren einigt. Der Lehrer steht vorn, aber es gehört dazu, dass man auch Autorität akzeptiert. Eine gute Lehrkraft wird schon darauf achten, dass die Schülerinnen und Schüler bei der Gestaltung von Unterrichtskonzepten mitreden können. Das schließt sich in meinen Augen absolut nicht aus. Wichtig ist, dass wir die Schüler nicht nur zu passiven Konsumenten von vorgefertigten Lerneinheiten machen, dann bereiten wir sie nicht auf ihre Zukunft vor. 

Welche Rolle spielt die Demokratie als Schul- und Bildungsthema zurzeit?

Eine sehr bedeutsame Rolle. Die Technologie macht es uns heutzutage immer schwerer, uns mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. Bei Facebook oder anderen Social Media-Plattformen bekommen wir jede Meinung bestätigt. Wir sprechen meistens mit Menschen, die so denken und so aussehen wie wir, und es wird immer schwerer, die Vielfalt der Standpunkte zu sehen, und darauf einzugehen. Schule ist der ideale Raum - und für viele Kinder und Jugendliche vielleicht sogar der einzige soziale Raum - in dem sie sich direkt mit anderen Menschen auseinandersetzen müssen. So entsteht dort die Chance, demokratisches Verhalten aktiv lernen zu können, und sich auf die Gesellschaft vorzubereiten. 

Worauf kommt es dabei an? 

Letztendlich geht es nicht darum, Mathematik oder Geschichte zu pauken, sondern um Fragen wie: Kann ich mit mir selbst leben? Kann ich mit anderen Menschen leben? Kann ich mit dem Planeten leben? Das sind die großen Herausforderungen heute, und darauf muss Schule eingehen und vorbereiten. Vor allem, um der zunehmenden Polarisierung in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Jeder glaubt, was er sagt, sei die einzige Wahrheit, die ja schließlich im Internet bestätigt wird. Es gibt kaum noch Bereitschaft, auf andere Meinungen einzugehen. Schule kann dafür sorgen, dass die jungen Menschen lernen, zwischen Fakten und Meinungen zu unterscheiden, und den eigenen Standpunkt in einem größeren Zusammenhang zu sehen.  

Die OECD-Sonderauswertung „Lesen im 21. Jahrhundert“, die Sie basierend auf der PISA-Studie 2018 erarbeitet haben, zeigt, dass weniger als die Hälfte aller 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in Deutschland Fakten von Meinungen unterscheiden kann. Wie wollen Sie bei diesen besorgniserregenden Zahlen im Sinne der Demokratie gegensteuern?

Die Jugendlichen müssen lernen, sich eine eigene Meinung zu bilden, und sich in der Informationsvielfalt zurechtfinden. Also auch mit Unwägbarkeiten umgehen zu können, denn die Welt ist nicht mehr Schwarz und Weiß. Früher konnte ich mich auf das verlassen, was mir andere erzählt haben, heute muss ich mich in diesem Dschungel selbst zurechtfinden. Das Entscheidende dabei ist, dass die jungen Menschen erleben, dass sie diese Welt selbst verändern können. Dass sie Einfluss nehmen können auf das Geschehen um sie herum. Wir nennen das Selbstwirksamkeit. 

Mit diesem Rüstzeug fällt es leichter, sich eine eigene Meinung zu bilden und zu vertreten. Mich beunruhigt allerdings sehr, dass Deutschland gerade in diesem Bereich so weit abgeschlagen ist, es ist das letzte Land unter den OECD-Staaten, wenn es um ein positives Gefühl von Selbstwirksamkeit von Schülerinnen und Schülern geht.  Also, wenn man sie fragt: „Glaubst Du, dass das, was Du tust, einen Einfluss auf diese Welt hat oder andere Menschen beeinflusst?“ Die Selbstwahrnehmung ist dann vornehmlich: „Ich lerne hier nur einfach Material, aber ich bin nicht aktiv an dieser Welt beteiligt.“ Oder: „Wenn ich irgendetwas verändern will, dann muss ich außerhalb der Schule demonstrieren, aber auch nur dann, wenn es eine Gelegenheit dazu gibt.“ 

Woran liegt es, dass Deutschland in Sachen Selbstwirksamkeit Schlusslicht ist?

Ich denke, dass ist eine Folge der Art und Weise, wie wir Schule umsetzen und leben. In Japan machen am Ende eines Schultages die Schüler mit den Lehrkräften gemeinsam die Schule sauber. Nach dem Motto: Wir sitzen alle in einem Boot, wir sind alle in der Verantwortung. Jeder übernimmt hier seinen Part. Dann wird in der Schule gemeinsam das Mittagessen vorbereitet, jeder hat seine Aufgabe und seine Rolle. Und in genau dieser Rolle wird er auch wahrgenommen und respektiert. Das ist sehr wichtig. Die Jugendlichen spüren, sie werden ernstgenommen. In Deutschland gehen sie hin, absolvieren ihre Schulstunden, machen ihre Hausaufgaben und viel mehr passiert darüber hinaus nicht. So ein Ansatz reicht heute nicht mehr. 

Was wollen Sie vor diesem Hintergrund mit der „Kommission für Demokratie und Bildung“ konkret erreichen“?

Wir wollen Ansätze zeigen, wie man es besser machen kann. Viele Schulen in Deutschland sind bereits gut aufgestellt und haben tolle Ideen und Ansätze für ein lebendiges Miteinander, nur sind diese Ansätze noch nicht systemisch verankert, vieles scheint dadurch unverbindlich. Für die Kommission gilt es nun, erstmal zu sehen, wo und warum etwas in Deutschland und in der Welt gut funktioniert, und welche schulischen Angebote dazu beitragen, die Demokratie zu stärken. Wir wollen Lösungsansätze aufzeigen, aber auch ein bisschen Mut zur Veränderung machen, um am Ende die besten Beispiele zu institutionalisieren. Der zweite Schritt ist dann, so hoffe ich, Vorschläge für die Politik und für die Praxis zu präsentieren. Das ist eine schwere Aufgabe, aber eben auch sehr wichtig.

Haben Sie denn den Eindruck, dass die Politik offen für Ihre Vorschläge ist?  

Wenn die Vorschläge gut sind, werden sie auch wahrgenommen. Wir müssen endlich aus der Theorie rauskommen und praxisnaher werden. Es geht eben nicht um ein neues Schulfach „Demokratie“, das wir obendrauf packen. Das wäre der falsche Ansatz. Es geht um die Umgestaltung der Art und Weise, wie wir lernen und wie wir Schüler beteiligen, damit Schule am Ende sehr viel lebendiger und aktiver wird. Dazu fällt mir ein Bespiel aus Portugal ein: Vor einigen Jahren haben die Portugiesen dasselbe erlebt wie wir in Deutschland. Schülerinnen und Schüler kamen in die Schule, haben sich teilweise nicht richtig benommen; Vieles war für sie nicht mehr so richtig interessant oder relevant. Dann hat die Regierung ein Experiment gewagt: Wir geben jeder Schule ein zusätzliches Budget von einem Euro pro Schüler. Der Trick war, dass die Schülerinnen und Schüler das Geld ausgeben durften, nicht die Schulleitung. 

"Es geht nicht um ein neues Schulfach "Demokratie", das wir obendrauf packen. Das wäre der falsche Ansatz. Es geht um die Umgestaltung der Art und Weise, wie wir lernen und wie wir Schüler beteiligen."

… so wie das Schülerbudget, das es bei uns schon an einigen Schulen gibt …

Ja, genau. Bei den Portugiesen ist zunächst nicht viel passiert, am Anfang ist sogar viel Geld verschwendet worden, weil die Schüler erstmal jedem ein Eis kaufen wollten. Aber nach einigen Monaten und Jahren ist es zu einem völligen Umdenken gekommen: Plötzlich spürten die Jugendlichen, dass sie selbst in der Verantwortung waren. Sie mussten überlegen: Kaufen wir neue Computer oder reparieren wir das Dach? Kümmern wir uns um die Erstklässler oder machen wir etwas für die Abiturienten? Das Schülerbudget hat zu einem wirklichen Umdenken geführt, plötzlich waren alle in einem Boot und haben sich an diesen Prozessen beteiligt. Ich glaube, da fängt Demokratiebildung an. Kritiker befürchten ja, dass Schule „verflacht“, wenn man die Schüler zu sehr einbindet. Aber das Gegenteil ist der Fall: Je aktiver Schülerinnen und Schüler beteiligt werden, umso mehr setzen sie sich dafür ein, dass die Lehrinhalte anspruchsvoll sind. Wichtig ist nur, dass solche Formate ernst gemeint sind. Wenn Schüler wahrnehmen, dass alles nur ein Spiel ist, und sie am Ende doch keinen Einfluss haben, bringt es nichts. Man muss das ernsthaft umsetzen.

Wie ist Ihr Blick auf die Lehrkräfte? 

Lehrkräfte in Deutschland sind gut in der Wissensvermittlung, da will ich wenig kritisieren. Aber Lehrkräfte in Deutschland kennen ihre Schülerinnen und Schüler oft nicht. Sie wissen selten, wer sie sind, und wer sie werden wollen. Und sie verbringen wenig Zeit mit ihnen außerhalb des Klassenverbands. Dabei ist Lernen nie Transaktion von Wissen, Lernen ist immer ein sozialer Prozess. Wenn ich als Lehrkraft also nur Wissensvermittler bin, aber kein Coach, kein Mentor oder Sozialarbeiter, dann werde ich die Schülerinnen und Schüler heute nicht mehr erreichen. Was mich in Asien beeindruckt: Am Morgen wird in einer Schule mit 1200 Schülern jeder mit Namen begrüßt. Das setzt schon mal ein Zeichen. Oder blicken wir nach Estland, Dänemark, Singapur oder China. Da haben die Lehrkräfte viel mehr Zeit, außerhalb des Klassenverbandes mit den Schülern zu arbeiten. Einzeln oder in der Gruppe. Dadurch lernen sie sich kennen und sich zusammenzuraufen. Das ist wichtig. Man kann heutzutage nicht mehr in eine Klasse gehen und sagen: „Jetzt erzähle ich euch etwas über Geografie“, und dann wieder abdampfen. Die Kinder und Jugendlichen brauchen viel mehr Ansprache, um wirklich zu lernen.  

Aber wie soll das geleistet werden? Zum Schuljahresbeginn 2022/23 fehlen nach Einschätzung des Deutschen Lehrerverbands bis zu 40.000 Lehrerinnen und Lehrer …

Stimmt, aber ich denke, die Betreuungsverhältnisse sind in Deutschland eigentlich okay. Wenn man das mal im OECD-Mittel sieht, liegen die Lehrer-Schüler-Relationen in der Bundesrepublik im Mittelfeld. Die wichtige Frage ist doch: Wie setzen wir die Zeit der Lehrkräfte ein? In Deutschland meint man oft, wir bräuchten kleinere Klassen, aber das ist nicht das Thema. Das Thema ist: Wie finden sich Möglichkeiten für Lehrkräfte, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen an der Vorbereitung von projektorientiertem Unterricht zu arbeiten. Manchmal kann man Klassen auch zusammenlegen, oder Schülerinnen und Schüler lernen zeitweise in größeren Gruppen. Es ist meiner Ansicht nach wichtig, von dieser sehr starken Fragmentierung von Unterrichtsinhalten zu Unterrichtskonzepten überzugehen: Mehr gemeinsame Arbeit, mehr projektbasierter Unterricht, eher fächerübergreifender Unterricht. Das macht die Arbeit für die Lehrkräfte leichter und für die Schüler interessanter. Letztendlich gewinnen alle.

Wie können schulische Angebote zur Stärkung unserer Demokratie beitragen?

Mit der Ganztagsschule und der Nachmittagsbetreuung öffnen sich dringend benötigte Räume für die Demokratiebildung - insbesondere mit Blick auf den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule ab 2026.

Mehr fahren

Was können wir von anderen Ländern lernen?

Eine freiere Arbeitsorganisation in der Schule. In vielen Ländern gibt es heute viel mehr Freiraum, aber auch Verantwortung für die Organisation von Unterrichtsinhalten direkt in der Schule vor Ort. Schauen Sie in die Niederlande, da werden 90 Prozent aller Entscheidungen zu den Unterrichtsinhalten in den Klassen getroffen, in Deutschland sind es 17 Prozent. Das zeigt schon mal deutlich, wie man hier Schule macht. Der zweite Punkt ist: Eine gemeinschaftlichere Arbeitsorganisation von Lehrkräften, also einfach mehr im Team arbeiten. In den nordischen Staaten Europas arbeiten die Lehrkräfte gemeinsam, sie bereiteten sich zusammen vor, schauen sich gegenseitig die Unterrichtskonzepte an. Es gibt ein Miteinander, das macht die Arbeit für alle leichter. 

Warum braucht es die Hertie-Kommission für Demokratie und Bildung, um solche Reformvorschläge zu machen? Ist das nicht der Job des Bildungsministeriums? 

Letztendlich müssen die Reformen vom Bildungsministerium umgesetzt werden, das ist völlig klar. Aber die guten Ideen kommen oft aus der Zivilgesellschaft. Und da sollte man in Deutschland offener sein, und kein Monopol für das Bildungsministerium erheben. Die beste Bildung ist, wenn sie ein Projekt der Gesellschaft ist, wenn alle beteiligt sind. Was man in Deutschland in meinen Augen falsch macht, ist die zunehmende Kommodifizierung von Bildung: Da werden Schüler zu Konsumenten, die Lehrkräfte zu Dienstleistern und die Schulen und Eltern zu Kunden. Das ist doch Quatsch. Bildung funktioniert nur dann, wenn jeder Verantwortung übernimmt: die Lehrkräfte, die Eltern, die Schüler. So können wir Demokratiebildung wirklich stärken, denn Demokratie heißt, dass ich für das Projekt Gesellschaft meinen Anteil an Verantwortung übernehme. Das kann man in der Schule sehr gut umsetzen, und Kommissionen, die Lösungsansätze liefern, sind dabei Gold wert. Die guten Ideen kommen eben immer aus der Gesellschaft, Politik kann sie dann aufnehmen. Genau das macht Demokratie aus, denn Demokratie heißt nicht, oben sitzt jemand in der Verwaltung, der das alles richtig macht, sondern wir Menschen machen mit. 

INFO  Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung  

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