Farid Bidardel, Foto: privat
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Farid Bidardel, Foto: privat
Interview mit Farid Bidardel, Februar 2023

Wir dürfen die Realität der Jugendlichen nie aus den Augen verlieren

Welche Ideen Farid Bidardel als START-Geschäftsführer in den vergangenen 12 Monaten auf den Weg bringen konnte, was ihn an seinem neuen Job besonders beeindruckt - und wo es noch hakt, lesen Sie in diesem Interview.
Demokratie stärken

Vor einem Jahr übernahm Farid Bidardel (36) die Geschäftsführung der START-Stiftung. Der Organisationspsychologe und Erziehungswissenschaftler hat sich viel vorgenommen, um START in die Zukunft zu führen und noch mehr Jugendliche mit Einwanderungsgeschichte für das Stipendienprogramm zu begeistern

Vor einem Jahr sind Sie mit der Mission angetreten, Jugendlichen mit Hilfe von START „Flügel zu verleihen, um in einer Welt voller Umbrüche zu bestehen“. Inwieweit ist Ihnen das gelungen?

Die Grundlagen dafür haben wir gelegt, denke ich. Wir haben uns insbesondere mit den Bedarfen der Jugendlichen auseinandergesetzt und sie explizit in die Zielgruppenanalyse eingebunden, sodass wir ihnen nun konkrete Angebote machen können, die es benötigt, um für die Zukunft gut aufgestellt zu sein. Interessanterweise kristallisierten sich in den Umfrageergebnissen zwei Top-Themen unter den Jugendlichen heraus: Programmieren und das Erlernen digitaler Fähigkeiten. Genau diese Wünsche erfüllen wir den Jugendlichen jetzt. Wir haben ein neues Programm eingeführt, das wir START Creators nennen, in dem sie digitale Lösungen zu sozialen Herausforderungen entwickeln und gleichzeitig das Programmieren erlernen können. Diese Entwicklung freut mich sehr, da sie aktiv von den Jugendlichen angestoßen wurde, aber auch unseren Zielen entspricht. 

Sie gelten als Digital-Experte und haben als Ziel, die Digitalisierung der START-Stiftung voranzutreiben. Was hat sich getan?

Die Digitalisierung ist ein großes Thema für uns. In den ersten drei Monaten habe ich analysiert, wo die START-Stiftung überhaupt steht. Schnell stellte sich heraus, dass wir eine Grunderneuerung unserer digitalen Infrastruktur brauchen. Mit Unterstützung der Hertie-Stiftung und anderen Partnern können wir dieses Thema nun voranbringen und haben im Sommer auch gleich damit losgelegt. Wir werden unser komplettes System neu aufstellen, von der Bewerbung bei START bis hin zur Arbeit mit den Alumni/ae. Das Ganze ist ein Prozess, der sicher bis zu zwei Jahre dauern wird. 

"Den Jugendlichen ist es wichtig, etwas zur Gesellschaft beitragen zu können und dazuzugehören. Sie dabei zu unterstützen, wird auch weiterhin der Fokus von START bleiben .  "

Welche Impulse haben Sie schon konkret auf den Weg bringen können?

Mit der Digitalisierung möchten wir auch die Skalierung vorbereiten. Wir wollen wachsen und noch mehr Jugendliche erreichen. Dafür haben wir einen Prototyp unseres START-Programms gebaut und im September das dreimonatige Programm Open START initiiert. Wir haben 120 Bewerberinnen und Bewerber, die wir zuvor abgelehnt hatten, aufgenommen, und ihnen die Möglichkeit gegeben, mit Hilfe von Alumni/ae ein eigenes digitales Bildungsprogramm auf der neu entwickelten START-Plattform zu absolvieren. Von den Jugendlichen gab es sehr positives Feedback, und nun sind wir dabei, aus diesem Prototyp eine richtige START-Akademie mit vielseitigen und auch neuen Bildungsformaten zu bauen.

Klingt spannend, aber auch sehr technologielastig. Sind Migration und Integration sowie gelebte Teilhabe und Sichtbarkeit eigentlich noch zentrale Themen für Jugendliche mit Einwanderungsgeschichte und auch für START - oder hat sich da etwas verändert? 

Die Themen haben sich tatsächlich geändert: neben den bereits genannten Wünschen ist auch die Kompetenzerweiterung, also die Weiterentwicklung von bestimmten Fähigkeiten im Hinblick ihrer beruflichen Ziele ein wichtiges Bedürfnis. Was sich nicht geändert hat, sind die Gründe, warum sich Jugendliche bei START engagieren. Laut unserer Umfrage liegt das Gefühl der Zugehörigkeit und das Community-Feeling auf Platz eins. Den Jugendlichen ist es wichtig, etwas zur Gesellschaft beitragen zu können und dazuzugehören. Sie dabei zu unterstützen, wird auch weiterhin der Fokus von START bleiben. So werden wir alles, was wir gerade weiterentwickeln, sei es die Digitalstrategie oder unsere Programmentwicklung, stets diesem Fokus unterstellen. An diesem Punkt hat sich START nicht verändert.

Rassismus ist in Deutschland ein Thema. Nach den Angriffen auf Polizei und Rettungskräfte in der Silvesternacht wurden Menschen mit Einwanderungsgeschichte schnell mit den Tätern in einen Topf geworfen. Sind solche Ereignisse Thema in der START-Stiftung?       

Auf jeden Fall, Rassismus und Diskriminierung sind generell große Themen für uns, zu denen wir regelmäßig Workshops und Seminare anbieten. Rassismus existiert ja nicht nur seitens „weißer Deutscher“ gegenüber Migrantinnen und Migranten, sondern auch innerhalb von Gruppen mit unterschiedlicher Einwanderungsgeschichte. Darüber klären wir unsere Jugendlichen auf und machen auch sehr deutlich, dass Diskriminierung in der START-Stiftung keinen Platz hat. Die Täter in der Silvesternacht auf ihre Migrationsgeschichte zu reduzieren - das wiederum ist für mich Rassismus. Ein Migrationshintergrund wird leider in Deutschland oft noch als Makel gesehen, doch ich beobachte auch, wie sich langsam etwas verändert. Wir als START-Stiftung fahren den Ansatz, dass die Einwanderungsgeschichte der Jugendlichen ein großer Gewinn ist. Wir unterstützen sie dabei, dass sie das, was sie an sprachlicher und kultureller Vielfalt mitbringen, hier leben und sich zugleich zugehörig fühlen können. 

Welche Erkenntnisse haben Sie persönlich nach einem Jahr START gewonnen?

Es ist so viel passiert, und ich habe viele Eindrücke gewonnen, aber die wichtigsten Momente waren für mich die Begegnungen mit den Jugendlichen, zum Beispiel in Bad Orb auf unserer Abschlussfeier im vergangenen Jahr. Da habe ich bewusst erlebt, mit wem wir eigentlich zusammenarbeiten - sonst sind das ja immer nur Namen auf Listen. Ich habe gespürt, was diese Jugendlichen bewegt, welche Träume sie haben, was sie begeistert und sie dadurch kennengelernt. Das war auf jeden Fall ein Highlight für mich. Denn egal, was wir in der Stiftung alles entwickeln, wenn wir die Realität der Jugendlichen nicht miteinbeziehen, dann gehen unsere Bemühungen an ihnen vorbei. Deswegen war es 2022 so unglaublich wichtig für mich, diese Kontakte zu pflegen. Hinzu kommt, dass wir im vergangenen Jahr unser Kuratorium neu aufgestellt haben und mit Kassem Taher Saleh einen START-Alumnus aufnehmen konnten. Kassem ist übrigens der erste START-Alumnus, der im Bundestag sitzt. Das sind so Momente, in denen ich spüre, dass unser Programm wirkt und wir eine unglaubliche Reichweite haben. Umso wichtiger ist es, mit unseren Stipendiatinnen und Stipendiaten, aber auch mit den Alumnae und Alumni in Kontakt zu kommen. Wir wollen und müssen sie noch viel stärker einbeziehen.      

START-Stiftung

Mit dem START-Stipendium unterstützt die Hertie-Stiftung motivierte Jugendliche mit Einwanderungsgeschichte bei der Gestaltung ihrer Bildungsbiografie – für eine demokratische, pluralistische und inklusive Gesellschaft.

Website der START-Stiftung

Welche Veränderungen stehen für die START-Stiftung auf Ihrer Agenda, mit der Sie vor einem Jahr nicht gerechnet hätten?

Vor allem die Organisationsentwicklung. Die Stiftung hat sich in den vergangen 20 Jahren stark entwickelt, nur sind wir jetzt an einem Punkt angekommen, an dem die Organisationsstruktur den aktuellen Herausforderungen angepasst werden muss. Das bedeutet, dass wir schnellere Entscheidungswege brauchen und zügiger agieren müssen. Es reicht nicht, wenn wir unsere Prozesse digitalisieren und das Programm anpassen, aber in den Strukturen behäbig bleiben. Wir werden in den nächsten Jahren richtig anpacken müssen, gerade auch, um Hierarchien aufzubrechen. Gleichzeitig gilt es, immer wieder den Fokus zu schärfen, warum und für wen wir als START-Stiftung unsere Arbeit tun. Da hat sich im Laufe der Zeit einiges verändert, wie wir schon bei den Top-Themen der Jugendlichen gesehen haben. Das Großartige ist, dass alle in der Stiftung den Veränderungen gegenüber offen sind. Es wird sicher ein paar Jahre dauern, bis die neue Organisationsstruktur richtig gelebt wird. Aber ich sehe es als Chance und vor allem auch das Potential aller, um alte Barrieren einzureißen. Das Team trägt diesen Weg mit und bringt konstruktive Ideen ein, das freut mich sehr.

In diesem Jahr feiert START 20-jähriges Jubiläum. Was haben Sie sich vorgenommen? 

Wir möchten dieses Jubiläumsjahr auf jeden Fall den Stipendiatinnen und Stipendiaten sowie den Alumnae und Alumni widmen und hervorheben, was sie alles erreicht haben. Im November 2022 haben wir deshalb eine Kampagne gestartet, die 20 Menschen aus der START-Community zeigt, mit denen wir erzählen, was in diesen 20 Jahren alles passiert ist. Die ersten spannenden Porträts sind bereits auf unserer Website zu sehen. Wichtig ist uns dabei, die Vielfalt der Menschen zu zeigen, die aus allen Bundesländern Deutschlands kommen. Mitte Juli wird es dann im Rahmen der Abschlussfeier des jetzigen START-Jahrgangs in Frankfurt unsere große Jubiläumsfeier geben. Das wird sicher ein weiteres Highlight.

Werden Sie Ihr eigenes Jahres-Jubiläum auch ein bisschen feiern?

Als ich damals als Geschäftsführer anfing, sagte mir eine Kollegin, dass ich gut ein Jahr brauchen würde, um START zu verstehen. Ich dachte zunächst, dass das etwas sehr lang sei. Aber mittlerweile muss ich sagen: Ja, es ist tatsächlich so. In den 20 Jahren erfolgte die regionale Anbindung des START-Programms, vor allem in der Zusammenarbeit mit allen Bundesländern, zum Teil ganz unterschiedlich und mit regionalen spezifischen Erfordernissen. Dazu kommen viele Partner und Förderer aus unterschiedlichen Bereichen und natürlich unsere eigene Zentrale. Es hat gedauert, die Zusammenhänge zu verstehen, aber heute kann ich behaupten, dass ich zu allen Themen etwas sagen und sie nach außen vertreten kann. Das wäre sicher ein Grund, sich darüber zu freuen. Aber ich möchte mich nicht selbst feiern. Es erfüllt mich noch immer mit großer Dankbarkeit, Teil der START-Familie zu sein. Ich würde sagen, es ist mir eine Ehre, vor allem von den Jugendlichen so herzlich aufgenommen worden zu sein. Dass sie mir ihre Geschichten erzählen, ihre Wünsche und Träume mitteilen und vor allem bei START das Gefühl haben, dass jemand an sie glaubt, ist für mich etwas ganz Besonderes.

INFO  Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung  

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