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Prof. Dr. Cornelia Woll, Foto: Hertie School/Maurice Weiss
Interview über die Zukunft der Hertie School, April 2023

Meine größte Sorge ist, dass sich die Welt spalten und fragmentieren könnte

Vor gut einem Jahr hat Prof. Dr. Cornelia Woll die Präsidentschaft der Hertie School übernommen. Welche Akzente sie bisher setzen konnte, was sie verändern möchte, und welche drängenden Zukunftsthemen die Politikwissenschaftlerin umtreiben, lesen Sie in unserem Interview.
Demokratie stärken

Vor gut einem Jahr hat Prof. Dr. Cornelia Woll die Präsidentschaft der Hertie School übernommen. Zuvor lebte sie über 20 Jahre in Paris, forschte und lehrte an der renommierten sozialwissenschaftlichen Hochschule Sciences Po. Wie hat die Politikwissenschaftlerin den Wechsel von der Seine an die Spree erlebt? Was konnte sie bisher umsetzen, und welche drängenden Zukunftsthemen treiben sie um? In unserem Interview gibt die gebürtige Frankfurterin Auskunft.  

Sie haben vor Ihrem Amtsantritt im eleganten Paris gelebt, sind Halbfranzösin. Konnten Sie sich schon an Berlin mit seinem Kodderschnauzen-Charme gewöhnen?
Ja (lacht), ich bin ursprünglich deutsch und habe die französische Staatsbürgerschaft während meiner Zeit in Paris angenommen. Insofern ist es für mich eine Rückkehr in die Heimat. Berlin als Stadt kannte ich zwar nicht - ich bin in Frankfurt am Main geboren - aber wir waren als Familie sehr glücklich über den Wechsel nach Deutschland, und das Gefühl hat sich bis heute bestätigt. Die Berliner Schnauze empfinde ich nicht als unangenehm, die Pariser können manchmal auch sehr direkt sein.

Sie sind mit Ihrer Familie hergezogen - wie muss man sich das konkret vorstellen? 
Mein Mann hat zeitgleich mit mir einen Jobwechsel in Berlin hinbekommen und arbeitet in einer NGO. Unsere beiden Kinder, neun und elf Jahre alt, sind hier auf einer deutsch-französischen Schule und damit sehr glücklich. Das hat alles reibungslos geklappt. Womit ich allerdings nicht gerechnet habe, sind die bürokratischen Hürden, die man in Deutschland bei einem Umzug aus dem Ausland bewältigen muss. Das war eigentlich das Komplizierteste. 

Was hat Sie ursprünglich bewegt, Ihren Job an der Elite-Universität Sciences Po mit rund 14.000 Studierenden für die ungleich kleinere Hertie School (800 Studierende) aufzugeben?
Die beiden Hochschulen sind Schwester-Institutionen, oder Cousinen, könnte man sagen. Die Sciences Po ist tatsächlich größer und hat gerade ihr 150. Jubiläum gefeiert, aber von der Ausrichtung ist das Projekt der Hertie School, der Science Po oder unseren anderen Partnern wie der London School of Economics ganz ähnlich: nämlich die Sozialwissenschaften zu nutzen, um in die politischen Berufe hinein auszubilden. Also zukünftige Entscheidungsträger, die in Verwaltung, Privatwirtschaft oder in der Zivilgesellschaft die Welt verbessern oder an der Politik teilhaben wollen. Insofern war mir das doch recht bekannt. Aus Paris konnte ich Erfahrungen im Universitätsmanagement, aber auch als Professorin mitbringen, und ich habe mich stets dafür eingesetzt, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse relevant für die Politik sein müssen und im Dialog mit ihr stehen. Genau diese Aufgabe ist mir an dem Zielbild der Hertie School wichtig, die gegründet wurde, um eine interdisziplinäre Perspektive in der Ausbildung anzubieten. Gleichzeitig wollen wir die Wissenschaft in die Politik hineintragen und den Dialog mit ihr suchen. So dass am Ende ein Wechselspiel darüber entsteht, wie man wissenschaftliche Fragen vielleicht auch anders denken kann. Dieser Prozess interessiert mich sehr, und jetzt kann ich ihn in der Hertie School weiterführen. Für mich ist das sehr motivierend. 
 

"Künftig wollen wir uns noch breiter aufstellen, vor allem mit Universitäten in Mittel- und Osteuropa und in Afrika. Aber wir wollen auch in Deutschland sichtbarer werden, vor allem in Regionen oder in sozioökonomischen Gruppen, die uns noch nicht auf dem Schirm haben. "

Welche Ideen konnten Sie im vergangenen Jahr bereits auf den Weg bringen?
Die Hertie School hat viele große Aufgaben, an denen wir aktiv weiterbauen. Als ich startete, ging es aber zunächst darum, den Betrieb durch die Corona-Zeit zu führen, die für viele Universitäten ein Ausnahmezustand war. Mein Vorgänger Mark Hallerberg hat die Krise brillant gemeistert, so dass mir die leichtere Aufgabe zufiel, die Einführung des Präsenzbetriebs zu begleiten. Das haben wir mit Bravour gemeistert. Doch kurz darauf kamen der Ukraine-Krieg und die Energiekrise dazu, so dass wir uns viel mit diesen Themen beschäftigt haben. Zum Glück sind die Lehrveranstaltungen nun wieder gefüllt mit den Studierenden und die positive Energie ist zurück. Wir konnten in meinem ersten Jahr auch schon einige neue Projekte umsetzen: Mit der Unterstützung der Dieter Schwarz Stiftung haben wir ein Endowment eingeworben, um unsere Data Science Kompetenzen auszubauen. Wir haben unsere internationalen Netze weiter ausgebaut und neue Partnerschaften gegründet, zum Beispiel in Seoul, Kiew und in Indien. In Gedenken an meinen verstorbenen Vorgänger haben wir den Henrik Enderlein Preis sowie das Henrik Enderlein Fellowship ins Leben gerufen. Parallel dazu arbeiten wir natürlich an unseren Hauptaufgaben, insbesondere der Rekrutierung und Begleitung der Studierenden, der Exzellenz unseres Lehr- und Forschungsangebots und unseres Promotionsprogramms. Zudem haben wir im letzten Jahr einen Gender Equity Plan erstellt und arbeiten intensiv an unseren langfristigen Zielen. 
 

Welche sind das? 
Im Moment sind wir dabei, die Strategie und die Ziele für die nächsten fünf Jahre zu Papier zu bringen. Dazu gehört, dass wir den Standortvorteil Berlin, der das herausragende Merkmal der Hertie School in unserem internationalen Verbund ist, stärken wollen. Es soll klarer werden, dass wir hier einen Beitrag leisten können in der politischen Umwälzungsphase, in der Deutschland eine große Rolle spielen kann. Diesen Standortvorteil wollen wir durch einen Umzug der Hertie School in das historische Robert-Koch-Forum im Jahr 2025 noch attraktiver machen. Darauf freuen wir uns sehr, denn dort sitzen wir wirklich im politischen Herzen Berlins, ganz in der Nähe des Reichstags. Um diesen wunderschönen Campus mit Leben zu füllen und zugänglich zu machen, möchten wir unser inhaltliches Profil weiter schärfen und klarstellen, welchen wichtigen globalen Herausforderungen wir uns stellen. Weil wir für den Umzug und diese Pläne noch finanzielle Unterstützung brauchen, werden wir in den nächsten Jahren auch eine Capital Campaign launchen. Wir hoffen auf Spender und Unterstützer, die unsere Expertise und unsere Studierenden durch Stipendien begleiten können. Dieses Projekt startet mit dem 20-jährigen Geburtstag der Hertie School, der in das nächste akademische Jahr 23/24 fällt. Dann werden wir 12 Monate lang zeigen, was wir in 20 Jahren erreicht haben, wie wir die nächsten 20 Jahre vorbereiten, und wie man uns unterstützen kann. 

Welche Ziele gibt es noch? 
Die Netzwerke bleiben uns wichtig, denn wir sind sehr multilateral und europäisch in unserer Überzeugung. Ungefähr 70 Prozent unserer Studierenden kommen aus dem Ausland, und wir sind sehr daran interessiert, die deutschen und internationalen Thematiken in den Dialog umzusetzen. Künftig wollen wir uns noch breiter aufstellen, vor allem mit Universitäten in Mittel- und Osteuropa und in Afrika. Aber wir wollen auch in Deutschland sichtbarer werden, vor allem in Regionen oder in sozioökonomischen Gruppen, die uns noch nicht auf dem Schirm haben. 
 

In Deutschland hängt die Chance auf Bildung noch immer stark vom Geldbeutel der Eltern ab. Die Studiengebühren an der Hertie School betragen für zwei Jahre bis zum Master 34.500 Euro – das ist sicher nicht für alle Interessierten erschwinglich… 
Ein wichtiger Punkt. Wir sind als privatwirtschaftliche Hochschule staatlich anerkannt, aber wir haben Studiengebühren, und das heißt, dass es für uns eine zusätzliche Hürde ist, auf die ökonomische Diversität eingehen zu können. Wir versuchen deshalb, aktiv zu unterstützen, indem wir mit Partnern und Interessierten an diesen Diversitätsfragen arbeiten, so dass am Ende Stipendien oder andere Angebote zu einem finanziellen Ausgleich beitragen können. Wir verteilen schon jetzt an 62 Prozent der Studierenden finanzielle Unterstützung durch eine Reduktion der Kosten oder Vollstipendien. Mit einem Gesamtvolumen von zwei Millionen Euro können wir so viele Studierende aufnehmen, die nicht die vollen Studiengebühren zahlen können. Das wollen wir aber gerne noch ausweiten, um die sozioökonomischen Hürden eines Studiums bei uns zu reduzieren. 
 

Wie muss man sich eigentlich Ihren Arbeitsalltag vorstellen, forschen Sie noch? 
Die Forschung habe ich erst mal nach hinten gestellt. Mein Arbeitsalltag ist tatsächlich sehr voll mit verschiedenen Terminen, teilweise außerhalb des Hauses. Ich bin aus dem Ausland gekommen und kenne das Berliner Parkett nicht, deshalb wollte ich sehr viele unserer Partner erstmal persönlich kennenlernen, natürlich auch die Lehrenden, die Professorinnen und Professoren, die Studierenden. Im Moment habe ich sehr viele Termine, die das Management und die Erarbeitung des strategischen Plans betreffen. Wenn ich ein bisschen Zeit habe, versuche ich, immer mal wieder auf wissenschaftliche Veranstaltungen oder auf Podiumsdiskussionen zu gehen, um uns und mich zu präsentieren. 

"Meine größte Sorge für die Jahre, die vor uns liegen, ist, dass sich die Welt tendenziell spalten und fragmentieren könnte. Sowohl geopolitisch in eine liberal-demokratische Welt und in eine autoritäre zweite Hälfte, die miteinander in einem offeneren Konflikt stehen, als wir es früher kannten.  "

Was sind für Sie und die Hertie School die drängendsten Zukunftsthemen? 
Wir haben den Anspruch, als Hochschule die ganz großen Herausforderungen der Welt bearbeiten zu wollen. Insofern denken wir in den großen Kategorien. Durch die Gründung von Centers of Competences versuchen wir, diese zu benennen und neu aufzustellen, wie zum Beispiel die Bereiche Nachhaltigkeit oder Internationale Sicherheit. Meine größte Sorge für die Jahre, die vor uns liegen, ist, dass sich die Welt tendenziell spalten und fragmentieren könnte. Sowohl geopolitisch in eine liberal-demokratische Welt und in eine autoritäre zweite Hälfte, die miteinander in einem offeneren Konflikt stehen, als wir es früher kannten. Zugleich bin ich besorgt über die Spaltung der Gesellschaft, die sich in Gruppen zerlegen kann. In einigen Ländern wie den USA oder Brasilien ist das schon intensiv passiert, bei uns vielleicht ein bisschen.

Welchen Beitrag kann die Hertie School in dem Zusammenhang leisten? 
Wir wollen den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern, um der Fragmentierung entgegenzuwirken. Für die Arbeit der Hertie School bedeutet das, genau zu definieren und herauszustellen, was die großen Fragen sind, die eine Spaltung verhindern können, und welche Kompetenzen wir selbst haben, diese zu beantworten. Ich möchte, dass sehr klar wird, wer in der Hertie School zum Beispiel etwas zur Demokratie sagen kann, zum Populismus oder zu Themen, die aus dem politischen oder gesellschaftlichen Raum kommen. Wir haben auch viele Kompetenzen in der öffentlichen Verwaltung, da geht es um die Handlungsfähigkeit des Staates, so dass wir die Politik unterstützen können. Weitere wichtige Themen sind für uns die Grundrechte, aber auch die Digitalisierung und die Massen an Daten, die immer weiter auf uns zukommen, und die durch Künstliche Intelligenz vielleicht viel Gutes, aber auch Schlechtes anrichten können. Das sind die großen Themen, mit denen wir uns beschäftigen.
 

Wie finden Sie privat Ausgleich nach einem Arbeitstag? 
Ich habe das Glück, dass meine Familie über meine beruflichen Themen gar nicht sprechen will, wenn ich nach Hause komme, dadurch kann ich sehr gut abschalten. Mein Mann ist außerdem begeisterter Hobby-Historiker, so dass wir an den Wochenenden mit den Kindern gern Berlin erkunden, ihnen dabei zum Beispiel die Geschichte der Deutschen Teilung vermitteln, aber auch mal 200 Jahre alte Schlösser besuchen. Wir sind immer wieder begeistert, welche Möglichkeiten es hier gibt.     

Und einfach einmal mit Neflix auf dem Sofa entspannen? 
Ja, Dokumentarfilme wie „Skandal, der Sturz von Wirecard“ oder die Serie „Transatlantic“ haben mir großen Spaß gemacht. Ich mag gerne Filme, die nahe an meinen Forschungsthemen sind, oder auch spannende Krimistoffe zu internationalen Wirtschaftsunternehmen. 
 
Was sollten wir über Sie wissen, womit wir nicht gerechnet hätten? 

Es wissen nicht viele, dass ich eine Zwillingsschwester habe. Sie ist wie ich sehr an Politik interessiert und arbeitet bei den Vereinten Nationen in Peru. Ich habe sie dort noch nicht besucht, aber wir sehen uns regelmäßig. Den Teil der Welt, den ich nicht bereist habe, lasse ich mir von ihr erklären, da sie auch lange Jahre in Afrika stationiert war. Das hilft mir im Verständnis für die Erfahrungen, die unsere Studierenden aus diesen Ländern mitbringen. 

Letzte Frage: Womit stoßen Sie lieber an - Berliner Weiße oder Champagner?
Berliner Weiße. 

Das war jetzt Diplomatie, oder? 
Nein wirklich, man erwartet es vielleicht nicht, aber ich war noch nie ein Fan von Champagner.  
 

INFO  Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung    

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