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Interview über das Zusammenspiel von Neurowissenschaften und Künstliche Intelligenz

Unser Algorithmus weist sehr früh auf krankhafte Veränderungen im Auge hin

Im Interview spricht Prof. Philipp Berens über die Schnittstelle von Künstlicher Intelligenz und Neurowissenschaften im Hertie AI-Institut: Welche Chancen sieht er für die Zukunft?
Gehirn erforschen

Quick Read: Worum es geht

Das Hertie Institute for AI in Brain Health (Hertie AI), 2023 in Tübingen gestartet, verbindet KI und Neuromedizin. Prof. Philipp Berens, Gründungsdirektor, setzt auf Data Science zur Früherkennung von Nervensystemerkrankungen. Im Fokus seiner Forschung stehen Augenheilkunde und die Diagnose neurodegenerativer Krankheiten durch Netzhautveränderungen. Aktuelle Projekte umfassen die Prognose von Schlaganfallerholung und diabetischer Retinopathie. Trotz Herausforderungen wie Datenzugriff und Digitalisierung, sieht Berens große Potenziale in der KI-gestützten Medizin, insbesondere in individualisierter Therapie und Früherkennung.

Mit dem Hertie Institute for AI in Brain Health (Hertie AI) wurde Anfang 2023 in Tübingen ein deutschlandweit einzigartiges Institut gegründet, das die Zukunftsthemen Künstliche Intelligenz (KI) und Neuromedizin erstmals miteinander verbindet. Prof. Philipp Berens ist Gründungsdirektor des Hertie AI, Professor im Bereich Data Science an der Universität Tübingen und Sprecher des Exzellenzclusters „Maschinelles Lernen – Neue Perspektiven für die Wissenschaften“. Wozu es das Hertie AI braucht, was die hauseigenen Algorithmen zu Schlaganfall und Augenerkrankungen herausfinden – und welche Daten-Schatztruhe unser Smartphone sein könnte, erläutert Prof. Berens in unserem Interview.

Was ist die Aufgabe des Hertie AI?

Mit dem Hertie Institut for AI in Brain Health wollen wir die Entwicklungen, die es im Bereich Künstliche Intelligenz in den vergangenen Jahren gegeben hat, nutzbar machen. Insbesondere in dem Bereich, der auch der Hertie-Stiftung am Herzen liegt: Erkrankungen des Nervensystems früher zu erkennen und deren Verlauf vorhersagen zu können - um dann eventuell zielgerichteter therapieren zu können.

Welche Forschungsschwerpunkte gibt es an dem Institut?

Meine eigene Gruppe arbeitet im Bereich Data Science. Das heißt, wir benutzen Algorithmen aus dem maschinellen Lernen, um große Datenmengen zu entschlüsseln. Unser Ziel ist, gesundheitsrelevante Fragen zu beantworten, aber auch das gesunde Gehirn grundsätzlich besser zu verstehen. Mein Team und ich arbeiten vor allem im Bereich der Augenheilkunde. Wir schauen uns an, wie das Auge funktioniert, und wie sich die Netzhaut bei Erkrankungen und im Alter verändert. Aber eben auch, wie man Diagnostik auf diesem Gebiet verbessern kann. Perspektivisch wollen wir zwei weitere Abteilungen am Institut einrichten, die meine Expertise methodisch komplementieren und in die anderen Bereiche der klinischen Neurowissenschaften anschlussfähig sind, also in die Neurologie und in die Psychiatrie.

Die Verbindung zwischen Augenheilkunde und Neurowissenschaften liegt nicht gleich auf der Hand. Wo ist die Brücke? 

Wenn man sich das Ganze anatomisch-physiologisch anguckt, ist das Auge eigentlich eine Ausstülpung des Gehirns. Und auch im Auge gibt es eben Nervenzellen, die das Licht aufnehmen, verarbeiten und dann ins Gehirn weiterleiten. Gleichzeitig ist das Auge ein sehr gut zugänglicher Indikator für viele Krankheiten. Man hat zum Beispiel in den vergangenen Jahren herausgefunden, dass nicht nur klassische Augenerkrankungen im Auge Niederschlag finden, sondern dass man auch neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer an Veränderungen im Auge sehr frühzeitig diagnostizieren kann.

" Es zeigt sich, dass man mit verhältnismäßig hoher Genauigkeit bereits wenige Tage nach einem Schlaganfall sagen kann, wer sich wahrscheinlich gut entwickeln wird, und bei wem das vielleicht länger dauert."

Was sind das für Veränderungen? Und wären sie für jedermann sichtbar?

Bei Alzheimer und Parkinson wären solche Veränderungen für den Laien oder auch selbst für Mediziner auf entsprechenden Bildern nicht so einfach zu erkennen. Anders bei Diabetes: Hier gibt es zum Beispiel Veränderungen der Gefäße und Ablagerungen, die man mit bloßem Auge auf entsprechenden Bildern erkennen kann.

Wie soll die Zusammenarbeit zwischen dem Hertie AI und dem Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) künftig aussehen?

Wir haben bereits eine erste Zusammenarbeit, wobei sich die Kollaborationen sicherlich intensivieren werden, sobald die neuen Kolleginnen und Kollegen für die weiteren Abteilungen da sind. Aktuell haben wir zum Beispiel ein Projekt mit der Gruppe von Prof. Ulf Ziemann im Bereich Schlaganfallforschung. Wir versuchen herauszufinden, ob sich vorhersagen lässt, welche Patientinnen und Patienten sich nach ihrem Schlaganfall sehr gut erholen werden und welche eher nicht. Und wir wollen herausfinden, welche Tests oder Daten wir brauchen, um solche Vorhersagen auch im klinischen Alltag treffen zu können. Da hat die Gruppe von Prof. Ziemann jetzt über zwei bis drei Jahre eine große Anzahl von Patientendaten gesammelt. Und wir haben unsere Ansätze aus dem Bereich maschinelles Lernen und statistische Modellierung benutzt, um diese Vorhersagen präzise machen zu können. Es zeigt sich, dass man mit verhältnismäßig hoher Genauigkeit bereits wenige Tage nach einem Schlaganfall sagen kann, wer sich wahrscheinlich gut entwickeln wird, und bei wem das vielleicht länger dauert.

Was passiert jetzt mit diesen interessanten Forschungsergebnissen?

Zunächst mal machen wir das, was in der klinischen Hirnforschung gemacht wird: Grundlagenforschung. Unser Interesse ist in erster Linie die Erkenntnis. Insofern werden wir diese Ergebnisse wissenschaftlich verwerten und veröffentlichen. Eine spannende Perspektive haben wir allerdings schon, weil es in dem Bereich an der Schnittstelle zu KI eine sehr lebendige Start-up Kultur gibt. Gerade in Tübingen haben wir mit dem Cyber Valley Institutionen, die sich um den Transfer von Wissen aus der Universität heraus in die Wirtschaft und in die tatsächliche Umsetzung dann auch wirklich kümmern. Ich bin sehr zuversichtlich, dass es in der Zukunft auch aus dem Hertie AI heraus zu Ausgründungen kommen wird. Oder dass wir mit verschiedenen Firmen zusammenarbeiten, die auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse auch Produkte fertigen können.

Welche Chancen ergeben sich Ihrer Ansicht nach in der Medizin durch KI bzw. maschinelles Lernen?

Meine Hoffnung ist, dass es durch die Entwicklung von besseren Algorithmen möglich wird, die Früherkennung voranzutreiben, also Krankheiten bereits zu erkennen, bevor die ersten Symptome auftauchen. Es gibt oft erste gesundheitliche Veränderungen, aber die sind eben noch nicht so stark, dass die Menschen sich krank fühlen oder irgendwelche konkreten Einschränkungen erleiden. Wenn wir langfristig in der Lage sind, aus Routinedaten, die sowieso anfallen, Vorhersagen zu treffen, wäre das ein großer Schritt.  

Haben Sie ein Beispiel?

Wenn Sie sich vorstellen, auf welche Art und Weise Sie Ihr Smartphone benutzen, oder in welcher Größe Sie die Buchstaben in Ihrem Smartphone einstellen, oder wie oft Sie tatsächlich Texte lesen – in diesen ganzen Interaktionen sind mit Sicherheit viele Signale verborgen, die sehr nützlich wären, um Krankheiten frühzeitig zu erkennen, und präventiv tätig zu werden. Das ist ein Bereich, den ich sehr spannend finde. Ein weiterer ist der Bereich der Therapie, also wenn wir gute Modelle davon haben, wie sich Krankheiten entwickeln und verändern, auch unter dem Einfluss von Medikamenten und Therapeutika, dann würde ich hoffen, dass wir auch besser planen können, wie wir unsere Therapien verabreichen. Ein Beispiel: Bei der altersbedingten Makuladegeneration, durch die Menschen langsam erblinden, bekommen die Patienten sehr regelmäßig alle drei Monate nach ärztlicher Untersuchung eine Spritze ins Auge, die den Prozess ein bisschen aufhält und zum Teil reversibel machen kann. Das ist ein Standardsystem, das mehr oder weniger bei allen Patienten angewandt wird. Es gibt aber durchaus eine hohe Variabilität: Manche Menschen bräuchten die Spritze am besten alle vier oder sechs Wochen, anderen würde alle zwölf oder vierzehn Wochen eine Spritze reichen. Ich glaube, hier kann es zu individualisierten Ansätzen zu kommen, die zielgenauer sind.

Sie und Ihr Team haben einen Algorithmus für ein Augen-Screening für Diabetiker entwickelt. Was steckt dahinter? 

Hier handelt es sich tatsächlich um ein spannendes Thema, weil es aufgrund der weltweit wachsenden Zahl an Diabetikerinnen und Diabetikern sehr viele Menschen betrifft: Eine Begleiterkrankung von Diabetes ist die sogenannte diabetische Retinopathie, also eine Schädigung der Netzhaut, die dadurch auftritt, dass bei Diabetes die Gefäße angegriffen und durchlässiger werden. Die Krankheit als solche betrifft etwa 30 Prozent der Diabetiker und kann zur Erblindung führen. Die Frage, die wir uns gestellt haben, ist: Wie lässt sich das Screening für diabetische Retinopathie effizienter gestalten, und zwar auf eine Art und Weise, die für den Menschen überprüfbar und nachvollziehbar ist? Weil zum Beispiel in Deutschland die aktuelle Versorgung diesbezüglich nicht besonders gut ist, und weil einfach das Personal fehlt, um die Diabetiker regelmäßig zu untersuchen. Hier haben wir ein neues Verfahren entwickelt, das tatsächlich sehr punktgenau darauf hinweisen kann, wo sich bereits krankhafte Veränderungen im Auge befinden, und man dann einem Patienten auch sagen kann: „Du solltest wirklich deinen Lebensstil ändern“ oder „Du musst deinen Zucker besser einstellen.“

"Ich glaube, dass es wichtig ist, alles, was wir in der Wissenschaft tun, immer wieder auch kritisch zu hinterfragen, oder auch gedanklich zu begleiten. Die Forschungsprojekte, die wir zusammen mit den Ethikern gemacht haben, sind insofern spannend, als dass sie tatsächlich für mich die Art und Weise, wie ich über das denke, was wir im Bereich der Medizin machen, direkt beeinflusst haben."

Der Algorithmus erkennt diese Veränderungen im Auge?

Genau, und damit können wir auch Unterstützung für Screener leisten. Der Algorithmus wäre im Prinzip ja in der Lage, autonom zu arbeiten, dafür braucht es keinen Menschen. Das Anwendungsfeld, das ich eher in der Zukunft sehe, ist tatsächlich eine Assistenz: Ein Bild wird durch den Algorithmus voranalysiert und dann die Evidenz, die man findet, präsentiert. Die Zeit, die ein menschlicher Arzt oder eine Ärztin am Ende braucht, um eine Entscheidung für den Patienten zu treffen, wird dadurch ungefähr halbiert.

Gibt es irgendetwas, was Ihnen in Ihrer Arbeit beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz Kopfzerbrechen bereitet?  

Wo wir noch am Anfang stehen, und was uns wirklich Kopfzerbrechen bereitet, ist der Bereich der Digitalisierung der gesamten Krankenversorgung. Also der Zugriff auf die Routineversorgungsdaten und die Krankenhausdaten ist einfach nicht gewährleistet. Da fehlt es häufig an den Schnittstellen. Die Systeme sind nicht miteinander interoperabel. Hier wird gerade sehr viel investiert, aber es gibt einfach noch sehr viel händische Arbeit, die zu leisten ist, um diesen Datenschatz, der sich zum Beispiel in unserer Uniklinik verbirgt, auch heben zu können.

Geht es da auch um Datenschutz?

Natürlich muss Datenschutz gewährleistet sein, das ist keine Frage. Wir bearbeiten die Daten selbstverständlich nur in Rechenzentren, die entsprechend sicher sind und achten auf die höchsten Standards. Aber an dieser Stelle ist nicht der Datenschutz das Problem, tatsächlich ist es der technische Zugriff, der uns behindert. Die Dinge liegen entweder in proprietären Dateiformaten vor, die die Gerätehersteller diktieren, und da kommt man dann nicht dran, oder sie liegen in den Patienten-Informationssystemen und lassen sich nicht so exportieren, wie wir das für die Forschung brauchen.

Ist das jetzt ein typisch deutsches Problem – oder sind das noch „Kinderkrankheiten“?

Das ist schon ein Infrastrukturproblem, was in Deutschland sicherlich besonders groß ist. Ich kann es jetzt nicht für alle anderen europäischen Länder sagen, aber in Großbritannien läuft es zum Beispiel ganz anders und weitaus unkomplizierter.

Gehirn erforschen

Neurowissenschaften bei der Hertie-Stiftung: Schwerpunkte bilden die Förderung klinischer Hirnforschung und Projekte im Bereich der Grundlagenforschung sowie die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Darüber hinaus unterstützen wir neurowissenschaftliche Initiativen für innovative Forschungs-, Bildungs- und Kommunikationsformate. Eine Übersicht über den Förderbereich „Gehirn erforschen“ und seine Aktivitäten bekommen Sie hier:

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Sie selbst sind Bioinformatiker und Philosoph und tauschen sich zum Hertie AI regelmäßig mit Ethikern und Philosophen aus. Warum sind Ihnen diese Gespräche wichtig?    

Ich glaube, dass es wichtig ist, alles, was wir in der Wissenschaft tun, immer wieder auch kritisch zu hinterfragen, oder auch gedanklich zu begleiten. Die Forschungsprojekte, die wir zusammen mit den Ethikern gemacht haben, sind insofern spannend, als dass sie tatsächlich für mich die Art und Weise, wie ich über das denke, was wir im Bereich der Medizin machen, direkt beeinflusst haben. Wir haben uns zum Beispiel angesehen, welche Voraussetzungen Machine-Learning-Algorithmen erfüllen müssen, damit sie auf eine gute Art und Weise in den klinischen Alltag integriert werden können. Ein wichtiger Punkt ist die Transparenz, also dass auch die Kliniker ein Stück weit nachvollziehen können: Wie kommt der Algorithmus zu dem Schluss, den er aus den Daten gezogen hat? Denn nur dann ist der Kliniker in der Lage zu sagen: „Okay, ich stimme zu“ oder „ich stimme nicht zu“ – um am Ende diese beiden Meinungen, die vielleicht voneinander abweichen, sinnvoll zu integrieren.

Also bilden KI und Mediziner ein Team?

So sollte es sein.

Was wünschen Sie sich für das Hertie AI? Haben Sie eine Vision?

Wenn es uns gelingt, ein Institut mit modernen Strukturen, mit einer schlanken Entscheidungsfindung und guten Arbeitsbedingungen auch für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler zu etablieren, würde mich das freuen. Und was ich bis in zehn Jahren gerne sehen würde, ist in manchen Feldern, dass Algorithmen, die wir benutzen, auch tatsächlich in die Praxis kommen, und dass sie medizinisch eingesetzt werden. Oder wir zumindest in klinik-nahen Studien zeigen können, dass es da einen klaren Nutzen für die Patientinnen und Patienten gibt.

INFO  Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung  

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