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Professor Dr. Markus Siegel. Foto: Fabian Zapatka / HIH
Interview über eine neue Studie zur Produktion und Verarbeitung von Sprache im Gehirn, August 2023

Wir können heute Informationen aus dem Gehirn auslesen, bevor sie ausgesprochen werden

Prof. Dr. Markus Siegel ist Direktor der Abteilung „Neuronale Dynamik und Magnetenzephalographie“ am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) in Tübingen. Womit er sich in seiner Forschung genau beschäftigt und welche Erkenntnisse wir aus einer neu publizierten Studie des HIHs ziehen können, verrät er uns in diesem Interview.
Gehirn erforschen

Quick Read: Worum es geht

In diesem Interview sprechen wir mit Prof. Dr. Markus Siegel, Direktor der Abteilung „Neuronale Dynamik und Magnetenzephalographie“ am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) in Tübingen. In seiner Forschung beschäftigt sich Prof. Siegel mit der grundlegenden Frage, wie das Gehirn unser Denken und Handeln hervorbringt und wie Nervenzellen aus ganz unterschiedlichen Bereichen des Gehirns dabei zusammenarbeiten. In diesem Zusammenhang berichtet Prof. Siegel auch von einer neu publizierten Studie am HIH, bei der es den Forschenden mithilfe moderner Bildgebung in Form der Magnetoenzephalographie (MEG) gelang, Gehirnsignale über Inhalt und Form der Äußerung auszulesen.

Seit 2020 leitet Prof. Dr. Markus Siegel als Direktor die neu eingerichtete Abteilung „Neuronale Dynamik und Magnetenzephalographie“ am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) in Tübingen. Nun haben der Neurowissenschaftler und sein Team eine beeindruckende Studie veröffentlicht, die belegt, dass es mit Hilfe der Messung von Hirnaktivitäten durch die Magnetenzephalographie (MEG) möglich ist, bereits Sekunden vorher vorauszusagen, welchen Laut ein Proband gleich äußern wird. Klingt spooky? Mitnichten, denn hinter der Forschung am HIH stecken viele neue Ansätze, um Menschen mit Sprachproblemen oder Muskelerkrankungen künftig noch zielgerichtetere Unterstützung anbieten zu können. Wie das funktioniert, womit sich die Abteilung Neuronale Dynamik & MEG genau beschäftigt - und ob es möglich ist, mit der neuen Spitzentechnik Gedanken zu lesen, berichtet Prof. Siegel in unserem Interview.  

Sie leiten die Abteilung „Neuronale Dynamik und Magnetenzephalographie“ am HIH. Womit beschäftigen Sie sich genau? 
Das zentrale Interesse unserer Abteilung ist zu verstehen, wie aus den dynamischen Prozessen in unserem Gehirn unser Verhalten und unser Denken wird. Wir finden im Gehirn zeitlich sehr variable Aktivität auf der Ebene einzelner Zellen bis hin zu Hirnarealen. Nur: Wie agieren diese Zellen und Hirnareale dynamisch während unseres Denkens und Handelns? Und wie ist diese Dynamik bei neurologischen oder neuropsychiatrischen Erkrankungen gestört? Das sind die Fragen, mit denen wir uns zentral beschäftigen.

Für Ihre Forschung kommen vor allem die Elektroenzephalographie (EEG) und die Magnetenzephalographie zum Einsatz, um Hirnaktivität zu messen. Sind das die üblichen EEG-Geräte, wie man sie vom Neurologen kennt, oder was muss diese Technik leisten?
Das EEG ist schon genau das, was man aus der Klinik kennt, aber es ist nicht die primäre Methode, die wir einsetzen. Wir nutzen vorwiegend die sogenannte Magnetenzephalographie, und das ist tatsächlich eine Technik, die es nur an etwa zehn Standorten in Deutschland gibt. Damit messen wir nicht die elektrischen, sondern die magnetischen Felder, die durch die Aktivität der Nervenzellen im Gehirn generiert werden. Das hat gewisse Vorteile, weil die magnetischen Felder sich im Vergleich zu den elektrischen Feldern nicht so stark durch Knochen, Haut, oder was sonst zwischen den Nervenzellen und dem Messsensor liegt, verändern. Das MEG ist aber auch wesentlich aufwendiger. Die sehr kleinen Magnetfelder des Gehirns zu messen, ist nicht leicht, weil sie im Vergleich zu dem Erdmagnetfeld oder anderen Magnetfeldern, die uns zum Beispiel durch elektrische Geräte umgeben, sehr viel kleiner sind. Deswegen braucht man ein spezielles MEG-Gerät mit sehr spezifischen Quantensensoren. Und man muss diese Messungen in einem speziellen Raum durchführen, der die externen magnetischen Felder abschirmt. Wir haben so ein MEG-Gerät in einem abgeschirmten Raum im MEG-Zentrum des Uniklinikums Tübingen, das von unserer Abteilung betrieben und von vielen Tübinger Wissenschaftlern genutzt wird. 

Welche Rolle spielt die moderne Bildgebung heutzutage bei der Erforschung neurologischer und neuropsychiatrischer Erkrankungen? Künstliche Intelligenz (KI) macht ja vieles möglich. 
Mittels MEG messen wir nicht direkt Bilder, sondern zunächst erstmal Signale mit einer Vielzahl einzelner Sensoren außerhalb des Gehirns. Aber wir berechnen dann aus diesen Signalen mit mathematischen Verfahren zurück, welche Aktivität im Gehirn diesen außen gemessenen Signalen zugrunde liegt. In diesem Sinne kann man die Methode also als bildgebendes Verfahren verstehen – Verfahren, die insgesamt eine wichtige Rolle bei der Erforschung neurologischer und neuropsychiatrischer Erkrankungen spielen.  Zur Frage nach KI - die Anwendung von KI im Bereich der Bildgebung ist ein sehr dynamisches Feld, das noch viel Potenzial bietet. KI bietet die Möglichkeit, Daten sehr effizient und schnell zu analysieren und somit klinische Diagnosen zu unterstützen. Zudem kann KI auch sehr hilfreich bei der Integration verschiedener Modalitäten sein, also wenn man die Daten verschiedener Messmethoden optimal zusammenführen möchte.

Nutzen Sie KI in Ihrer Abteilung? 
Wir nutzen auch KI, oder allgemeiner: Verfahren des maschinellen Lernens. Solche Verfahren sind für uns in verschiedenen Bereichen wichtig, zum Beispiel als Modelle für neuronale Verarbeitungsprozesse, in der Datenanalyse oder für die Erstellung sehr spezifischer experimenteller sensorischer Reize. 
 

"Wir reden oder sprechen ja auch in Gedanken. Allein dieser Umstand, dass wir auch eine innere Sprache haben, zeigt, dass wir den Inhalt und die Form von Sprache trennen können. Wie das aber neuronal geschieht, und wie diese beiden Bereiche abgebildet werden, ist noch weitestgehend unklar. "

Sie haben gerade eine interessante Studie publiziert: Mehrere Sekunden, bevor wir einen Laut äußern, können mit Hilfe des MEG Gehirnsignale über Inhalt und Form der Äußerung ausgelesen werden. Sie können also vorhersagen, welchen von zwei Lauten ein Proband gleich äußern wird. Worum geht es dabei? 
Die grundlegende Frage, der wir uns in der Studie angenommen haben, ist, wie der Inhalt und die Form einer Sprachäußerung im Gehirn repräsentiert werden. In gesprochener Form ist Sprache für uns Menschen zentral als Kommunikationsmittel. Aber wir reden oder sprechen ja auch in Gedanken. Allein dieser Umstand, dass wir auch eine innere Sprache haben, zeigt, dass wir den Inhalt und die Form von Sprache trennen können. Wie das aber neuronal geschieht, und wie diese beiden Bereiche abgebildet werden, ist noch weitestgehend unklar. Das haben wir nun untersucht, indem wir Probanden instruiert haben, bestimmte Laute zu äußern oder eben auch nur zu denken. So konnten wir dann mit Hilfe des MEG zeigen, dass man den Inhalt und die Form – also Denken oder Aussprechen eines Inhalts – getrennt dekodieren kann, also die Informationen aus dem Gehirn auslesen kann.

Was sollten die Probanden genau tun?
Wir haben die Hirnaktivität der Probanden aufgezeichnet, während sie eine einfache Vokalisierungsaufgabe ausführten. Sie mussten sich einen von zwei Vokalen vorstellen oder laut äußern. Welche Aufgabe sie in dem jeweiligen experimentellen Durchgang ausführen sollten, wurde ihnen auf einem Bildschirm gezeigt. Es gelang uns schließlich, in den Gehirnsignalen den Vokal zu identifizieren, den die Probanden vokalisieren sollten – und zwar bereits ein paar Sekunden vor der Ausführung. Dies war unabhängig davon, ob sie ihn später laut äußerten oder ihn sich lediglich vorstellten. Das deutet darauf hin, dass der Sprachinhalt abstrakt im Gehirn repräsentiert wird. Auf diese Weise kann er über verschiedene Produktionsformen generalisiert werden – wie etwa der stummen inneren Stimme oder lauten verbalen Äußerungen. Mit dem MEG messen wir dabei die Dynamik der Gehirnaktivität mit einer sehr hohen zeitlichen Auflösung im Millisekunden-Bereich und können somit die Dynamik der neuronalen Information auch während der Versuchswiederholungen genau verfolgen. 

Was möchten Sie mit diesen Studienergebnissen langfristig erreichen?
Es gibt zwei Richtungen oder Fragestellungen: Die eine Fragestellung ist eine grundlagenwissenschaftliche, also wie Vokalisation, Sprechen und Denken überhaupt zusammenhängen. Diese grundlegenden neuronalen Prozesse haben wir noch nicht verstanden. Inwieweit entspricht die neuronale Repräsentation eines gesprochenen Worts zum Beispiel einer Abfolge der Repräsentation von Lauten oder unterscheidet sich davon? Diese Fragen sind grundlagenwissenschaftlich wichtig, wenn wir überhaupt verstehen wollen, wie wir sprechen oder eben auch sprachlich denken. Die zweite Richtung, die uns interessiert, ist die translationale Perspektive, also die klinische Anwendung. So könnten unsere Ergebnisse hilfreich sein, um zum Beispiel Sprachprothesen für Menschen zu entwickeln, die selbst nicht mehr motorisch sprechen können – also für die Entwicklung von Geräten, die neuronale Signale aus dem Gehirn auslesen und dann Sprache produzieren.
 

Wird es mit dieser Methode möglich sein, auch Gedanken zu lesen?
Ich denke, die Frage, ob man Gedanken lesen kann oder nicht, ist nicht so einfach mit Ja oder Nein zu beantworten, weil wir uns zunächst verständigen müssen, was wir mit „Gedankenlesen“ meinen.  Wenn wir damit einfach meinen, aus neuronalen Signalen Rückschlüsse über kognitive Inhalte oder Zustände zu ziehen, so lesen wir in diesem Sinne in den Neurowissenschaften sehr oft Gedanken. Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen ja häufig, welche messbaren neuronalen Signale mit welchen kognitiven Inhalten oder Zuständen von Menschen zusammenhängen. In diesem Sinne ist es also nichts Neues, dass wir Gehirnsignale messen, die etwas mit den Gedankeninhalten von Menschen zu tun haben. Die Frage ist, wie gut können wir das? Wenn wir nämlich mit „Gedankenlesen“ meinen, dass wir komplexe Inhalte von Gedanken treffsicher vorhersagen können, dann würde ich sagen, dass wir das in der aktuellen Studie nicht tun. Die Vorhersage einer von zwei möglichen Lautäußerungen verstehe ich nicht als Vorhersage komplexer Gedanken, und in diesem Sinne nicht als „Gedankenlesen“. Aber es gibt natürlich auch andere Studien und Entwicklungen, in denen andere Methoden verwendet werden, mit denen man mittlerweile durchaus schon komplexere kognitive Inhalte aus Gehirnaktivität auslesen kann.
 

Das hört sich alles sehr technisch an. Welche Ausbildung haben die Mitarbeitenden in Ihrer Abteilung? 
Das ist, wie so oft in den Neurowissenschaften, sehr unterschiedlich. Es sind zum Teil Mediziner, wie ich selbst, aber auch Wissenschaftler, die aus der Physik, Mathematik, Informatik, Biologie oder Psychologie kommen. Unsere Forschung ist sehr interdisziplinär und erfordert ein breites Spektrum an Methoden. Man muss daher alle diese Expertisen integrieren, um den wissenschaftlichen Fragestellungen gerecht zu werden und diese erfolgreich adressieren zu können. 

Sie sind Neurowissenschaftler, haben aber auch Philosophie studiert. Haben Sie auch ein geisteswissenschaftliches Interesse an Ihrer Forschung?
Ich verstehe mich primär als Naturwissenschaftler. Aber natürlich berührt unsere Forschung immer wieder Themen, die auch aus philosophischer Perspektive interessant sind: Etwa der Zusammenhang zwischen Geist und Materie, oder Fragen nach den Grundlagen von Bewusstsein und Subjektivität. Auch ethische und epistemologische Fragen, die philosophischer Natur sind, stellen sich immer wieder in unserer Forschung. 
 

"Unsere Ergebnisse könnten hilfreich sein, um zum Beispiel Sprachprothesen für Menschen zu entwickeln, die selbst nicht mehr motorisch sprechen können - also für die Entwicklung von Geräten, die neuronale Signale aus dem Gehirn auslesen und dann Sprache produzieren. "

Welche Pläne oder Wünsche haben Sie für Ihre Abteilung und für Ihre Arbeit? 
Eine Frage, die mich fasziniert und die wir auch langfristig bearbeiten, ist es den Zusammenhang zu verstehen zwischen den Informationen, die im Gehirn kodiert werden - also zum Beispiel den Inhalten von Sprachlauten, über die wir gerade gesprochen haben - und der vielfältigen Dynamik, die wir im Gehirn finden. Das Gehirn ist ein dynamisches System, mit verschiedenen Hirnrhythmen, die in ihrer Stärke moduliert werden und Regionen, die miteinander Netzwerke bilden und sich synchronisieren. Nur: Wie werden aus diesem Konzert der Hirnregionen und Nervenzellen, Informationen, die im Endeffekt das sind, was wir als unser Denken und Handeln erleben? Diesen Zusammenhang wollen wir langfristig besser verstehen. Zugleich beleuchten wir unserer Abteilung gerade etwas ganz Neues, was uns sehr fasziniert…

Hört sich spannend an…
Für das MEG benutzt man wie gesagt bestimmte, sehr empfindliche Quantensensoren, um die Magnetfelder des Gehirns zu messen. Nun gibt es zurzeit sehr spannende neue technische Entwicklungen von Sensoren, die sehr viel mobiler als die bislang verfügbaren Sensoren sind. Diese Sensoren eignen sich nun sehr gut dafür, nicht nur Gehirnaktivität, sondern auch Muskelaktivität zu messen. Denn nicht nur unser Gehirn verursacht magnetische Felder, sondern auch unsere Muskeln. Das ist ein ganz neues Gebiet, auf dem wir mit unserer Abteilung sehr aktiv sind – insbesondere auch um herauszufinden, welche neuen diagnostischen Möglichkeiten es mit Hilfe dieses Verfahrens, der sogenannten Magnetomyographie (MMG), im klinischen Bereich gibt. 
 

Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)  in Tübingen ist eines der bundesweit größten und modernsten Zentren zur Erforschung neurologischer Erkrankungen. Das HIH ist ein modellhaftes Forschungszentrum im Zusammenspiel öffentlicher Ressourcen und privater Stiftungsmittel: Es wurde 2001 von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, dem Land Baden-Württemberg, der Eberhard Karls Universität Tübingen, ihrer medizinischen Fakultät sowie dem Universitätsklinikum Tübingen gegründet und 2004 eröffnet.

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Welche Erkrankungen haben Sie dabei im Blick?
Vor allem neuromuskuläre Erkrankungen, bei denen bislang die Elektromyographie (EMG) als diagnostische Methode zum Einsatz kommt. Wir untersuchen die Frage, ob und in welchen Fällen die Magnetomyographie einen komplementären Beitrag leisten kann. Außerdem interessiert es uns, generell zu verstehen, welche Anwendungsmöglichkeiten sich noch mit diesen neuen Quantensensoren ergeben. So sind andere Anwendung, denen wir aktuell nachgehen etwa die Prothesensteuerung, für die man bisher weitestgehend elektrischen Signale nutzt, oder die Neurographie, also die Messung der Aktivität peripherer Nerven. Wir haben also noch viel vor.  

INFO  Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung    

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