AF_Angelina_Boerger_2023F_005__k.jpg
Angelina Boerger, Foto: Annika Fußwinkel
Interview über das Leben mit ADHS

Wir Menschen mit ADHS sind perfekt darin, auf alles und jeden Rücksicht zu nehmen

Im Interview berichtet Angelina Boerger, wie sie die Herausforderungen und Chancen des Lebens mit ADHS meistert und dabei als Bestseller-Autorin und renommierte Journalistin neue Wege für die Akzeptanz und das Verständnis von Neurodiversität ebnet.
Gehirn erforschen

Quick Read: Worum es geht

Im Interview spricht die Journalistin Angelina Boerger über ihre Erfahrungen als Erwachsene mit ADHS, eine Thematik, die sie in ihrem Bestseller-Buch "Kirmes im Kopf" behandelt. Boerger, die ihre Diagnose erst mit 29 Jahren erhielt, beleuchtet die Herausforderungen und Missverständnisse, die Frauen mit ADHS häufig begegnen, sowie die Schwierigkeit, eine angemessene Diagnose zu erhalten. Sie betont die Bedeutung von Selbstakzeptanz und erklärt, wie ADHS ihre Karriere als Journalistin und Speakerin positiv beeinflusst hat. Darüber hinaus thematisiert sie die Notwendigkeit einer inklusiveren Gesellschaft, die neurodiverse Menschen besser unterstützt.

Lange Zeit galt ADHS als Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung, die vor allem Kinder und Jugendliche betrifft. Dabei sind hierzulande auch rund 2,5 Millionen Erwachsene betroffen. Welche Therapiemöglichkeiten gibt es? Und was sagt die Forschung? Fragen, um die es am 23. November auf dem Neuroforum „ADHS und Arbeit – zwischen Chaos und Kreativität“ in Frankfurt geht. Doch was bedeutet es, als Erwachsener plötzlich eine ADHS-Diagnose zu bekommen? Die Journalistin Angelina Boerger (32) berichtet von dieser eigenen Erfahrung in ihrem Buch „Kirmes im Kopf“ und landete gleich einen Bestseller, ihrem gleichnamigen Instagram-Account folgen täglich mehr als 76.000 Menschen. Es gibt also Informationsbedarf. Warum Frauen es schwerer haben, eine ADHS-Diagnose zu bekommen, worauf es im Job ankommt, und was wir alle über Menschen mit ADHS wissen sollten, erzählt Angelina Boerger in unserem Interview. 

Sie haben unser Interview drei Mal sehr kurzfristig abgesagt oder verschoben. Ist das jetzt schon ein ADHS-Merkmal, oder war das einfach nur Pech wegen der Umstände?

(lacht) Wahrscheinlich eine Kombination aus beidem! Menschen mit ADHS haben tatsächlich häufig Probleme mit dem Zeitgefühl, aber auch mit dem Priorisieren und Organisieren von Terminen. Bei mir kommt dann auch noch einiges zusammen, weil ich ja mit der ADHS-Aufklärungsarbeit überall in Deutschland unterwegs bin und das dann manchmal kollidiert.

Was sind denn die typischen Merkmale einer ADHS-Erkrankung?

ADHS hat unterschiedliche Erscheinungsbilder, die sich im Laufe eines Lebens verändern können. Die Grundsymptome sind eine stark ausgeprägte Impulsivität, Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität. In der Diagnostik unterscheidet man dann noch zwischen drei Subtypen: Die erste Form wird als „überwiegend unaufmerksam“ bezeichnet und fällt vor allem durch Konzentrationsschwierigkeiten oder leichte Ablenkbarkeit auf. Den „hyperaktiv-impulsiven“ Typ zeichnen vorwiegend Verhaltensweisen wie Zappeln, ständiges Reden oder Handeln, ohne nachzudenken aus. Die dritte Form ist der Mischtyp, den ich habe, also eine Kombination aus den ersten beiden. Zu den gängigen ADHS-Symptomen gehört aber vor allem die Schwierigkeit, Aufgaben zu organisieren, sich selbst zu aktivieren oder zu motivieren. Als zweites, den Fokus und die Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten, und auf eine Aufgabe zu lenken. Und als drittes, diese Aufmerksamkeit auch zu regulieren, sich also nicht ablenken zu lassen oder zu träumen. Es geht vor allem auch darum, die Verarbeitungsgeschwindigkeit aufrecht zu erhalten.

"Als würde man durch 500 Programme gleichzeitig zappen, aber jemand anders hält die Fernbedienung in der Hand."

Was meinen Sie damit?

Manchmal fühlt es sich so an, als wäre man im Sprint und ist superschnell mit Gedanken-Sprüngen und dem Erledigen von Aufgaben, viel schneller als jeder andere. Und dann dauert es wieder ewig, bis die Info irgendwie im Hirn ankommt, und man die Sache auch umsetzt und zu Ende bringt. Es fühlt sich dann an wie Kaugummi im Kopf. 

Wie haben Sie entdeckt, dass Sie ADHS haben?

Das war vor drei Jahren und absoluter Zufall. Ich habe eine Fernsehsendung gesehen, in der eine junge Psychologiestudentin über ihre späte Diagnose gesprochen hat. Jeder Satz, den sie sagte, war deckungsgleich mit meinem Leben. Zum Beispiel, dass es sich in ihrem Kopf so anfühlt, als würde man durch 500 Programme gleichzeitig zappen, aber jemand anders hält die Fernbedienung in der Hand. Man hat keine Kontrolle. Oder dass sich alltägliche Aufgaben manchmal so anfühlen, als wäre es der Mount Everest, obwohl es nur ein Hügelchen ist.

Sie haben Ihre Diagnose erst mit 29 Jahren bekommen. Woran liegt es, dass ADHS oftmals so spät erkannt wird?

Das ist vor allem bei Frauen so, weil sie sehr gut in diesem sogenannten „Masking“ sind, also die störenden Verhaltensweisen zu unterdrücken, zu maskieren und nach außen nicht aufzufallen. Es kann sich sogar ein gewisser Perfektionismus daraus entwickeln, nach außen immer den Schein zu wahren. Alles ist super, alles ist gut, kriege ich auch noch hin. Ich brauche keine Hilfe. Alles klappt schon, um es allen irgendwie recht machen zu wollen. Das liegt einfach daran, dass wir auch heute noch diese Erwartungen an die Rolle der kleinen Mädchen haben: Die sind halt eher schüchtern und ruhig, zurückhaltend, ordentlich und fleißig und vielleicht ein bisschen verpeilt. Bei kleinen Jungen ist es, was ADHS angeht, anders: Dort sehen wir eher das Hyperaktive, Unkonzentrierte, Impulsive und haben unsere Brille darauf geschärft. Weil diese Hyperaktivität bei Mädchen und Frauen mehr im Verborgenen stattfindet und eher als eine innere Unruhe auftritt, ist das eben das Problem.

Wie hat sich Ihr Blick auf Ihre Kindheit nach der Diagnose verändert?

Rückblickend ergab plötzlich alles Sinn. Ich war in der Schule häufig auffällig, galt als „Störenfried“ und „Labertasche“, einige Lehrer waren echt genervt von mir. Viele der Symptome konnte ich aber auch kompensieren, also unterdrücken oder mich anpassen. Es kommt immer darauf an, welche Ressourcen man zur Verfügung hat. Ich hatte zum Glück ein stabiles, liebendes Elternhaus. Dann gab es damals den Verdacht auf Hochbegabung, also eine gewisse Intelligenz, die vieles ausgeglichen hat. Aber ich kenne das Masking auch: Man lernt als Mensch mit ADHS sehr schnell, was von der Gesellschaft erwünscht ist und was nicht. Aber zu einem sehr hohen Preis, der sich häufig in Folgeerkrankungen und Störungen zeigt.

 Welche Störungen sind das?

Am häufigsten Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen, aber auch Essstörungen und Schlafstörungen. Es ist eine endlos lange Liste und kann eine ADHS oft überlagern. Wenn man dann keine Diagnose hat und entsprechend behandelt wird, liegt der Fokus der Ärzteschaft eben auf diesen Störungen. Deswegen dauert es auch oft so lange, bis eine ADHS überhaupt erkannt wird.

Was hat sich seit Ihrer Diagnose verändert? Können Sie sich noch an den Tag erinnern?

Für mich war es ein Tag voller Glück und Freude, weil ich endlich Antworten hatte. Ich konnte Frieden mit mir selbst schließen. Gleichzeitig hat die Diagnose neue Fragen aufgeworfen, mal weil ich dachte: „Okay, was mache ich jetzt mit der Info? Mit wem teile ich die? Was sind jetzt Möglichkeiten? Was sind aber auch Dinge, die ich lernen möchte zu akzeptieren?“ Das ist seitdem ein Prozess. Ich habe eine Psychotherapie gemacht und eine medikamentöse Therapie begonnen, die ich auch immer noch fortführe. Und ich tausche mich sehr viel mit anderen Menschen mit ADHS-Erfahrung aus. Das hilft mir sehr. Ich teile mich auf Instagram mit, gehe auf Lesereise, halte Vorträge. Durch diese Arbeit beschäftige ich mich fortlaufend mit dem Thema und erlange immer mehr Wissen, um überhaupt zu verstehen, wie das eigene Gehirn funktioniert, und wo es eben aneckt. Es ist ja nun mal so, dass diese Art zu denken, zu fühlen und zu handeln von außen nicht vollkommen akzeptiert wird.

Sie erleben es sicher immer wieder, dass Ihre ADHS-Symptome fälschlicherweise Ihrem Charakter zugeschrieben werden. Was macht das mit einem?

Kränkung und Kritik spielen eine sehr große Rolle für Menschen mit ADHS. Natürlich beeinflusst ADHS auch meine Persönlichkeit. Das ist untrennbar voneinander. Das größte Vorurteil aber ist, dass ADHS als eine Verhaltensstörung gesehen wird, was es nicht ist. Es ist eine neuro-chemisch bedingte Störung. In unserem Gehirn fehlt es an Dopamin, einem Botenstoff zwischen den Nervenzellen. Zu einem Diabetiker, dem es schlecht geht, weil ihm Insulin fehlt, würde man ja auch nicht sagen: „Reiß dich mal zusammen.“ Als Mensch mit ADHS bekommt man aber ständig dieses Gefühl vermittelt: „Das ist dein Verhalten. Das ist deine Schuld. Das musst du in den Griff bekommen!“ Deswegen fühlen sich Eltern von Kindern mit ADHS oft so schuldig, weil immer noch dieses Vorurteil besteht: „Du hast in der Erziehung etwas falsch gemacht.“ Dieses Gefühl, als Mensch nicht richtig zu sein, kennen alle, die mit ADHS zu tun haben.

Was sollte das Umfeld von Menschen mit ADHS unbedingt berücksichtigen?

Wir wirken oftmals viel robuster als wir sind. Dieses Haushalten mit Energie ist einfach sehr schwierig. Es gibt eben die Problematik, dass man oft gerne würde, aber dann, wenn es kurz vor der Tür steht, doch nicht kann. Dass man die Verabredung absagt, dass man als unzuverlässig gilt, dass man Sachen irgendwie verschwitzt, Geburtstage, wichtige Veranstaltungen oder Momente, dass man eben auch vergisst zu antworten. Auch mein Partner hat schon zwanzig Minuten mit dem Hund im Regen Sturm klingelnd vor der verschlossenen Haustür gestanden, weil ich ihm gesagt hatte: „Ich bleibe hier, Du musst keinen Schlüssel mitnehmen“ - und ich dann kurz darauf bei megalauter Musik ausgiebig duschen gegangen bin und mein Handy auf lautlos hatte… Gleichzeitig hat man dann auch immer das Gefühl, eine schlechte Partnerin, Freundin, Tochter, Schwester, was auch immer zu sein. Dieses Gefühl kann einem auch nur schwer genommen werden, selbst wenn andere sagen „Nee, du bist mir nicht zu viel.“ Das kann man dann oft nicht glauben und ist überfordert, weil das eigene Verhalten so anstrengend oder nervig für andere ist. Viele Frauen ziehen sich dann zurück, weil man niemanden belasten möchte. Männer neigen dann eher dazu, ins außen zu gehen. Sie sagen sich quasi: „Dann bin ich jetzt halt so, wie ihr es erwartet, dann bin ich halt scheiße, dann bin ich halt aggro, dann bin ich halt das Problem.“

Gibt es positive Eigenschaften oder Fähigkeiten, die Sie Ihrer ADHS zuschreiben?

Auf jeden Fall! Bei mir persönlich und auch bei vielen anderen Menschen mit ADHS gibt es eine sehr ausgeprägte Kreativität, außerdem eine sehr große Empathiefähigkeit verbunden mit einem starken Gerechtigkeitssinn. Weil es eben bei uns eine sehr hohe Emotionalität und Sensibilität gibt. Ich bin außerdem ein sehr euphorischer, enthusiastischer Mensch, der andere gut mitreißen kann. Ich bin spontan, sehr flexibel, kann mich blitzschnell an Situationen anpassen. Das ist eben auch von Vorteil.

Welchen Einfluss hat die Diagnose auf Ihre Arbeit?

Journalistin zu sein, und am besten noch ein Mikro in der Hand zu haben, ist für mich der Jackpot. Schon vor meiner Diagnose stand für mich fest: Ich möchte etwas machen, wo ich endlos labern und schreiben kann. Wo es viel Tagesaktualität gibt oder sich die Themen schnell ändern, man in Projekten arbeitet und nicht schon weiß, dass man die nächsten 30 Jahre dasselbe macht. Viel Austausch mit Leuten, intensive Sprintphasen, weniger Marathon. Das ist für mich von Vorteil. Dass ich mich nun als Speakerin irgendwo hinstelle und meine vielen Worte und mein lautes Organ für etwas Sinnhaftes wie die Aufklärung über ADHS nutzen kann, ist perfekt für mich.

Welchen Tipp haben Sie für Erwachsene mit ADHS, die an ihrem Arbeitsplatz nicht so große Freiheit und Flexibilität erleben?

Immer darauf zu achten, was die eigenen Bedürfnisse sind. Was brauche ich von meinem Arbeitgeber und dem Kollegium? Vielleicht etwas mehr Abwechslung in den Aufgaben und mehr Spielraum für Kreativität. Oder eben auch: Was bringe ich mit? Wo kann man meine Qualitäten einsetzen? Menschen mit ADHS haben oftmals andere Lösungsansätze im Kopf, weil sie eben anders ticken. Wichtig ist es auch, sich am Arbeitsplatz Verbündete zu suchen, denen man sich anvertrauen kann. Die einfach darauf achten, dass man nicht zum wiederholten Mal die Mittagspause vergisst, weil man gerade so im Tunnel ist. Das wäre alles der Idealfall. Leider trauen sich viele Menschen noch nicht mal, sich eine ADHS-Diagnose stellen zu lassen, weil sie am Arbeitsplatz mit negativen Konsequenzen rechnen.

"Leider trauen sich viele Menschen noch nicht mal, sich eine ADHS-Diagnose stellen zu lassen, weil sie am Arbeitsplatz mit negativen Konsequenzen rechnen."

Inwiefern?

Mir schreiben zum Beispiel viele Lehrkräfte, die sehr gerne eine Diagnose hätten, aber das nicht machen, weil sie befürchten, dann nicht verbeamtet zu werden. Es gibt auch die große Angst, aus der Berufsunfähigkeitsversicherung herauszufliegen. Da gibt es noch viel Diskriminierung. Und es gibt Menschen, die sich selbst bewusst beruflich unterfordern, weil sie Angst haben, Fehler zu machen. Aber genauso welche, die sich überfordern, weil sie super oft einen Jobwechsel hinlegen, um eben immer etwas anderes ausprobieren zu können. Aber es gibt auch ganz viele, die sich intuitiv sehr glücklich entschieden haben für Jobs, in denen sie aufblühen, und genau all diese positiven Seiten von ADHS irgendwie freisetzen können.

Ihr Instagram-Kanal „Kirmes im Kopf“ hat mehr als 76.000 Follower. Welche Probleme treiben diese Menschen am stärksten um?

Häufig geht es um Themen wie: „Ich finde keinen Platz für die Diagnostik“ oder „Wo bekomme ich Hilfe?“. Aber sehr oft auch: „Mir wird nicht geglaubt“. Es ist wieder dieser Teufelskreis. Nach außen wirkt bei einem Menschen mit ADHS oft alles perfekt. „Sie haben doch alles im Griff“, heißt es. Ja, aber dahinter steht ein Kartenhaus, das sich anfühlt, als würde es jede Sekunde zusammenbrechen können. Deswegen sitzen diese Menschen dann beim Arzt oder der Ärztin und bitten um Hilfe. Dann kommt oft: „Sie sind doch aber erfolgreich und haben eine intakte Familie. Das ist untypisch für ADHS.“ Es gibt noch immer viele Vorurteile, leider auch von Leuten „vom Fach“. Hinzu kommt: Die Wartezeit, um einen Platz für die Diagnostik zu bekommen, liegt in vielen Bundesländern bei bis zu 18 Monaten. Und dann muss man noch ewig auf einen Therapieplatz warten.

Gehirn erforschen

Neurowissenschaften bei der Hertie-Stiftung: Schwerpunkte bilden die Förderung klinischer Hirnforschung und Projekte im Bereich der Grundlagenforschung sowie die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Darüber hinaus unterstützen wir neurowissenschaftliche Initiativen für innovative Forschungs-, Bildungs- und Kommunikationsformate. Eine Übersicht über den Förderbereich „Gehirn erforschen“ und seine Aktivitäten bekommen Sie hier:

Mehr erfahren

Was kann man selbst tun, um mit der eigenen ADHS einen Umgang zu finden?

Wenn die Diagnose da ist, dann sollte man in die Akzeptanz gehen. Und vor allem Selbstmitgefühl entwickeln. Wir Menschen mit ADHS sind perfekt darin, immer auf alles und jeden Rücksicht zu nehmen, uns alles zu erklären und ganz tolerant und verständnisvoll für jeden Menschen und jede Situation zu sein. Nur mit uns selbst gehen wir immer unglaublich hart ins Gericht. Da brauchen wir einfach mehr Selbstmitgefühl. Vielen hilft dabei eine Psychotherapie. Aber auch Selbsthilfegruppen, in denen man Verbündete findet, denen es ähnlich geht, können eine große Unterstützung sein. Ergotherapie oder eine medikamentöse Therapie sind auch Möglichkeiten. Wichtig sind außerdem Wissen und Information, um das eigene Gehirn erstmal besser zu verstehen.

Sie haben neulich auf Ihrem Instagram-Account geschrieben: „Ich weiß, dass es mir nie dauerhaft gut gehen wird, aber das ist okay.“  Was meinen Sie damit?

Dass ich für mich gelernt habe, dass bei mir alles in Wellen kommt, und dass ich eben niemals diesen Punkt erreichen werde, an dem alles gut ist. Sondern dass es für mich ausreicht, wenn es immer wieder bessere Phasen gibt, die die schlechteren Phasen ablösen. Das ist es, was mich antreibt und am Leben hält, dass ich weiß, nach dem Tal kommt auch wieder das Hoch, nach dem Regen kommt wieder die Sonne. Und dass ich für mich auch akzeptiere, dass ADHS etwas Chronisches ist. Wobei ich ADHS für mich nicht als Krankheit definiere, sondern es ist eine Neurodivergenz. Es ist nur ein anderer Bauplan des Hirns. Das, was Menschen mit ADHS krank macht, und was den Leidensdruck erzeugt, ist unsere defizitäre Sicht darauf. Dieser Umgang damit, dass wir ADHS als etwas sehen, was nicht in Ordnung ist, was kaputt ist, was man reparieren muss. Das erzeugt den Leidensdruck, und das macht krank.

Welche persönlichen Wünsche haben Sie für sich?

Meine Vision ist eine inklusivere, diversere und vielfältigere Welt, die Menschen mehr Teilhabe ermöglicht, und zwar unabhängig von dem, was sie leisten können. Und gelichzeitig sollte es uns gelingen, früh diese Potenziale freizulegen, die auch in Menschen mit ADHS schlummern. Mein Wunsch ist es, flächendeckend aufzuklären. Ich möchte eine Plattform schaffen, auf der sich Menschen mit ADHS austauschen können, auf der sie wissenschaftlich fundierte, moderne, aktuelle Informationen bekommen, aber auch Unterstützung. Jeder so, wie er oder sie es braucht. Und dass man irgendwann auch so was wie ein physisches Treffen, eine Konferenz von Menschen mit ADHS für Menschen mit ADHS erschaffen kann. Ja, das ist mein Wunsch, einfach dafür zu sorgen, dass es diesen Menschen besser geht und sie gesünder sind, als sie es vielleicht vorher waren.

INFO  Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung  

Das Interview hat dich zum Nachdenken angeregt? teile es