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Prof. Gökçe Yurdakul, Foto: Serkan Turna
Interview über aktuelle Migrationsdebatten, März 2023

Die 'Clan'-Debatte lässt arabische Kinder leiden

Die neue Co-Direktorin des Berliner Instituts für Migrationsforschung im Interview über ihre Einschätzung des aktuellen Diskurses über „arabische Clans“ und ihre Pläne für das Forschungsinstitut.
Demokratie stärken

Seit Anfang des Jahres ist die Soziologin Prof. Gökçe Yurdakul neue Co-Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Sie folgt damit auf Prof. Naika Foroutan und leitet das BIM, das 2014 auf Initiative der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung gegründet wurde, gemeinsam mit Prof. Herbert Brücker. Welche Pläne die Soziologin für das BIM als Interdisziplinäres Zentrum der Humboldt-Universität hat, wie sie die aktuelle Migrationsdebatte einschätzt - und warum Sport ihre Leidenschaft ist, erzählt sie in unserem Interview.  

Sie gehören dem BIM seit seiner Gründung vor fast zehn Jahren an. Nun leiten Sie das Institut als Co-Direktorin. Ein später Triumph - oder wie fühlt sich das an?

Das fühlt sich sehr gut an. Vor allem, weil ich eine Vorbildfunktion habe für Wissenschaftlerinnen mit Migrationshintergrund, insbesondere für Frauen, die an den Universitäten im Nahen Osten studieren oder arbeiten. Ich selbst stamme aus der Türkei. Es macht mich stolz, wenn diese Frauen sehen, dass da jemand ist, der in Istanbul geboren wurde und Deutsch als Drittsprache spricht, nun eine leitende Position an einer deutschen Universität bekommen kann. Das motiviert sie für ihre eigenen Karrieren.

"Es macht mich stolz, wenn diese Frauen sehen, dass da jemand ist, der in Istanbul geboren wurde und Deutsch als Drittsprache spricht, nun eine leitende Position an einer deutschen Universität bekommen kann.  "

Welche Akzente wollen Sie als Direktorin setzen, was planen Sie? 

Mein großer Herzenswunsch ist, dass die deutsche Migrationsforschung stärker internationalisiert wird, deshalb möchte ich noch mehr internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Netzwerke und auch Forschung ans BIM bringen. Unser Institut hat in der Migrationsforschung schon heute eine sehr anerkannte Position in Europa, aber ich möchte die Perspektive vor allem in Richtung USA und Kanada erweitern, beides Migrationsländer. Ich selbst habe in Kanada an der Universität Toronto promoviert und mit dieser Institution möchten wir eine strategische Forschungspartnerschaft aufbauen. Ich war auch Gastwissenschaftlerin in Harvard am Weatherhead Center for International Affairs und möchte die Erfahrungen der Kolleginnen und Kollegen dort ins BIM einbringen. Ein weiteres Ziel ist es, intensiver mit den Universitäten der Nahost-Region zusammenzuarbeiten, zum Beispiel mit Institutionen in der Türkei oder dem Libanon. Das wird nicht immer einfach sein, weil die politische Lage dort schwierig ist, aber wir sollten uns nicht nur auf westliche Länder beschränken, sondern auch Länder in Nahost betrachten, die sehr viele Asylbewerber und Migranten haben. Ich sehe eine wichtige Funktion für das BIM, als Brückenbauer zu agieren, und die Forschung hierzulande, in Nordamerika und in Ländern wie der Türkei und dem Libanon zu verbinden. Als Direktorin werde ich in den nächsten zwei Jahren an diesen Zielen arbeiten. 
 

Unterrichten Sie weiterhin oder bleibt dafür nun keine Zeit?

Ich unterrichte weiterhin sieben Stunden pro Woche; mein Forschungsschwerpunkt ist Migration, vor allem die Bereiche Diskriminierung, Rassismus, Genderthemen und Ungleichheit. Die Qualität meiner Studierenden ist sehr hoch. Ich habe ein digitales Seminar zu Staatsbürgerschaft und Migration angeboten, und weil ich auf englisch unterrichte, waren Studierende aus der ganzen Welt dabei, wie zum Beispiel aus Großbritannien, den USA oder Indonesien. Das war für uns alle sehr interessant, weil jeder seine akademischen Erfahrungen einbringen konnte. Mir macht solch ein Austausch sehr große Freude, es ist eine Bereicherung für den Diskurs und für das BIM. Ich kann wirklich behaupten: Ich liebe meine Arbeit und Unterricht gehört für mich unbedingt dazu.
 

Die aktuelle Migrationsdebatte in Deutschland wird immer wieder sehr hitzig geführt, vor allem heizen Vorfälle wie die Silvesterkrawalle oder Berichte über „arabische Clans“ den Diskurs an. Was ist zu tun, um das Feld nicht den Populisten zu überlassen?

Das ist eine sehr gute Frage. Wir haben in Deutschland eine polarisierte Debatte über diese Themen, insbesondere im Diskurs über so genannte „arabische Clans“ habe ich immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass wir eine nuancierte Debatte führen müssen. Natürlich gehören nicht alle arabischen Männer hierzulande zu „Clans“, auch wenn es tatsächlich organisierte Kriminalität in ethnischen Gruppen gibt. Aber man darf nicht alle arabischen Männer und Jungen stigmatisieren. Zum Beispiel gibt es in den Schulen in dieser Hinsicht sehr viel Mobbing gegen arabische Jungen, und die Jugendlichen und Kinder leiden sehr darunter. Eine aktuelle BIM-Studie, die wir im Februar 2023 veröffentlich haben, zeigt, dass in den vergangenen zehn Jahren die „Clan“-Berichterstattung der Leitmedien rassistischen Narrativen folgte. Dies trifft besonders arabische Familien, die in den Diskursen als „arabische Clans“ bezeichnet und als Teil kriminellen Verwandtschaftsnetzwerken dargestellt wurden, obwohl sich die meisten in Deutschland lebenden Menschen mit arabischen Wurzeln deutlich von Kriminalität distanzieren.

Es sollte also in den Medien und in den Schulen etwas gegen diese Vorverurteilungen unternommen werden, zum Beispiel durch spezielle Unterrichtsmaterialien, Diskussionsrunden und präzisere Berichterstattung. Auch im wissenschaftlichen Umfeld sollte auf diese Problematik immer wieder hingewiesen werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sich verbitterte junge Menschen ausgegrenzt fühlen und gegen die Gesellschaft oder den Staat rebellieren, auch mit Gewalt. 
 

Kommunen in Deutschland melden besorgt, dass sie keinen Platz mehr für den großen Zustrom an Geflüchteten haben. Was ist zu tun, um den gesellschaftlichen Frieden nicht zu gefährden?

Ich kann die Menschen gut verstehen, die dagegen protestieren, dass in ihrer Gemeinde, in der es vielleicht ohnehin an vielem fehlt, jetzt auch noch neue Asylbewerberheime gebaut oder noch mehr Geflüchtete untergebracht werden sollen. Das Problem sind aber nicht die Migranten oder Geflüchteten, sondern die in vielen Regionen fehlenden Zukunftsperspektiven, bröckelnde Infrastruktur und mangelnde Personalausstattung. Oft fehlt es seit langem an Lehrkräften, Kita-Plätzen, guten Jobs oder bezahlbarem Wohnraum.  Wenn dann die sowieso schon überstrapazierten Ressourcen auch noch mit immer mehr Zugewanderten geteilt werden müssen, dann ist die Unzufriedenheit mancher Bürgerinnen und Bürgern verständlich. Die Kommunen müssen also dringend mehr Unterstützung bekommen, vor allem finanzieller Art. Der Staat darf Städte und Regionen nicht allein lassen. 

Die Türkei, wo ich herkomme, ist ein trauriges Gegenbeispiel: Viele Menschen aus Syrien und Afghanistan leben dort in Zelten, manche Frauen prostituieren sich und viele Männer arbeiten unter schlechten Bedingungen ohne Krankenversicherung. Es ist so schlimm, weil kaum etwas geregelt ist, wie in einer Parallelwelt. Deswegen müssen wir unbedingt sicherstellen, dass die Kommunen von der Politik unterstützt werden. Wir müssen ausreichend Kapazität an Wohnraum oder Infrastruktur anbieten, so dass die Bevölkerung vor Ort nicht an ihre Grenzen kommt. Wir haben seit einiger Zeit eine polarisierte Stimmung zu Migrationsthemen in Deutschland, deshalb gilt es hier, besonders aufmerksam zu sein und Gefahren zu erkennen, damit der gesellschaftliche Frieden standhält und die Demokratie gestärkt wird.  

Welche Bedeutung hat Ihre eigene Migrationsgeschichte für Ihre Arbeit?

Ich bin in der Türkei aufgewachsen, dann nach Kanada ausgewandert, wo ich zehn Jahre gelebt habe. Dann ging es nach Irland. Mein damaliger Mann ist Deutscher, deswegen sind wir nach Berlin gekommen. Ich bin jetzt seit 13 Jahren hier, meine Tochter ist in Berlin geboren, wir haben die deutsche Staatsangehörigkeit, und ich habe hier meine Heimat gefunden. Dennoch bringe ich von allen Kulturen, in denen ich gelebt habe, etwas mit. Vor allem das Verständnis von Inklusivität und Multikulturalität, also dass Menschen akzeptiert und einbezogen werden, egal, welchen Hintergrund sie haben. In meinem Forschungsumfeld lege ich deshalb viel Wert auf Vielfalt und Inklusion. Das macht mich und meine Arbeit aus. 

Wie schalten Sie nach einem intensiven Arbeitstag ab?

Durch Sport. Ich habe eine Gruppe von Frauen, mit der ich zum Joggen gehe oder durch die Parks der Stadt spaziere. Vor zwei Jahren haben wir am Halbmarathon in Berlin teilgenommen und es sogar erfolgreich über die Ziellinie geschafft, so dass es eine Medaille gab. Sport ist meine absolute Leidenschaft, ich gehe auch jede Woche schwimmen. Die körperliche Bewegung hilft mir, den Kopf freizubekommen, und neue Energie zu tanken. 

Welches Buch würden Sie immer wieder empfehlen?

„Frausein“ von der Kolumnistin Mely Kiyak. Die Autorin, Tochter eines kurdischen Einwanderers, erzählt vom Aufwachsen in Deutschland und dem Leben zwischen zwei Kulturen. Eine interessante und wichtige Lektüre, die zum Nachdenken anregt. 

Sie haben die Wahl: Mit wem würden Sie gern mal einen Kaffee trinken?

Mit Annalena Baerbock. Ich möchte mehr über die feministische Außenpolitik erfahren, für die sie sich stark macht. Das ist ein Meilenstein in Deutschlands Außenpolitik, die ja eher konservativ ist. Aber was sind ihre genauen Vorstellungen dazu? Das würde ich sie fragen. 

Trinken Sie überhaupt Kaffee - oder lieber Tee?

Auf jeden Fall Kaffee, ohne kann ich nicht leben.  
 

INFO  Text von Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung  

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