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Interview und Eckpunktepapier über Vor- und Nachteile des deutschen Gesundheitssystems, September 2023

Ein gutes Gesundheitssystem braucht vor allem Teamplay.

Christina Noll und Florian Graz zur Reform, Digitalisierung und effizienter Gesundheitsversorgung.
Gehirn erforschen

Christina Noll und Florian Graz, beide Hertie Fellows, betonen die Bedeutung von Teamplay in einem modernen Gesundheitssystem. Beim Hertie Summit 2022 haben sie mit Prof. Dr. Karl Lauterbach, Prof. Dr. Henriette Neumeyer und Dr. Ricarda Milstein über Reformvorschläge diskutiert und diese die in einem Eckpunktepapier festgehalten: Während die bevorstehende Krankenhausreform die Finanzierung adressiert, betonen Noll und Graz, dass andere Prozesse im Gesundheitssystem ebenfalls angepasst werden müssen. Dabei geht es um Digitalisierung, Personalbeschaffung und eine effiziente Gesundheitsversorgung. Eine breite und langfristige gesellschaftliche Debatte über die Erwartungen an das Gesundheitssystem erachten sie als notwendig und bisher nicht ausreichend.

Im Anschluss an Ihre Diskussionsrunde im Sommer 2022 zum patientenorientierten Leitbild im deutschen Gesundheitssystem haben Sie nun ein Eckpunktepapier zusammengestellt.  Was war Ihnen dabei wichtig?

Florian: Wir wollten den produktiven Prozess rund um die Diskussionsrunde nicht mit der Veranstaltung beim Hertie Summit 2022 zu Ende gehen lassen. Uns war es daher wichtig, die sehr heterogenen Kernpunkte des Gesprächs zusammenzufassen, aus unserer Sicht weiterzudenken und darzustellen. Dabei ist uns auch klar geworden, was für eine umfassende Aufgabe eine Reform der Gesundheitspolitik darstellt. Uns war es auch wichtig,  Menschen, die mit einem ganz anderen Blick auf diese Themen schauen, eine Übersicht an die Hand zu geben.

Christina: Die anstehende Krankenhausreform betrifft in erster Linie die Finanzierung und Finanzierbarkeit des Systems. Unsere Diskussion und das daraus entstandene Eckpunktepapier geht über die Thematik der Finanzierung hinaus. Es müssten alle beitragenden Prozesse fortlaufend an die veränderten Ansprüche unserer Gesellschaft und unseres Gesundheitssystems angepasst werden. Das Eckpunktepapier behandelt beispielsweise die Annäherung der beiden Sektoren mit zunehmender Ambulantisierung, die Digitalisierung in den Bereichen Dokumentation und Kommunikation, eine sachgerechte Personalausstattung, Optimierung von Arbeitsprozessen und -bedingungen…

Eckpunktepapier zum deutschen Gesundheitssystem

Eckpunktepapier

Denkanstöße zur Reform des deutschen Gesundheitswesens – auf einen Blick:

  • Finanzierung im Gesundheitswesen. Die Reform sollte über Fallpauschalen und Vorhaltekosten hinaus als ganzheitlicher planerischer Prozess unter Einbeziehung aller Akteure genutzt werden, um Finanzierungsinstrumente praxisnah zu gestalten und Umweltfaktoren (z.B. topographisch unterschiedliche Kosten) einzubeziehen. 

  • Qualität über Quantität. Nicht primär die Menge der Gesundheitsleistungen, sondern ebenfalls die Qualität dieser sollte aus finanzieller Sicht entscheidend sein und anhand von unabhängig erfassten, pragmatischen Indikatoren (z.B. Rehospitalisierungsrate abhängig von Komorbiditäten, Alter, Standort) eingeordnet werden, ohne dem patientennahen Personal die Erfassung aufzubürden. 

  • Planung der Leistungen einzelner Krankenhäuser. Eine gesellschaftliche Debatte über ein modernes Gesundheitssystem und dessen geforderte Leistungen ist notwendig, um eine ganzheitliche Planung und Strukturierung einer qualitativ hochwertigen Versorgung zu erzielen.  

  • Verstärkte Ambulantisierung des Gesundheitswesens. Durch bspw. Hybrid-DRGs sollte die bisher strenge Trennung der ambulanten und stationären Sektoren reduziert werden, um die Ambulantisierung voranzutreiben, dadurch stationäre Krankenhausaufenthalte zu verkürzen und eine patientennähere und -freundlichere Versorgung zu gewährleisten. Gleichzeitig sollten mehr Anreize für medizinische Besuche im häuslichen Umfeld geschaffen werden, um stationäre Aufenthalte zu reduzieren. 

  • Ausbau der Kommunikation zwischen den Sektoren. Eine bessere Kommunikation, die vor allem durch bessere personelle und digitale Ausstattung zu erreichen ist, ist vor allem zwischen stationärem und ambulantem Sektor, den Sozialdiensten der Krankenhäuser, Pflegediensten und -heimen, sowie ambulanten Pflegediensten und Palliativteams notwendig. 

  • Mehr Fokus auf Nachhaltigkeit und Nachversorgung. Langfristig nachhaltige Behandlungen, also edukative Patientenbetreuung zur Stärkung von gesundheitsbewusstem Verhalten und Rehabilitations- und Nachversorgungen, müssen finanziell und personell incentiviert werden.  

  • Optimierung des Personal-Patienten-Schlüssels. Die Personaldecke sollte so ausgestaltet werden, dass einer Fachkraft ausreichend Kapazität zur Bewältigung aller zu erledigenden Aufgaben und zur Versorgung aller ihr zugeteilten Patienten zur Verfügung steht, auch wenn es durch Urlaub und Krankheit zu Personalausfällen kommt.  

  • Reduzierung der Bürokratie. Ziel muss die Verbesserung der Prozesse im Gesundheitswesen und die Entlastung des Fachpersonals sein. Bürokratie sollte entsprechend  “so wenig wie möglich und so viel wie nötig” gestaltet werden. 

  • Förderung der Team- und Führungsfähigkeiten im Gesundheitswesen. Eine flächendeckende und kontinuierliche Entwicklung eines konstruktiven Arbeits- und Teamklimas sowie einer modernen Führungskultur in Krankenhäusern wird benötigt, um junge Fachkräfte und den festen Zusammenhalt zwischen ihnen zu erhalten und zu entwickeln.  

  • Unterstützung der Lehre in der Facharztausbildung. Eine bundesweit einheitliche Planung der Weiterbildungsordnung und Umsetzung der Facharztausbildung muss durch finanzielle Rahmenbedingungen sowie feste und integrierte Lehreinheiten im Klinikalltag gefördert werden.  

  • Mutiger Fortschritt der Digitalisierung. Eine zeitgemäße und hochwertige Gesundheitsversorgung benötigt den breiten Einsatz innovativer und gut durchdachter Digitalisierung, die effektive Prozesse ermöglicht, Interkonnektivität garantiert und insgesamt zu einer kontinuierlichen Behandlung führt. Dazu gehört auch der gesellschaftliche Dialog über die Konsequenzen einer fehlenden Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung. 

Sie sind beide Mediziner. Eine gesellschaftliche Debatte darüber, was ein modernes Gesundheitssystem leisten können soll, liegt Ihnen am Herzen. Sie erwähnten es gerade schon: In diesem Sommer ist die Krankenhausreform ein Thema, Buzzwords wie „weniger Ökonomie“ und „mehr medizinische Versorgung“ tauchten zumindest in den Medien auf. Geht die Diskussion in die richtige Richtung?

Christina Noll: Ich habe den Eindruck, das Thema wird angepackt. Das freut mich grundsätzlich. Als junge Person möchte ich ja etwas bewegen. Manchmal beschleicht mich aber auch das Gefühl, als einzelner Mensch oder sogar auch als Gruppe Gleichgesinnter ist kaum etwas auszurichten gegen verkrustete Strukturen. Aber jetzt haben wir die Erfahrung gemacht, dass sich der höchste  Verantwortliche im Staat für Gesundheit mit unseren Gedanken und Verbesserungsvorschlägen beschäftigt hat. Mir ist schon klar, dass es ein winziger Impuls war – aber es ist ein gutes Gefühl, etwas zur Debatte beizutragen. Ich hoffe, dass sich im Gesundheitssystem etwas bewegt.

Florian Graz: Auch ich habe den Eindruck, da kommt jetzt etwas ins Rollen – das finde ich gut. Wenngleich ich mir grundsätzlich noch einen ganzheitlicheren Ansatz wünschen würde. Es wäre gut, nochmal einen Schritt zurückzutreten. Es wäre sinnvoll, einen gemeinsamen Plan unter Einbeziehung aller Akteurinnen und Akteure zu haben. Idealerweise gäbe es ganzheitliche planerischer Prozesse und praxisnahe Finanzierungsinstrumente, die auch Umweltfaktoren berücksichtigen. Die Frage, was wir für ein Gesundheitssystem wollen, was es leisten soll und was wir dafür bezahlen wollen, sollten nicht nur Fachleute diskutieren, sondern wir alle.

Sie haben beide ein Medizinstudium absolviert und haben Ihre Promotion fast fertig, auch hatten Sie beide die Gelegenheit, im Ausland zu arbeiten. Was können wir aus diesen Erfahrungen für unser Gesundheitssystem in Deutschland lernen?

Florian Graz (lacht): Beim Thema Auslandserfahrung müssen Sie mich stoppen – ich kann nicht aufhören davon zu schwärmen… Seitdem ich als Schüler während eines kurzen Austauschs in den USA war, bin ich Überzeugungstäter. Ich habe mich bei der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd) ehrenamtlich engagiert und den Famulaturaustausch (Professional Exchange) mitorganisiert. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass man nur gewinnen kann, wenn man über den eigenen Tellerrand hinausschaut und von anderen lernt. Auch, wenn die Erfahrungen im Ausland ambivalent sein können. Weniger Wohlstand in der Gesellschaft und der Einsatz von Medikamenten in der Neurologie, die in Deutschland nicht mehr verwendet wurden – ich habe erlebt, wie dort sehr gut ausgebildete Ärzte mit geringeren Mitteln viel erreichen.. All diese Erfahrungen ließen mich das deutsche Gesundheitssystem in einem anderen Licht sehen - es gibt durchaus Verbesserungspotential, aber im Großen und Ganzen schätze ich es sehr.

Christina Noll: Ich kann Florians Erfahrung bestätigen, die Erfahrungen im Ausland wirken lange nach. Mir hat in Griechenland die flexible, pragmatische Herangehensweise gefallen. In der Schweiz habe ich gelernt, geduldig einen kühlen Kopf zu bewahren. Zudem habe ich dort erlebt, wie die Digitalisierung einem das Leben erleichtert, wie sich Prozesse technisch optimieren lassen. Die Kommunikation und Beherrschung der Fachsprache, besonders in internationalen Teams, ist ein Aspekt, den wir auch in Deutschland nicht unterschätzen sollten. Übrigens hat mich in beiden Ländern die ausgezeichnete Zusammenarbeit zwischen Ärzte- und Pflegeteams beeindruckt. Dort war die Zuordnung der Aufgaben besser geregelt, das ermöglicht eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Eigentlich wissen wir es doch auch hier in Deutschland: Eine Berufsgruppe kann ohne die andere nicht überleben!

Frau Noll, wie geht es bei Ihnen beruflich weiter?

Christina Noll: Für mich steht jetzt die Weiterbildung zur  Fachärztin für Neurologie an. Im Herbst geht es los. Während meines praktischen Jahres konnte ich ausprobieren, dass der klinische Alltag das Richtige für mich ist. Ich werde in der Patientenversorgung bleiben – und mir weiterhin Gedanken darüber machen, wie unser Gesundheitssystem besser werden kann. Dank der Förderung meiner Promotion durch das medMS-Doktorandenprogramm der Hertie-Stiftung hatte ich viele Gelegenheiten, über den eigenen Horizont hinauszublicken. Gemeinsam mit anderen Lösungsvorschläge für drängende gesellschaftliche Fragen zu entwickeln, ist ein toller Ansatz.

Herr Graz, Sie haben sich entschieden, einen anderen Weg zu gehen. Desillusioniert vom Gesundheitssystem?

Florian Graz: Medizin ist ein großartiges Studienfach, es vereint sozialwissenschaftliche, kommunikative und naturwissenschaftliche Aspekte, und wer schließlich als Ärztin oder Arzt Menschen wieder gesund macht, hat mutmaßlich einen der schönsten Berufe der Welt. Gleichwohl sind die Bedingungen für den medizinischen Nachwuchs nicht optimal – hohe Arbeitslast, dünne Personaldecke, viel Bürokratie, und vor allem nicht ausreichend Zeit für die Patientinnen und Patienten stehen im Kontrast zu höheren Erwartungen der Bevölkerung. Ich habe mich zunächst dazu entschieden, für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) zu arbeiten, ich bin Berater im Förderprogramm Klinikpartnerschaften. Wir wollen weltweit die Gesundheitsversorgung stärken – durch langfristig angelegte, nachhaltige Partnerschaften auf Augenhöhe zur Stärkung von Gesundheitssystemen.

Florian Graz ist seit 2021 Arzt und studierte u.a. in Bochum, Porto und Belo Horizonte. Nach dem Studium arbeitete er für kurze Zeit in der Inneren Medizin eines kommunalen Krankenhauses. Heute arbeitet er für das Projekt Klinikpartnerschaften der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).

Christina Noll beendete im Sommer 2023 ihr Studium der Humanmedizin an der LMU und TU in München sowie in Thessaloniki und Zürich. Sie beginnt im Herbst ihre Weiterbildung zur Fachärztin für Neurologie.

Beide sind Alumni des medMS-Doktorandenprogramms und somit Fellows der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung.

Nachhaltigkeit ist auch einer Ihrer Punkte im Eckpunktepapier…

Florian Graz: Wir halten eine nachhaltige Behandlung und Nachversorgung für überaus wichtig. So wäre es z.B. sinnvoll, einen Asthma-Patienten auch über den möglichen Einfluss psychischer Komponenten auf seine Erkrankung aufzuklären. Die Behandlung wird dadurch zwar zeit- und kostenintensiver, kann aber zugleich eine durch Panik verursachte Medikamentenüberdosierung und damit verbundene wiederholte Krankenhausaufenthalte verhindern.

Christina Noll: Auf diese Weise wird gesundheitsbewusstes Verhalten gestärkt, und damit sind wir wieder beim Stichwort Kommunikation – ein gutes Gesundheitssystem braucht vor allem Teamplay.

INFO  Das Interview führte  Katja Wallrafen für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung    

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