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Dr. Özgür Özvatan. Foto: Stadtgören Fotografie.
Interview über die Präsidentschaftswahl in der Türkei, Juni 2023

Die Wahl in der Türkei war frei, aber nicht fair

Was bedeutet das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in der Türkei für Europa? Dr. Özgür Özvatan, Co-Leiter der Abteilung Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), gibt Antworten in unserem Interview.
Demokratie stärken

Quick Read: Worum es geht

Dr. Özgür Özvatan  spricht über die türkische Präsidentschaftswahl 2023, die er als frei, aber unfair einstuft, da die Medienberichterstattung überwiegend Erdogan zugutekam. Er prognostiziert eine Fortsetzung des illiberalen Kurses in der Türkei und erwartet, dass zukünftige Migranten aus der Türkei hauptsächlich oppositionell und hochqualifiziert sein werden. Außerdem kritisiert er die verzerrte Wahrnehmung in Deutschland bezüglich der Wahlbeteiligung und Unterstützung für Erdogan unter Deutsch-Türken, da tatsächlich nur ein kleiner Anteil der türkischen Gemeinschaft in Deutschland für Erdogan gestimmt hat.

Nach 20 Jahren an der Macht musste sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erstmals einer Stichwahl stellen und konnte sich knapp gegen seinen sozialdemokratischen Herausforderer durchsetzen. Was bedeutet dieses Wahlergebnis für Europa? Dr. Özgür Özvatan ist Co-Leiter der Abteilung Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). In unserem Interview gibt der Politische Soziologe Antworten auf die wichtigsten Fragen zur Türkei-Wahl. 

Was sind die Schlüsse, die Sie aus dem Ergebnis der Präsidentschaftswahl in der Türkei ziehen?
Die Schlüsse, die ich daraus ziehe, sind vielschichtig. So können wir davon ausgehen, dass der seit den Gezi-Protesten vorherrschende Illiberalisierungskurs voranschreiten wird: Minderheitenrechte werden eingeschränkt, Rechtsstaatlichkeit wird ausgehöhlt und viele weitere wichtige zentrale Säulen von liberalen Demokratien wurden in den vergangenen zehn Jahren eingeschränkt. Es ist immer schwierig mit dem Blick in die Glaskugel - dann erscheint der Kurs der Illiberalisierung der Demokratie als ein realistisches Szenario. Der wirtschaftliche Abschwung ist eine Herausforderung. Die enorme Entwertung der Währung eine weitere. Das Erdbeben als Jahrhundert-Katastrophe ist natürlich immer noch eine immense Herausforderung. Das alles kostet sehr viel Geld und Planung. Wenn wir über die deutsche Seite sprechen, dann war schon interessant zu beobachten, dass die Abstimmungsergebnisse immer wieder verzerrt in der Öffentlichkeit dargestellt wurden. In Medienanfragen musste ich immer wieder zunächst erklären, dass es eben nicht so ist, dass zwei Drittel der Deutsch-Türken in Deutschland Erdogan wählen. Sondern, dass nur etwas weniger als die Hälfte stimmberechtigt ist, von dieser Hälfte nimmt etwa nur die Hälfte an der Wahl teil, und von dieser Hälfte der Hälfte ist es dann so, dass zwei Drittel Erdogan wählen. Wir sprechen dann über eine Gruppe von 470.000 Menschen von insgesamt mehr als 3 Millionen Menschen. Diese Verzerrung in der medialen Berichterstattung hält sich hartnäckig. Wir müssen uns fragen, warum wir die Erdogan-Wählenden größer machen als sie sind und die Oppositionellen kleiner als sie sind. Wir sind in dieser Frage äußerst hysterisch.  
 

"Wir müssen uns fragen, warum wir die Erdogan-Wählenden größer machen als sie sind und die Oppositionellen kleiner als sie sind.  "

Sind Sie der Meinung, dass es eine freie Wahl war? 
Die Wahl an sich war frei, sie war aber nicht fair. Das ist sehr häufig der Fall in illiberalen Demokratien, wo eben die Medienvielfalt und Pressefreiheit eingeschränkt ist. Wir haben in der Türkei beobachtet, dass in den staatlichen Medien vor der Wahl etwa 32 Stunden über Erdogan berichtet wurde und über den Kandidaten der Opposition nur etwa 32 Minuten. Das ist ein extremes Ungleichgewicht. In den Politikwissenschaften wird beschrieben, dass so eine Wahl nicht fair ist, weil der Weg zur Wahl nicht fair verteilt ist. Aber die tatsächliche Wahl ist dann eben trotzdem frei, weil am Wahltag an der Wahlurne demokratische Prinzipien für eine freie Wahl weitestgehend vorliegen.
 

Welche Auswirkungen hat es, wenn man sein Wahlrecht für ein Land ausübt, in dem man nicht lebt?
Ein wichtiger Punkt ist die Missinterpretation, dass Wahlentscheidungen aus rein individualistischen Motivlagen getroffen werden. Demokratische Wahlentscheidungen operieren jenseits von Individuen in Netzwerken, in der Zivilgesellschaft und dann eben als Überbau in politischen Parteien. Da geht es darum, dass Menschen Politik nicht für sich selbst betreiben, sondern für ihr nahes und breiteres Umfeld. Letztlich auch für eine imaginierte Gesamtgesellschaft. Um bei der Türkei zu bleiben: Die Menschen, die an der Wahl in der Türkei teilnehmen, die machen das eben auch, damit sich die Türkei gesamtgesellschaftlich in eine bestimmte Richtung bewegt. Diese Entscheidungen sollen idealerweise die Lebensrealitäten im nahen und weiteren Umfeld verbessern. Dann kommt natürlich auch der individuelle Nutzen hinzu, keine Frage. Letztlich ist es eben in Migrationsgesellschaften nicht so relevant, ob dieser Mensch in der Gesellschaft der Wahlentscheidung lebt. Sie kann dort einen Lebensmittelpunkt haben, ohne dort zu leben. Wo ist also die Grenze von diesem „Ich lebe in einem Land, oder ich lebe nicht in einem Land?“

"Künftige Migration aus der Türkei wird wahrscheinlich oppositionell, hochqualifiziert und in der Regel auch ökonomisch bessergestellt sein."

Wird es Abwanderungen junger Menschen aus der Türkei nach Deutschland oder in andere europäische Länder geben, weil sie dort eher ihre Zukunft sehen?  
Die Wahl wurde schon vor dem Urnengang von der Regierungsseite und der Opposition, aber auch von Deutsch-Türken hierzulande als Scheideweg beschrieben. Eine aktuelle Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung von Dr. Zeynep Yanaşmayan, Dr. Cihan Sinanoğlu und weiteren Kolleginnen und Kollegen bestätigt das ebenfalls. Das heißt, auf allen Seiten war das Gefühl vorherrschend: Hier geht es um alles. Für viele Oppositionelle galt: „Wenn Präsident Erdogan noch einmal gewinnt, dann war es das für mich in diesem Land.“ Die Frage ist aber, wer kann sich das leisten? In der Regel sind das Menschen, die international besser vernetzt sind, wie zum Beispiel Akademikerinnen und Akademiker. Für viele Menschen mit geringeren ökonomischen und Netzwerkressourcen ist es weiterhin schwierig, international mobil zu sein. Das heißt, künftige Migration aus der Türkei wird wahrscheinlich oppositionell, hochqualifiziert und in der Regel auch ökonomisch bessergestellt sein.
 

Inwieweit hat das Wahlergebnis Einfluss auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine?
Wir beobachten, dass sich Präsident Erdogan als Konfliktmoderator und international hochanerkannter und relevanter Akteur stilisiert hat. Es ist zu erwarten, dass er genau diesen Kurs weiterfährt. Er hat es immer wieder ausgeschlachtet, dass sich die Architektur in der internationalen Politik verschoben hat, und dass insbesondere die Region, die wir als Nahen Osten beschreiben, in der internationalen Politik an Wert zugelegt hat. Es ist zu erwarten, dass er genau diesen Kurs weiterführt, um den Menschen auch innenpolitisch zu zeigen, dass die Türkei ein wichtiger Player auf dem internationalen Parkett ist. Auch mit Blick auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Das ist das innenpolitische Signal, das er senden möchte. 

Aufgrund der knappen Wahlentscheidung scheint es für Erdogan ein bisschen enger zu werden. Wie wird er darauf reagieren? 
Wenn wir die Situation im internationalen Vergleich anschauen, dann sind jene knappen Wahlergebnisse in vergleichbaren Konstellationen die Regel. Wir beobachten in diesen „the winner takes all“-Konstellationen immer wieder 48 zu 52 Prozent-Verhältnisse. Erdogan wird nicht sonderlich besorgt sein, dass die 48 Prozent nicht für ihn gewählt haben. Deswegen glaube ich da kaum an eine große Veränderung. Was wir beobachten, ist - und das gilt nicht nur für die Opposition, sondern auch für Menschen, die Präsident Erdogan wählen - dass er nicht mehr so vital und dynamisch wirkt, wie er es bei vorherigen Wahlkämpfen war. Das könnte künftig einen Einfluss haben auf die Art und Weise, wie er Politik betreibt. Die Frage ist dann, wo führt das hin? Am Ende wird abzuwarten sein, wie die Medienagenda strukturiert sein wird, und ob drückende Problemlagen, wie das Katastrophenmanagement und die wirtschaftliche Situation, auch öffentlichkeitswirksam aufgearbeitet werden. 
 

Wie schätzen Sie das Beitrittsbestreben der Türkei in die EU ein?
Das hängt jetzt von der Positionierung der EU ab. Ungünstig für die Beitrittsgespräche waren in der Vergangenheit vor allem Erdogans wahltaktische Platzierungen von anti-EU und anti-westlicher Rhetorik. Das haben wir auch im Zusammenhang mit dem EU-Türkei-Migrations-Pakt beobachten können. Es bleibt dabei, dass die Handelsbeziehungen mit der Türkei einen wesentlichen Faktor darstellen. Der EU-Beitritt ist ein vielschichtiger Prozess, der von interessensgeleiteten Opportunitätsstrukturen abhängt. Die nächsten Krisen mit Blick auf Handel, Klima, Sicherheit und Migration werden richtungsweisend.
 

INFO  Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung    

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