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Jubiläumsinterview mit Prof. Dr. Johannes Dichgans, August 2024

Die Hertie-Stiftung bescherte mir den Glücksfall meines Lebens

Anlässlich des 50. Jubiläums der Hertie-Stiftung spricht Prof. Dr. Johannes Dichgans, Gründungsdirektor des Hertie-Zentrums für Neurologie, über seine Vision der Translation und die Rolle der Hertie-Stiftung bei deren Umsetzung.

Quick Read: Worum es geht

Prof. Dr. Johannes Dichgans  erzählt, wie er trotz vielerlei Hürden seine Vision eines Forschungszentrums für Neurologie mit Unterstützung der Hertie-Stiftung verwirklichen konnte. Das daraus entstandene Hertie-Zentrum für Neurologie in Tübingen gilt heute als Modell für erfolgreiche Wissenschaft und Anwendungspraxis in der Universitätsmedizin.  

„Ich nahm damals meinen ganzen Mut zusammen“, erinnert sich Prof. Dr. Johannes Dichgans (86) an den Augenblick, als er der Hertie-Stiftung 1999 seine Vision vorstellte: ein Institut, das die wissenschaftliche Forschung und ihren zügigen Ergebnis-Transfer in die Kliniken zum Schwerpunkt hat. Heute steht das Hertie-Zentrum für Neurologie in Tübingen bundesweit für eine einzigartige Bündelung von Forschungsexzellenz und Anwendungspraxis. Wie es Prof. Dichgans gelungen ist, seine Vision Wirklichkeit werden zu lassen, welche Widerstände es gab – und was die Hertie-Stiftung für den Neurowissenschaftler so besonders macht, lesen Sie in unserem Interview.  

"Auch heute noch gibt es an den Universitätskliniken zu wenig Raum für die Forschung."

Sie sind Gründungsdirektor des Hertie-Zentrum für Neurologie, dem Zusammenschluss des Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) und der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Tübingen. Wie haben Sie es damals erreicht, dass die Hertie-Stiftung in die Förderung Ihrer Idee eingestiegen ist?  

Ich hatte mich viele Jahre lang über die klassische Struktur der Universitätskliniken geärgert, weil sich diese ganz überwiegend auf die Krankenversorgung konzentrierten. Dabei sind sie eigentlich eine Institution für Forschung und Lehre, und der klinische Bereich sollte dazu dienen, diese zu ermöglichen. Auch heute noch gibt es an den Universitätskliniken zu wenig Raum für die Forschung. Die Klinik hat also Vorrang und die Wissenschaft der Mitarbeiter ist, wenn Sie so wollen, eine Privatangelegenheit und in die Freizeit verbannt. Es gibt kaum Dauerstellen für Naturwissenschaftler oder Ärzte, die ausschließlich Forschung betreiben wollen, und damit kommen die Grundlagenwissenschaft und ihr Transfer in die Klinik - Translation genannt - zu kurz. Zudem ist die Wissenschaft unterfinanziert, sodass Drittmittel eine wichtige Voraussetzung sind, dass man überhaupt Wissenschaft in kompetitivem Umfang und Tiefgang machen kann. Drittmittel sind Voraussetzung für Forschergruppen mit internationaler Wettbewerbsfähigkeit.  

Und weil Sie das erkannt haben, wollten Sie die Translation mit Hilfe der Hertie-Stiftung stärker auf den Weg bringen? 

Ja, die streng hierarchische Organisation der meisten Universitätskliniken führt bis heute zu einer Ämterhäufung der Klinikdirektoren, sodass diese selbst eigentlich nicht mehr wissenschaftlich-produktiv sein können, sondern nur noch Hirten ihrer Herde sind. Das kann die Eigeninitiative der Mitarbeiter hemmen. Das alles hatte ich seit vielen Jahren im Kopf. Durch einen Kollegen, der eine Professorenstelle bei mir haben wollte, lernte ich 1999 die Hertie-Stiftung kennen. Ich hatte einen kompletten Plan. Wir kamen also dorthin und trugen unseren ursprünglichen Wunsch, eine Professur zu ergattern, vor. Im Gespräch mit dem damaligen Vorstand bemerkte ich allerdings schnell, dass die Hertie-Stiftung offen war für etwas Größeres. Dann habe ich natürlich von meinen Plänen erzählt. Schließlich sollte ich der Stiftung ein Exposé und einen Kostenplan schicken. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und stellte ein Programm für umgerechnet 23 Millionen Euro über zehn Jahre vor mit insgesamt acht Professuren. Und was soll ich sagen: Die Stiftung ist diesem Plan vollumfänglich gefolgt. Ich habe das als den entscheidenden Glücksfall meines Lebens empfunden. 

Der Plan hört sich eher nach einer Vision an… 

Ja, das war eine Vision, nämlich die erste völlig umgestaltete Universitätsklinik zu errichten. Daraus entstand dann das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, welches zusammengeklammert wurde mit der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Tübingen. Inzwischen bilden beide zusammen das Hertie-Zentrum für Neurologie.  

Können Forschungseinrichtungen ohne private Förderung überhaupt vorankommen? 

Nein, jedenfalls nicht in dem hier realisierten Umfang. Die Hertie-Stiftung gab hier die Initialzündung für etwas Neues, die Strukturreform einer Universitätsklinik. In unserem Fall hat zum Beispiel das Land Baden-Württemberg inzwischen verfügt, dass die Grundfinanzierung mit jährlich zwei Millionen vom Land kommt. Drei Millionen sind eigentlich die Zielgröße, damit sich die Hertie-Stiftung auf die weitere Entwicklung beschränken kann. Das finde ich eine wesentliche Sache. Wir bekommen also von der Stiftung weitere drei Millionen und haben mittlerweile jährlich mehr als durchschnittlich zehn Millionen Drittmittel eingeworben. Damit können Sie sehen, welch enormer Vergrößerungseffekt durch die Hertie-Stiftung entsteht.  

Wie läuft die Zusammenarbeit mit so einer großen Stiftung? 

Ich kann mit Fug und Recht sagen, dass die langjährig von Dr. Michael Endres geführt und gestaltete Stiftung entscheidend an der Ausformung der Richtung, der räumlichen Unterbringung und der Geschäftsordnung beteiligt war. Ich habe damals im Wesentlichen mit Herrn Prof. Michael Madeja verhandelt, dem damaligen Geschäftsführer der Hertie-Stiftung für den Bereich Neurowissenschaften und heutigen Vorstandsvorsitzenden der Else Kröner-Fresenius-Stiftung. Mit ihm habe ich mich im Laufe der Arbeit richtig angefreundet. Herr Madeja hat zahlreiche inhaltliche Anregungen gegeben und großes Verhandlungsgeschick bewiesen, nicht nur mit dem Vorstand der Hertie-Stiftung, sondern vor allem im Umgang mit Universität, Fakultät und Klinikum. Die Nachfolgerin von Prof. Madeja, Frau Dr. Astrid Proksch, ist eine ähnlich kritisch-konstruktive Quelle der partnerschaftlichen Weiterentwicklung des Instituts. Sie hat ebenfalls wesentliche Impulse gegeben. Die so direkte, offene und flexibel produktive Zusammenarbeit mit der Stiftung halte ich für unübertrefflich.  

Was war im Rückblick das schönste Erlebnis während Ihrer Zeit am HIH? 

Das schönste Erlebnis war die Begutachtung des Wissenschaftsrats unseres HIH im Jahr 2015. Es war bisher noch nie geschehen, dass der Wissenschaftsrat eine solche Einrichtung begutachtete. Üblicherweise begutachtet er ganze Universitätskliniken, aber er hat in diesem Fall speziell das Reformmodell HIH begutachtet.  

Mit welchem Ergebnis? 

Mit einem herausragenden Ergebnis! Der Wissenschaftsrat hat die hohe Vorbildfunktion für die Bundesrepublik gewürdigt. Er hat vor allem die Strukturreform und den internationalen wissenschaftlichen Erfolg gewürdigt. Man muss auch sagen, dass alle Berufungen, die wir gemacht haben - seien es Abteilungsleiter oder zusätzliche Professorinnen und Professoren - sehr gut waren.

Welche Herausforderung ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben? 

Ich darf ja ein bisschen länger reden, als Sie geplant haben?  

Selbstverständlich. 

Ich erzähle Ihnen erst einmal das weniger schöne Erlebnis. Dieses führte dazu, dass ich anfänglich in allen deutschen Neurologien unbeliebt wurde, weil ich sozusagen an der Hierarchie kratzte und an den Strukturen. Noch problematischer war der Umgang mit der eigenen Medizinischen Fakultät. Diese sah nämlich, dass da plötzlich neue Professoren in die Fakultät kamen, sodass die „Neuros“ mächtiger zu werden drohten. Es entwickelte sich etwas, was ich die „Neurophobie“ genannt habe. Ich sah lange Zeit keine Aussicht, meinen Plan in die Medizinische Fakultät direkt zu implantieren. Nach viel Gegenwind und mit strategischem Geschick habe ich dann doch einige Verbündete gefunden. Entscheidend für den Erfolg waren die Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und des Rektorats. Beide Institutionen erkannten, dass das Zentrum Modellcharakter für die deutsche Universitätsmedizin haben würde und dem Exzellenzstatus der Universität Tübingen dienen würde. Mir haben Kollegen nachträglich gesagt, sie hätten sich sehr gewundert, dass ich das überstanden hätte. Das war die Schattenseite. Ich habe dann auch über den Erfolg dieser – wenn Sie so wollen – Umstrukturierung publiziert. Inzwischen haben zunehmend Klinken ähnliche Strukturen entwickelt. Nirgends ganz so wie bei uns, aber in Bonn zum Beispiel beginnt es, ähnlich zu werden.  

Warum verläuft der Weg der Translation Ihrer Ansicht nach noch so schleppend?  

Die Trennung von dem hierarchischen Modell, in dem ich ja selbst aufgewachsen bin, hat mir schlaflose Nächte bereitet, weil ich diese Trennung einerseits unbedingt wollte, aber andererseits ein Kind meiner Zeit bin. Das geht offenbar auch anderen Lehrstuhlinhabern so. Es braucht mindestens noch eine Generation, die sich in dieser Sache durchsetzt. Dass dieses Modell erfolgreich sein wird, sehen wir bereits in England und den USA. Auch bei uns ist heute deutlich zu spüren, dass von den Jungen einige diese „Großgrundbesitzerstellungen“ gar nicht mehr wollen. Sie möchten lieber eine kleine Abteilung, in der sie eigenständig vertreten können, für was sie zuständig und verantwortlich sind. Weil sie eben wissen, dass sie sich nicht mit jeder neurologischen Erkrankung umfänglich auskennen können. Abgesehen davon gab es in der Neurologie in den vergangenen Jahren sehr wohl große Erfolge in der Translation auch an anderen Universitätskliniken, so dass sich die neurologischen Universitätskliniken, in denen früher sicher ein Schwerpunkt auf der Diagnostik lag, hin zu kurativen, also heilenden Kliniken entwickelt haben.  

"Es ist ein Alleinstellungsmerkmal der Hertie-Stiftung, dass sie so polyvalent ist, also in mehrfacher Beziehung wirksam. "

Wie bringen Sie Ihre langjährige Expertise und Erfahrung weiterhin für die Hertie-Stiftung ein? 

Ich bin Vorsitzender des Fördervereins des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung e.V., außerdem beratendes Kuratoriums-Mitglied des HIH. Vor allem habe ich aber regelmäßigen Kontakt zu Herrn Prof. Gasser und Frau Dr. Proksch. Das HIH ist mir natürlich das liebste Kind, wenn Sie so wollen.  

Was ist für Sie das Alleinstellungsmerkmal der Hertie-Stiftung? 

Ich finde, es ist ein Alleinstellungsmerkmal, dass die Hertie-Stiftung so polyvalent ist, also in mehrfacher Beziehung wirksam. Sie vertritt die Neuroforschung, aber sie engagiert sich auch für die Demokratie, zum Beispiel mit der Hertie School und vielen sozialen Projekten. Und die Hertie-Stiftung ist keine Stiftung, die nur die Wissenschaft fördern will, sondern sie will die Förderergebnisse in die Gesellschaft tragen. Sie ist prädestiniert für den Transfer medizinischer Grundlagenforschung in die Patientenfürsorge, aber eben auch für den Transfer von Governance in die Gesellschaft.  

Was wünschen Sie der Hertie-Stiftung für die nächsten 50 Jahre? 

Ich wünsche der Hertie-Stiftung, dass sie ihre exemplarische Rolle für die interaktive Entwicklung neuer hochschulpolitischer Strukturen beibehalten kann, und dass sie weiter die Augen offen hält für gesellschaftspolitische Programme.  

Sind Sie manchmal auch ein bisschen stolz drauf, dass Sie Ihre Vision und Ihr Lebenswerk so erfolgreich umsetzen konnten? 

Naja, Stolz ist immer auch schädlich. Aber ich freue mich, so könnte man das nennen.  


INFO  Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung im August 2024

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