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Foto: Steffen Roth
Interview mit Prof. Dr. Christian Doeller, November 2024

Orientierung lässt sich trainieren

Prof. Dr. Christian Doeller spricht über die Prozesse, die bei der räumlichen Orientierung im Gehirn ablaufen und wie man den Orientierungssinn trainieren kann kann.
Gehirn erforschen

Quick Read: Worum es geht

Prof. Dr. Christian Doeller erklärt, wie unser Gehirn eine „Landkarte“ der Umgebung erstellt, die Orientierung ermöglicht. Das geschieht durch spezialisierte Nervenzellen, die Position, Richtung, Geschwindigkeit und Abstände codieren. Zudem gibt es unterschiedliche Navigationsstrategien: die „egozentrische“ und die „allozentrische“ Methode, welche unterschiedliche Ansätze zur Orientierung bieten. Doellers Forschung zeigt, dass das Gehirn mithilfe dieser Mechanismen nicht nur räumliche Navigation steuert, sondern auch als Basis für komplexe Denkprozesse dient. Diese Erkenntnisse könnten in der Früherkennung von Alzheimer, im Bildungskontext und in der KI-Anwendung nutzbar gemacht werden.

Orientierung hilft Menschen dabei, sich zurechtzufinden und Entscheidungen zu treffen. Doch was passiert im Gehirn genau, wenn es uns durch die Welt navigiert? Darüber sprach Prof. Dr. Christian Doeller, Direktor der Abteilung Psychologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, beim NeuroForum 2024 in Frankfurt. Welche überraschenden Fähigkeiten unser inneres Navi noch zu bieten hat und weitere spannende Einblick zum Kompass im Kopf gibt Prof. Doeller in unserem Interview.  

Wenn wir uns in einer unbekannten Umgebung zurechtfinden müssen, gelingt es mit der Zeit immer besser. Was passiert im Gehirn, wenn wir uns orientieren?

Wir haben eine Art Navigationssystem im Gehirn, und es gibt bestimmte Nervenzellen, die uns bei der Orientierung helfen. Hier lohnt sich ein kurzer Abstecher in die Neurobiologie, denn diese Zellen sind von großer Bedeutung, wenn es um die Orientierung geht. Da sind zum einen die Ortszellen, die quasi den Ort anzeigen, an dem man sich befindet. Es gibt verschiedene dieser Ortszellen im Gehirn, Hunderttausende wahrscheinlich, die immer an spezifischen Orten elektrische Impulse feuern. Wenn wir durch die Wohnung laufen, feuern ein paar Zellen in der Küche, ein paar andere feuern im Badezimmer und repräsentieren damit unseren Ort im Raum. Durch die viele Zellen, die immer aktiv sind, entsteht eine Art Landkartenrepräsentation der Umgebung. Es gibt noch weitere Zelltypen, beispielsweise die Kompasszellen, die immer dann feuern, wenn man in eine gewisse Richtung läuft. Geschwindigkeitszellen codieren die Laufgeschwindigkeit, Grenzzellen die Distanz zu einer Wand und die Gitterzellen stellen eine Art Metrik des Raums dar. Alle Zelltypen bilden zusammen eine neurobiologische Grundlage für eine innere kognitive Landkarte, unser Navigationssystem im Gehirn. Und dann gibt es wiederum sehr verschiedene Strategien und auch Systeme im Gehirn, die unterschiedliche Arten von Navigation ermöglichen. Eine dieser Strategien ist der des Smartphone-Navis nicht unähnlich… 

Mein Smartphone trage ich in fremder Umgebung wie einen Kompass vor mir her und drehe mich im Kreis, sobald ich die Orientierung verloren habe…

Ganz genau. „Egozentrisch“ nennen wir diese Art der Navigationsstrategie. Sie sind als Person sozusagen der Ausgangspunkt, und man würde mit Hilfe von Links-Rechts-Kommandos sagen: „Gehe jetzt eine Straße geradeaus und biege links ab. Dann weiter und dann rechts abbiegen.“ Eine andere spannende Strategie, die unser Gehirn mit dem Alter entwickelt, ist die „allozentrische“ Navigation. Sie bezieht die Lage von Orten nicht mehr auf die eigene Person, sondern auf die relative Position zueinander. Wenn wir beispielsweise von zu Hause aus zu unserem Arbeitsplatz gehen, kennen wir die prominenten Landmarken und haben unseren persönlichen Stadtplan im Kopf. Wenn dann irgendwo eine Straße gesperrt ist, macht uns das nicht so viel aus, weil wir wissen, wo wir uns befinden. Mit der „egozentrischen“ Strategie kommen wir dagegen bei plötzlichen Straßensperrungen schnell an unsere Grenzen. Es gibt also verschiedene Arten der menschlichen Orientierung beziehungsweise Navigation, die zum selben Ziel führen, aber auf unterschiedlichen Prinzipien basieren, wie Information in der Umgebung gespeichert wird.

Kann man seinen Orientierungssinn trainieren?

Ja, zu einem begrenzten Maße kann man das, indem man versucht, die allozentrische Strategie zu wählen und versucht, sich an prominenten, großen Landmarken zu orientieren. Das können Türme, Hochhäuser oder andere große Gebäude sein. So mache ich es meistens, wenn ich in eine fremde Stadt komme. Das hilft nicht immer, ist aber eine Strategie, um die Orientierung zu üben. In anderen Kontexten bietet sich vielleicht eher eine andere Strategie an, wenn man beispielsweise an die großen Hotelkomplexe in USA denkt, dann sieht jedes Stockwerk identisch aus. Wo gehe ich dann bei 20 Stockwerken zu meinem Zimmer? Natürlich kann man sich an den Zahlen orientieren, die auf Schildern stehen, aber man kann sich auch einfach sagen: „Okay, wenn ich aus dem Aufzug rauskomme, muss ich immer links laufen.“ Das ist auch so eine Hilfe. Durch verbale Instruktionen und ein paar Tricks kann man seinen Orientierungssinn zumindest in begrenztem Maße trainieren.

Navis im Smartphone oder Auto sind für viele Menschen unverzichtbar. Laufen wir Gefahr, dass sich unser Orientierungsvermögen dadurch verschlechtert?

Wenn wir ausschließlich jeden Weg mit diesen Apps navigieren, dann wahrscheinlich schon. Aber das macht man ja eigentlich nicht. Wir nutzen Apps in neuen Situationen, und dann ist ein Navi sehr hilfreich. Ich bin absoluter Technologiefreund und im Endeffekt sind solche Tools eine kognitive Entlastung, so dass wir die frei gewordenen kognitiven Ressourcen für andere Dinge nutzen können.

"Unser langfristiges Forschungsziel geht nun der Frage nach: Können wir so etwas wie Grundprinzipien menschlichen Denkens neurobiologisch beschreiben, mit Rückgriff auf das interne Navigationssystem?"

Von A nach B zu kommen ist das eine, Ausgangspunkt Ihrer Forschung ist die Idee, dass das innere Navigationssystem womöglich auch die Grundlage für menschliches Denken bildet. Das Gehirn könnte demnach jede Art von Eindrücken in kognitiven Räumen abbilden. Was haben Sie bisher dazu herausgefunden?

Die Orts-, Gitter- und Kompasszellen, also die ganze neurobiologische Maschinerie - das Navi im Gehirn quasi - wurde im Nagetier entdeckt. Bei Menschen ist so ein Nachweis bisher nur in Ausnahmefällen möglich. Wir arbeiten mit funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) oder Magnetoenzephalografie (MEG) und haben Hinweise auf ein vergleichbares inneres Navigationssystem von Mensch und Nagetier gefunden. Wir gehen nun davon aus, dass dieses System im Menschen nicht nur für die Navigation zuständig ist, sondern auch - möglicherweise als Funktion der Evolution - zahlreiche höhere kognitive Funktionen unterstützt wie das Denken, die Handlungskontrolle oder auch das Konzeptlernen. Dafür haben wir sehr viel Evidenz. Unser langfristiges Forschungsziel geht nun der Frage nach: Können wir so etwas wie Grundprinzipien menschlichen Denkens neurobiologisch beschreiben, mit Rückgriff auf das interne Navigationssystem? 

Konzeptlernen mit dem inneren Navi - können Sie ein plastisches Beispiel nennen?

Stellen Sie sich vor, Sie wären kurz davor, ein Auto zu kaufen. Dann können Sie Ihr Wissen über Autos oder Fahrzeuge gedanklich auch in zweidimensionalen Karten repräsentieren. Die eine Dimension repräsentiert beispielsweise das Gewicht des Autos, die andere Dimension repräsentiert die Motorleistung. Wenn man sich dann so einen zweidimensionalen Raum vorstellt, ist in einem Bereich zum Beispiel ein Formel-1-Wagen repräsentiert, der eine sehr hohe Motorleistung hat, aber relativ leicht ist. An einem anderen Ort in dieser zweidimensionalen Autokarte ist beispielsweise ein LKW repräsentiert, der auch eine hohe Motorleistung hat, aber sehr schwer ist. So könnte man also verschiedene Autos und Fahrzeuge anhand einer zweidimensionalen Karte repräsentieren. Für andere Personen sind aber bei einer Kaufentscheidung vielleicht andere Parameter wie der Platz im Auto oder der Preis wichtiger und der ‚Autoraum‘ kann dann dementsprechend dynamisch angepasst werden. Aber unsere Idee ist eben, dass man jegliche Art von abstrakter Information, und konzeptionelles Wissen auch in diesen Karten repräsentieren kann, und das Gehirn dafür genau dieses Navigationssystem im Gehirn benutzt. Also man navigiert – jetzt wirklich im metaphorischen, übertragenen Sinne – konzeptionelle Räume.

Gilt das dann auch für Entscheidungen, die ich in Folge treffe?

Richtig, das ist ein guter Punkt. Die Idee ist, dass wir abstrakte Informationen eben niedrigdimensional mit diesen Karten repräsentieren. Dann kann man sehr schnell auf dieses Wissen, das temporär gespeichert ist, bei Entscheidungen zugreifen. Bei der Kaufentscheidung zwischen zwei Autos beispielsweise auf der relevanten Dimension Platz im Innenraum versus Dimension Preis, und wenn das die relevanten Dimensionen für die persönliche Kaufentscheidung sind, kann man quasi die Distanzen zwischen diesen verschiedenen Exemplaren von Autos messen oder sich mental vorstellen. Das ist eine Grundlage für eine Entscheidungsfindung, beispielsweise. Also Entscheidungen basieren auf einem Auslesen, wenn man so möchte, dieser mentalen Karten. 

Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) bildet mit der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen das Hertie-Zentrum für Neurologie, eine der größten und modernsten Einrichtungen für klinische Hirnforschung bundesweit. Um die Einheit von Forschung und Patientenversorgung zu betonen, wurde das Zentrum für Neurologie 2023 in „Hertie-Zentrum für Neurologie“ umbenannt.

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Gibt es Anwendungsbereiche, in denen Sie Ihre Forschungsergebnisse sehen?

Wir sind Grundlagenforschende und konzentrieren uns darauf, fundamentalen Erkenntnisse zu liefern. Wir haben einen kleinen Anwendungsbereich, ganz wenige Studien, die wir im klinischen Bereich durchführen. So können unsere Erkenntnisse vielleicht künftig zu einer Art Früherkennungssystem für Alzheimererkrankungen beitragen. Das ist sicherlich ein aktives Forschungsfeld, weil bei der Alzheimererkrankung vor allem die räumlichen Gedächtnisdefizite - die Leute finden zum Beispiel ihre Schlüssel nicht mehr - zu den ersten Symptomen zählen. Ein zweites Anwendungsgebiet ist möglicherweise der Lernbereich; vielleicht lassen sich diese räumlichen Grundierprinzipien des Gehirns nutzen, um bessere Lernprotokolle in der Schule zu entwickeln. Das ist nicht unser Forschungsfeld, aber sicherlich ein möglicher Anwendungsbereich. Ein dritter ist die KI-Technologie im weitesten Sinne. Die Grundlagen von KI-Technologie sind künstliche neuronale Netzwerke, die eigentlich auf Grundprinzipien des Gehirns basieren. So kann im Allgemeinen – auch das ist nicht unbedingt unser Forschungsfeld – die Neurowissenschaft sicher einen wichtigen Input in die Entwicklung von neuen KI-Tools geben. Was mich in dem Zusammenhang besonders fasziniert: Der Nobelpreis für Physik ging in diesem Jahr nicht an klassische Physiker, sondern an computationale Neurowissenschaftler. Preisträger Geoffrey Hinton gilt als der Großvater der KI und er hat - mit Prinzipien der Physik – in den 1980er Jahren künstliche neuronale Netzwerkmodelle entwickelt, um Dinge vorherzusagen - als fundamentale Grundlage der KI-Technologie. Hier wird wieder einmal die hohe Relevanz der Grundlagenforschung für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft deutlich. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung tragen nicht immanent das Produkt oder die Anwendung in sich, das ist nicht ihr Ziel. Und oft sieht man den Effekt erst viele Jahrzehnte später, aber ich kann es immer wieder betonen: Es gibt keine Innovation, keine neue Technologie, die out of the blue entsteht. 

INFO  Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung

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