Breakthrough-Preisträger Prof. Dr. Thomas Gasser
Zielstrebig, beharrlich, empathisch
Professor Thomas Gasser vom Tübinger Hertie-Zentrum für Neurologie erhält am 13. April 2024 in Los Angeles den diesjährigen Breakthrough Prize für Lebenswissenschaften. Das ist der höchstdotierte Wissenschaftspreis weltweit. Das Geld kommt aus dem Silicon Valley. Wer ist dieser Mann, dem die Erfinder der Internet- und Techgiganten Tribut zollen?
Die Nachricht von der Preisverleihung erreichte Thomas Gasser während der Sitzung einer Berufungskommission. Wann er telefonieren könne, lautete die Email-Anfrage von John Hardy, einem bekannten Parkinson- und Alzheimerforscher. „Am Nachmittag“, tippte Gasser zurück. Eine Minute später vibrierte sein Mobiltelefon. Es sei sicher okay, wenn er jetzt schon anrufe, habe Hardy gesagt und ihm dann mitgeteilt, dass er zusammen mit der US-Genetikerin und Kinderärztin Ellen Sidransky und dem britischen Neurogenetiker Andrew Singleton den Breakthrough-Preis 2024 erhalten werde. „Da musste ich erst einmal schlucken“, sagt Gasser. Er habe zwar schon länger gewusst, dass er nominiert worden sei, aber nie ernsthaft daran geglaubt, dass er den Preis tatsächlich bekommen werde. „Man freut sich über die Nominierung und macht einfach weiter“.
Warum ist die Wahl jetzt auf ihn gefallen? „Sicher nicht, weil ich in irgendeiner Sache sehr viel klüger bin als andere“, sagt Gasser, „sondern weil ich jahrzehntelang an der Parkinson-Genetik drangeblieben bin. Ich habe wesentlich dazu beigetragen, dass Parkinson heute als komplexe, multifaktoriell bedingte Gruppe von Erkrankungen gesehen wird, für die es unterschiedliche genetische Risikokonstellationen gibt, verschiedene Verläufe und eine lange Phase mit unspezifischen Frühsymptomen. Deshalb werden die Kranken heute in Risiko- und Verlaufsgruppen eingeteilt, es gibt Biomarker, an den Ursachen ansetzende Therapiestudien und erste Konzepte zur Vorbeugung“. Gasser nimmt auch für sich in Anspruch, dass er dazu beigetragen hat, genetisches und molekularbiologisches Denken in der Neurologie zu verankern.
Dass der heute 65-Jährige großes Interesse an den Ursachen von Krankheiten hat, zeigte sich schon in der Schule. Gasser wollte zuerst Biochemie studieren und besuchte bereits als Oberstufenschüler das Institut in Tübingen. Dort war 1962 der erste bundesdeutsche Studiengang Biochemie eingerichtet worden. Dass es dann doch ein Medizinstudium geworden ist, hatte pragmatische Gründe. Der junge Gasser konnte zum Zeitpunkt seiner Studienwahl die Anforderungen und Karriereoptionen in der Biochemie nicht einschätzen. Medizin war die überschaubarere Option.
Trotzdem ließ sich Gasser nicht von der Forschung abhalten. Noch im Medizinstudium ging er mit einem Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes an die Yale University und arbeitete über Leberkrebs. Die Ergebnisse fasste er in seiner Doktorarbeit zusammen. Zur Neurologie kam er als Assistenzarzt in München. Er widmete sich zunächst pharmakologischen Fragen, wurde dann aber auf die Neurogenetik aufmerksam. Es war die Zeit, in der die ersten Krankheitsgene entdeckt wurden. Der Wettlauf um die Klonierung des Gens für Chorea Huntington, einer neurologischen Erbkrankheit, an der die Betroffenen in der Lebensmitte zwangsläufig sterben, war ein regelrechter Forschungskrimi. Gasser bewarb sich in der Zeit um einen der renommierten Cold Spring Harbor-Kurse, den Kurs für Neurogenetik. Dieser sollte ein Schlüsselerlebnis in seiner Karriere werden. Er lernte dort die bekannte Genetikerin Xandra Breakefield von der Harvard University in Boston kennen und erkundigte sich nach einer Postdoc-Zeit bei ihr. Die beiden einigten sich darauf, dass er sich an der Suche nach dem Gen für eine seltene Bewegungsstörung, die Dystonie, in ihrem Labor beteiligen sollte.
Es kam anders. Ein polnischer Neurologe hatte Breakefield die DNA von einigen Familien geschickt, in denen die Parkinson-Krankheit gehäuft vorkam. Breakefield bat Gasser, die Proben nach relevanten Genen oder Risikovarianten zu durchsuchen. Parkinson galt damals als sporadisch auftretende Erkrankung. Die Entmutigung folgte auf dem Fuß. Einer der führenden Neurogenetiker nahm Gasser beiseite und sagte: „Sie verschwenden Ihre Zeit. Parkinson ist keine genetische Erkrankung“. Gasser ließ sich trotzdem nicht abschrecken, allerdings wurde seine Beharrlichkeit schon bald auf die Probe gestellt. Vier Mitglieder der Parkinson-Familien waren nach dem Tod obduziert worden und jedes Mitglied hatte einen anderen pathologischen Befund. Waren das überhaupt Parkinson-Familien oder hatten die Betroffenen nur zufällig verschiedene, ähnlich erscheinende neurologische Erkrankungen gehabt? Gasser wurde unsicher, blieb aber dran und nahm das Thema mit nach Deutschland. Nach der Verleihung des Breakthrough Preises wird er Breakefield auf seiner Rückreise von Los Angeles in Boston besuchen und mit ihr auf diese Entscheidung anstoßen.
"Ich bin immer offen für die bessere Idee oder das bessere Konzept."
Es dauerte allerdings noch elf Jahre, die mit vielen Höhen und Tiefen gepflastert waren, bis er und Andrew Singleton 2004 zeitgleich, aber unabhängig voneinander, die Sequenz eines Risikogens für Parkinson veröffentlichten, für das sogenannte LRRK2-Gen, das sich später als eine der häufigsten Ursachen für die erbliche Form der Parkinsonkrankheit herausstellen sollte. „Es gab keinen Heureka-Moment“, sagt Gasser. „Die Suche war ein zäher Prozess. Mutationen in Risikogenen stehen für eine Disposition. Sie machen nicht zwangsläufig krank. Es müssen andere Faktoren und Ereignisse hinzukommen, damit die Betroffenen tatsächlich an Parkinson erkranken. Wir haben uns deswegen immer wieder gefragt, ob wir es tatsächlich mit einem Risikogen für die Krankheit zu tun haben – es gab verschiedene Mutationen, die Familien waren klein. Erst als klar war, dass wir und Andrew Singleton dasselbe Gen identifiziert hatten, waren wir sicher, dass wir am Ziel sind“.
Sein eigenes Risikoprofil für eine Parkinson-Erkrankung kennt Gasser nicht. „Ich habe noch keinen Gentest machen lassen“, sagt er. „Es ist noch zu früh, sich ohne Anlass testen zu lassen. Wir können den Menschen allein auf der Basis ihres Risikoprofils noch kein Angebot für eine Vorbeugung machen. Ich gehe allerdings davon aus, dass das in fünf oder zehn Jahren bei einigen Risikokonstellationen der Fall sein wird.“
Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) in Tübingen ist eines der bundesweit größten und modernsten Zentren zur Erforschung neurologischer Erkrankungen. Das HIH ist ein modellhaftes Forschungszentrum im Zusammenspiel öffentlicher Ressourcen und privater Stiftungsmittel: Es wurde 2001 von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, dem Land Baden-Württemberg, der Eberhard Karls Universität Tübingen, ihrer medizinischen Fakultät sowie dem Universitätsklinikum Tübingen gegründet und 2004 eröffnet.
Weil es ihm immer wichtig war, dass die Kranken schnellstmöglich von den Erkenntnissen der Forschung profitieren, wechselt Gasser 2002 von München nach Tübingen und wird Direktor am neugegründeten Zentrum für Neurologie, in dem die neurologische Universitätsklinik Tübingen und das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung eng zusammenarbeiten. Einen späteren Ruf nach München lehnt er ab. „Durch die besondere Struktur des Zentrums, das von Anfang an anders konzipiert war, und die großzügige Förderung der Hertie-Stiftung ist es möglich gewesen, exzellente Kolleginnen und Kollegen anzuziehen und sich an internationalen Kooperationen zu beteiligen“, sagt Gasser. „Das hat wesentlich zu unseren Erfolgen beigetragen.“
Gasser, der auch Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Neurologie sowie Sprecher des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) am Standort Tübingen ist, wirkt auf den ersten Blick still und zurückhaltend. Er ist kein Platzhirsch. Er drängt sich nicht in den Vordergrund. Er sucht nicht die große Bühne. Er hört zu, fragt nach und begegnet Menschen mit Wertschätzung. Man könnte fast geneigt sein, ihn zu unterschätzen. Aber dann sind da die kraftvollen Sätze, die präzisen Ansagen und der unbedingte Wille zum Erfolg. Bei seiner Habilitationsfeier an der LMU in München habe sein damaliger Chef, der Neurologe Thomas Brandt, gesagt, es gebe starke und laute Menschen, es gebe leise und schwache Menschen und es gebe leise und starke Menschen. Gasser gehöre zur letztgenannten Gruppe. „Ich sehe mich nicht als Maß aller Dinge. Ich bin immer offen für die bessere Idee oder das bessere Konzept. Ich muss nicht das letzte Wort haben“, sagt Gasser.
Fragt man ihn nach seinen Patientinnen und Patienten, spricht er von vielen Gänsehaut-Momenten. „Die Parkinson-Erkrankung ist zwar nach wie vor nicht heilbar,“ sagt er, „aber die Erfolge der Tiefen Hirnstimulation oder die Wirksamkeit moderner Medikamente verblüffen mich immer wieder. Ich sehe bei jeder Chefvisite Menschen, die mit diesen Therapien wie ausgewechselt sind. Das sind wunderbare Erlebnisse.“
Privat pendelt Gasser zwischen Tübingen und Amsterdam hin und her. Sein Mann ist dort Professor für Hepatologie. Die beiden kennen sich seit ihrer Assistenzarztzeit in München. Gasser liebt beide Städte, das beschauliche Tübingen und das pulsierende Amsterdam. Nur sein CO2-Fußabdruck stört ihn wegen der vielen Kurzstreckenflüge. „Dafür fahren wir in Tübingen und Amsterdam nur Fahrrad“, entschuldigt er sich. Wenn er den Kopf frei bekommen will, steigt er aufs Rad, zieht seine Joggingschuhe an oder spielt Tennis. Das perfekte Glück ist für ihn, der Abendsonne entgegenzuradeln. Seit seiner Jugend spielt Gasser auch leidenschaftlich gerne Saxofon. Bis zur Coronapandemie gehörte er einer Professorenband an, die immer wieder kleine Modern Jazz-Konzerte gegeben hat. Die Pandemie und der berufliche Wechsel eines Bandmitglieds hat der Band ein Ende gesetzt. „Ich bedauere das sehr“, sagt er, „allerdings nehme ich jetzt wieder regelmäßig Unterricht, um mich weiterzuentwickeln.“
Fragt man ihn, was er auf eine einsame Insel mitnehmen würde, denkt Gasser nicht lange nach. Ein gutes Buch – kein Wunder, bei jemandem, der gerne einmal einen Tag mit Thomas Mann verbringen würde –, sein Saxofon und eine Bratpfanne. Auf die Frage, ob er die denn dort benutzen könne, antwortet er, dass man sicher etwas improvisieren könne. Den Breakthrough Preis wird er im Smoking seines verstorbenen Vaters entgegennehmen. „Der passt perfekt“, sagt er und lacht.
INFO Dieses Porträt hat Hildegard Kaulen im Auftrag der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung Anfang 2024 erstellt.
Über die Parkinson-Erkrankung
Mehr als Zittern
Die Parkinson-Erkrankung entsteht durch den Verlust an Nervenzellen im Gehirn. Sie galt lange Zeit als rein sporadisch auftretende Bewegungsstörung ohne genetische Ursache. Die motorischen Symptome wie das typische Zittern, die verlangsamten Bewegungen und der schlurfende Gang sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Erkrankung beginnt Jahre oder Jahrzehnte zuvor mit nicht-motorischen Symptomen wie Verstopfung, Schlafstörungen, Ängstlichkeit, Apathie, und dem Verlust des Geruchssinns, um nur einige zu nennen. Man kennt heute verschiedene Genmutationen, die das Erkrankungsrisiko unterschiedlich stark beeinflussen. Manche Mutationen machen mit höherer Wahrscheinlichkeit krank als andere. Einige Mutationen verändern auch den Verlauf und sorgen dafür, dass die Betroffenen häufiger und früher eine Demenz entwickeln als andere Parkinson-Kranke.
Geschädigt werden die Nervenzellen auf verschiedene Weise. Mitunter wird der zelluläre Müll nicht mehr ordnungsgemäß entsorgt, die zellulären Kraftwerke produzieren nicht mehr genug Energie oder brauchbares Material wird nicht mehr ordentlich recycelt. Man weiß allerdings auch noch wenig darüber, wie genau sich die Umweltbedingungen und das Alter auf die Krankheitsentstehung auswirken. Wichtig ist zudem, dass die Krankheit möglichst früh diagnostiziert wird – am besten noch in der Phase der unspezifischen Symptome. Je eher und zielgenauer behandelt wird, desto größer werden die Chancen sein, dass die Parkinson-Erkrankung eines Tages heilbar ist oder deutlich milder verlaufen wird.