Interview mit Prof. Mathias Jucker, September 2024
Was bedeutet das Votum gegen das neue Alzheimer-Medikament, Herr Prof. Jucker?
In diesem Interview spricht Prof. Mathias Jucker, Direktor am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, über die Entscheidung der Europäischen Arzneimittelagentur gegen die Zulassung von Lecanemab. Der Antikörper hätte die erste ursächliche Therapie gegen Alzheimer in Europa werden können. Prof. Jucker erklärt die Folgen dieser Entscheidung für die Forschung und für Betroffene sowie alternative Therapieansätze.
Paukenschlag in der Alzheimer-Fachwelt: Der Wirkstoff Lecanemab wäre die erste ursächliche Therapie gegen Alzheimer in Europa gewesen. Ein neuartiger Beta-Amyloid-Antikörper, der aktiv in die Entstehung der Erkrankung eingreift, und laut Studien das Fortschreiten von Alzheimer im Frühstadium deutlich verlangsamen kann. In den USA, Israel, Japan, China und Südkorea ist Lecanemab unter dem Handelsnamen Leqembi bereits zugelassen, und groß war die Erwartung, dass die Antikörper-Therapie gegen Alzheimer bald auch auf dem europäischen Markt zum Einsatz kommen würde. Doch nun hat der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur EMA (European Medicines Agency) eine Empfehlung gegen die Zulassung des Antikörpers Lecanemab gegen Alzheimer abgegeben. Das Risiko schwerer Nebenwirkungen sei höher zu bewerten als der erwartete gesundheitliche Nutzen, teilte die EMA mit und verwies auf mögliche Wassereinlagerungen und Blutungen im Gehirn von Menschen, die mit dem Präparat behandelt werden.
Prof. Dr. Mathias Jucker ist Direktor am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) in Tübingen. Der Neurobiologe arbeitet seit vielen Jahren an der Ursache und Früherkennung der Alzheimer-Demenz. In unserem Mini-Interview beantwortet der Experte die drei wichtigsten Fragen zu dem überraschenden Votum gegen Lecanemab.
Wie ist die Empfehlung der EMA Ihrer Ansicht nach einzuschätzen?
Der Ausschuss für Humanarzneimittel der EMA hat sich gegen die Marktzulassung von Lecanemab in der Europäischen Union ausgesprochen, und in der Regel folgt die Europäische Kommission, die letztlich darüber entscheidet, dem Votum des Expertenrats. Ich bin darüber sehr enttäuscht. Der Hersteller Eisai hat eine Prüfung der Entscheidung beantragt, und ich kann nur hoffen, dass es nun Ende des Jahres doch noch zu einer Zulassung des Antikörpers in Europa und somit auch in Deutschland kommt. Mittlerweile ist Lecanemab auch in England (UK) zugelassen, aber die Kosten werden vom öffentlichen Gesundheitssystem nicht getragen, was jetzt dazu führt, dass sich die Reichen die Behandlung leisten können und die Ärmeren eben nicht. Das finde ich sehr unbefriedigend.
Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) bildet mit der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen das Hertie-Zentrum für Neurologie, eine der größten und modernsten Einrichtungen für klinische Hirnforschung bundesweit. Um die Einheit von Forschung und Patientenversorgung zu betonen, wurde das Zentrum für Neurologie 2023 in „Hertie-Zentrum für Neurologie“ umbenannt.
Was würde ein Nein zur Antikörper-Therapie in Europa für Ihre Forschung, aber auch für die Alzheimer-Erkrankten bedeuten?
Wenn Lecanemab als erste Antikörper-Therapie in Europa tatsächlich nicht zugelassen würde, würden wir hier in Deutschland in der klinischen Alzheimerforschung auf dem Abstellgleis landen. Wir würden es verpassen, ganz wichtige Daten zu sammeln, die zeigen, wie sich ein Medikament, das in den vermeintlichen Krankheitsprozess eingreift, langfristig auf die Biomarker und die kognitiven Veränderungen auswirkt - während in den USA und anderen Ländern, wo der Antikörper zugelassen wird, solche wichtigen Informationen gesammelt werden und als Grundlage für die Entwicklung neuer besserer Medikamente dienen. Diese Art von Antikörper-Alzheimertherapie wäre damit in der EU so gut wie am Ende, und zwar nicht nur für Lecanemab, sondern vermutlich auch für andere Amyloidantikörper mit ähnlichem Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil, wie zum Beispiel Donanemab, das in diesem Jahr ebenfalls in den USA zugelassen wurde. Natürlich müssen wir die Nebenwirkungen im Blick behalten, doch diese lassen sich durch Risikostratifizierung und ein Therapiemonitoring relativ gut vermeiden. In den USA wird dies bereits erfolgreich praktiziert. Neben dem negativen Einfluss auf die Forschung tun mir vor allem die Alzheimer-Erkrankten leid, wenn diese Therapieoption, mit der sie wertvolle Zeit und Lebensqualität gewinnen könnten, hierzulande nicht zur Verfügung stünde.
Welche vielversprechenden Ansätze gibt es noch in der Erforschung einer wirksamen Alzheimer-Therapie?
Der vielversprechendste Ansatz ist immer noch der Einsatz der Amyloid-Antikörper wie Lecanemab oder Donanemab, aber mit Gabe in einem noch früheren Krankheitsstadium. Wir nehmen gerade an einer großen internationalen Studie teil, in der untersucht wird, ob diese Antikörper die Erkrankung gänzlich verhindern können, wenn sie vor den ersten Symptomen gegeben werden. Diese Studie wird mit Menschen gemacht, die eine genetische Veränderung haben und mit ganz großer Sicherheit einmal an Alzheimer erkranken werden. Gleichzeit bleibt es wichtig, weiterhin auch andere Therapieansatzpunkte zu erforschen, vor allem auch für die Menschen, die schon an Alzheimer erkrankt sind.
INFO Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung