Interview mit Anna Kraft
Eine Sportmoderatorin mit MS? Ich hatte Angst um meinen Job.
Sie moderiert für RTL die Fußball-Spiele der UEFA Europa League, stand für die „ZDF-Sport-Reportage“, Sat.1 („ran“), Sky und Sport1 vor der Kamera und präsentierte 2021 für Eurosport die olympischen Sommerspiele: Anna Kraft (37) gehört zu den erfolgreichsten Sport-Moderatorinnen im deutschen Fernsehen. Was lange Zeit niemand ahnte: Seit 2015 lebt Anna Kraft mit der Diagnose Multiple Sklerose (MS). Sechs Jahre verschwieg die studierte Sportwissenschaftlerin, die in ihrer Jugend Deutsche Meisterin im Sprint war, ihre Erkrankung. Warum so lange? Darüber, und wie die MS ihr Leben verändert hat, sprechen wir mit Anna Kraft in unserem Interview.
Sie haben mit 29 Jahren die Diagnose MS bekommen. Wie hat sich die Erkrankung bei Ihnen bemerkbar gemacht?
Es war der 16. Dezember, kurz vor Weihnachten. Ich war beim Friseur und hatte längere Zeit gesessen. Als ich aufstehen wollte, hatte ich ein eingeschlafenes rechtes Bein und einen eingeschlafenen rechten Arm. Ich habe es darauf geschoben, dass ich so lange in dem Frisierstuhl saß, und mir nichts dabei gedacht, höchstens, dass vielleicht ein Nerv eingeklemmt sein könnte. Zuhause habe ich mich sofort unter die heiße Dusche gestellt. Das mache ich immer, wenn es mir mal nicht so gut geht. Mein Freund war Zuhause, und ich habe noch geschimpft: „Ich hab´ mir einen Nerv eingeklemmt, und nun geht das heiße Wasser nicht!“ Dabei war das Wasser brühend heiß, das ganze Bad war schon eingedampft. Nur hatte ich da schon Empfindungsstörungen an der rechten Körperseite, so dass ich nichts gespürt habe. Für den nächsten Tag war ein Dreh geplant, den ich auf jeden Fall wahrnehmen wollte, aber so konnte ich mich nicht ins Flugzeug setzen und vor der Kamera stehen. Also dachte ich: „Ich fahr´ mal eben zu einer Ambulanz ins Krankenhaus, da wird schon ein Orthopäde sein, der mich einrenken kann.“ Aber es kam alles anders. Ich musste gleich in der Klinik bleiben und habe sie erst 12 Tage später wieder verlassen.
Was war passiert?
Mir selbst war es gar nicht aufgefallen, aber in der Klinik hatte ich schon eine leicht hängende Gesichtshälfte, so dass alle in der Ambulanz beunruhigt waren. Sie dachten, ich hätte einen Schlaganfall, deshalb bin ich sofort ins MRT gekommen. Zum Glück konnte die Diagnose ausgeschlossen werden, aber ich sollte trotzdem in der Klinik bleiben. Das passte mir natürlich gar nicht, ich hatte am nächsten Tag einen Job zu erledigen. Aber es ging nicht. Am nächsten Vormittag teilte mir eine Ärztin dann die Diagnose mit: Multiple Sklerose. Das war ein ziemlicher Schock.
"Heute achte ich mehr auf mich und meine Bedürfnisse, ich gehe nicht mehr über meine Grenzen hinweg, sage auch mal Nein, wenn mir etwas zu viel wird, und gönne mir meine Pausen."
War Ihnen die Krankheit bis dahin ein Begriff?
Ehrlich gesagt, überhaupt nicht. Die Abkürzung MS kannte ich zwar, aber dass sie für eine unheilbare neurologische Erkrankung steht und sich der Körper quasi selbst bekämpft, wusste ich nicht. Am schlimmsten war aber zum damaligen Zeitpunkt für mich, dass mir die Ärztin ganz sachlich die Diagnose erklärt hat, und mir gleichzeitig eine Infobroschüre in die Hand drückte, auf der vorn eine Frau im Rollstuhl zu sehen war. Das war für mich als ehemalige Leistungssportlerin und Sportmoderatorin ein riesiger Schock. Was mir die Ärztin danach erzählte, habe ich gar nicht mehr wahrgenommen.
Sie hätten am nächsten Tag einen Dreh gehabt, wie sind Sie mit der Situation umgegangen?
Das war ehrlich gesagt die größte Hürde. Meinem engsten Kreis hatte ich die Diagnose natürlich sofort mitgeteilt, aber auch bei denen war der Schock groß. Einige sahen mich von nun an im Rollstuhl, weil es ja leider das Bild ist, das viele mit der MS verbinden. Ich hatte große Angst, dass mein Arbeitgeber genauso denken würde. Zum Glück musste ich nur die letzte Sendung vor der Weihnachtspause absagen, danach gab es ohnehin etliche Wochen Pause. Das passte mir gut, weil ich eine Reha hatte. Ich musste wieder Laufen und Schreiben lernen. In der Klinik hatte ich sofort antientzündliche Kortison-Infusionen bekommen, saß damals wirklich im Rollstuhl. Ich konnte nicht allein auf Toilette gehen, nicht mal ein Glas halten. Einmal bin ich sogar mit dem Infusionsständer umgefallen. Es war eine schlimme und traurige Zeit. Im Job habe ich gesagt, dass ich aus gesundheitlichen Gründen ausfalle, und zum Glück hat keiner genau nachgefragt. Als ich dann wieder da war, fiel es gar nicht auf, dass ich krank war. Ich konnte meiner Arbeit wie immer nachgehen. Aber meine Sorge blieb. Ich hatte Angst, dass man mir Schwäche nachsagen würde, wenn ich von der Krankheit erzählen würde. Eine Sportmoderatorin mit MS? In meinen Augen war das Bild, das die Gesellschaft von dieser Krankheit hat, so negativ, dass ich meine Diagnose nicht öffentlich aussprechen konnte. Ich hatte Angst um meinen Job.
Sie haben Ihre Erkrankung erst sechs Jahre später publik gemacht. Warum so spät?
Ich habe lange gebraucht, um meine Krankheit zu akzeptieren - und dann wohl den richtigen Zeitpunkt verpasst. Ich war eine junge Kollegin in „Topform“, der man bereits große Aufgaben zugetraut hatte. Es lief gut, da fängt man nicht plötzlich im Konferenzraum an und sagt: „Hört mal eben, ich habe übrigens MS.“ Man kann eine MS ja auch gut verbergen, es sieht einem keiner etwas an. Ich selbst habe meine MS lange Zeit verdrängt, sie passte einfach nicht in mein Leben. Ich war immer ein Leistungsmensch: Ich habe Leistungssport als Sprinterin betrieben, für mich war der Zweite hinter der Ziellinie immer der erste Verlierer. Fast drei Jahre habe ich gehadert und mich damit auseinandergesetzt, was die MS jetzt mit mir und meinem Körper macht. Wie läuft das mit den Medikamenten? Bin ich richtig eingestellt? Ich hatte noch einige Schübe und dachte: Geht mein Leben jetzt so weiter? Ich war lange nicht gefestigt genug, um mit meiner Diagnose an die Öffentlichkeit zu gehen. Dann kam irgendwann das Thema Kinderwunsch hinzu. Ich habe mir große Sorgen gemacht, dass das mit der MS nicht gehen würde. Überall waren Fragezeichen, und es gab damals kaum gute Informationen zu dem Thema. Ich hatte fürchterliche Bedenken, und es waren viele Gespräche mit Freunden und der Familie nötig. 2018 kam schließlich meine erste Tochter zur Welt, 2020 meine zweite Tochter. Und wie bei einem Wunder waren die beiden Schwangerschaften ab dem 4. Monat die beste Zeit, die ich mit meinem Körper erlebt habe. Ich habe also viel Angst, aber auch viel Glück erlebt in diesen sechs Jahren, und ich brauchte die Zeit, um mich der Krankheit stellen zu können.
Sie haben damals die ZDF-Sportreportage moderiert, standen für die Krimi-Serie „Die Rosenheim-Cops“ vor der Kamera. Wie groß war der Druck, sich die Erkrankung nicht anmerken zu lassen?
Immens, und ich erlebe heute, wenn ich bei RTL im Studio stehe, wie befreit ich bin. Der innerliche Druck war damals riesengroß: Manchmal hatte ich Wortfindungsstörungen oder ich spürte, dass ich mich nicht so gut konzentrieren konnte. Aber ich habe mich so zusammengerissen, dass es keiner gemerkt hat. Ich hätte es beim ZDF sicher früher sagen können, um mir diesen Druck zu nehmen, aber ich wollte der MS so wenig Raum wie möglich geben. Alles sollte so weiterlaufen, wie ich es mir gewünscht hatte.
Was hat schließlich den Ausschlag gegeben, die MS öffentlich zu machen?
Es waren die Gespräche mit anderen MS-Betroffen. Ich bin häufiger im MS-Zentrum, weil ich dort meine Infusionen bekomme, und dort habe ich immer wieder mit jungen Leuten gesprochen, die ihre Krankheit verschweigen. Weil sie Angst davor haben, als schwach abgestempelt zu werden, und letztendlich ihren Job zu verlieren. Viele berichteten mir, dass es für sie jedes Mal eine Hürde ist, wenn sie eine Krankmeldung beim Arbeitgeber vorlegen müssen, sobald sie ihre notwendigen Infusionen brauchen, oder weil es ihnen einfach schlecht geht. An ihrem am Arbeitsplatz weiß oft niemand, mit welcher Last und mit welchem Tabu diese jungen Menschen leben. Das hat mich sehr berührt, und es stand für mich fest, dass ich meine Stimme erheben muss, um etwas dagegen zu unternehmen - und dass ich mich endlich selbst stellen muss. Für mich war klar: Ich will erreichen, dass die MS entmystifiziert wird. Ich will darüber aufklären und ihr den Schrecken nehmen. Nicht umsonst nennt man Multiple Sklerose „die Krankheit der 1000 Gesichter“. Jeder erlebt die Symptome und den Verlauf anders, und MS bedeutet auch nicht, dass man automatisch im Rollstuhl landet. Es gibt heutzutage sehr gute Therapien und Medikamente, um den Verlauf hinauszuzögern, und ein Leben ohne zu große Einschränkungen zu führen.
Wie sind Sie bei Ihrem „Outing“ vorgegangen?
Als ich 2021 von Eurosport zu RTL gewechselt bin, habe ich meinem Arbeitgeber gleich meine Erkrankung mitgeteilt. Meine Worte wurden sehr positiv aufgenommen, und man hat mir sofort angeboten, mich zu unterstützen. Ich war darüber sehr erleichtert. Ein paar Wochen später habe ich meine MS dann bei „stern TV“ vor einem Millionenpublikum öffentlich gemacht. Das tat mir unglaublich gut, es war ein Befreiungsschlag.
Wie waren die Reaktionen?
Überwältigend! Es gab sehr viel Zuspruch von Zuschauern, Kolleginnen und Kollegen, Bekannten. Viele Erkrankte und auch ihre Angehörigen haben den Kontakt zu mir gesucht. Immer wieder fielen Sätze wie: „Von Dir als starker Powerfrau hätten wir nicht erwartet, dass Du MS hast.“ Das hat mich irgendwie gefreut, denn es zeigt, dass ich dazu beitragen kann, das negative Bild der MS etwas zu verändern. Das bedeutet nicht, dass ich alles schönreden möchte: Ich selbst habe eine hochaktive Form der MS, die sich leider in den vergangenen Jahren etwas verschlechtert hat, und natürlich habe ich auch meine Dämonen-Tage, an denen es mir nicht gut geht.
Was passiert an „Dämonen-Tagen“, wenn Sie auf Sendung müssen?
Da bin ich eine Meisterin im Wegdrücken. Ich habe bisher nur zwei Sendungen abgesagt: Damals, als ich die Diagnose bekommen habe, und kurz vor der Entbindung, als ich in den Kreißsaal musste. Ich will der MS nicht diesen Raum geben, da bin ich ganz ehrlich - und auch zu ehrgeizig. Am Set und in den 90 Minuten, wenn der Ball rollt, hat sie einfach keinen Platz.
Wer fängt Sie auf, wenn es Ihnen schlecht geht?
Mein Partner war und ist meine größte Stütze (Sportkommentator Wolff-Christoph Fuss, Anmerk. der Redaktion). Also, wenn man seiner eigenen Freundin auf der Toilette helfen muss, geht es nicht intimer, das verbindet. Aber ich habe auch wunderbare Freunde. Meine beste Freundin war vom ersten Tag an da, sie hat mir damals im Krankenhaus die Fuß- und Fingernägel lackiert, weil ich mich mit den Spastiken und Lähmungen nicht bewegen konnte. Kurz vor Weihnachten hatte ich natürlich das Bedürfnis ausgehtauglich auszusehen, da musste sie mich aufpäppeln, und mir meinen Glitzeroverall an- und ausziehen. Heute kann ich darüber lächeln, ich konnte damals nichts allein, aber Hauptsache das Outfit saß.
Wie hat sich Ihr Leben seit der Diagnose verändert?
Ich bin gelassener geworden. Im ersten Jahr habe ich sehr mit der Frage gehadert, warum gerade ich erkrankt bin. Eine Leitungssportlerin, die immer auf Körper, Gesundheit und Ernährung geachtet hat. Ich konnte das nicht akzeptieren. Heute frage ich nicht mehr nach dem Warum, das bringt nichts. Entscheidend ist für mich, wie ich mit der MS gut leben kann. Dazu gehört auch, den Druck etwas rauszunehmen. Früher habe ich beim Sport alles gegeben, habe gern Gewichte gestemmt. Da macht mir weiterhin Spaß, aber heute gönne ich mir Pausen. Statt zu pumpen, lege ich eben mal eine halbe Stunde Yoga ein oder mache eine Meditation. Das tut mir gut. Mein Körper würde mir ansonsten auch die Quittung geben, indem er anfängt zu kribbeln, und ich mich schlechter bewegen kann. Hinzu kommt das Fatigue-Syndrom, also diese lähmende Müdigkeit, die viele MS-Betroffene kennen. Auch für mich ist die Fatigue ein Dämon, und ich kann nur beten, dass die Ärzte irgendwann ein Mittel dagegen finden. Bewegung hilft, aber als Mama von zwei kleinen Kindern ist es nicht einfach, sich zwischendurch einfach hinzulegen. Dennoch: Heute achte ich mehr auf mich und meine Bedürfnisse, ich gehe nicht mehr über meine Grenzen hinweg, sage auch mal Nein, wenn mir etwas zu viel wird, und gönne mir meine Pausen. Das klappt prima. Zusätzlich beflügelt mich meine Mission, über die MS aufzuklären und ihr den Schrecken zu nehmen. Ich habe viele Anfragen zu dem Thema, und es macht mich stolz, wenn ich anderen Erkrankten Mut machen kann. Ich habe zwei gesunde Kinder und einen tollen Job, aber eben auch schlechte Tage. Das gehört dazu. Niemand mit MS muss sich verstecken. Gemeinsam schaffen wir das.
Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung