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Foto: Wiebke Peitz (Charité)
Interview mit Prof. Dr. Malek Bajbouj, November 2025

Reizflut kann Hirnstrukturen verändern

Was ständige Reizüberflutung mit unserem Gehirn macht, erklärt Prof. Malek Bajbouj im Interview. Es geht um Gesundheit, Social Media, Psychiatrie – und Wege zur Entlastung.
Gehirn erforschen

Quick Read: Worum es geht

Reizüberflutung entsteht nicht nur durch Menge, sondern durch Bedeutung: Was uns emotional oder persönlich betrifft, beansprucht das Gehirn besonders stark. Wird der Filter im Thalamus überfordert, leiden Konzentration, Gedächtnis und Stimmung.

In der Klinik zeigt sich das bei digitaler Abhängigkeit oder Schizophrenie – beides Ausdruck überforderter Reizverarbeitung. Besonders gefährdet sind junge Menschen, deren Gehirn noch reift. Bajbouj plädiert deshalb für einen späteren Einstieg in soziale Medien.

Seine Empfehlung: feste Rituale, Bewegung, bewusste Offline-Zeiten. Entlastung entsteht nicht durch Verzicht, sondern durch einen gesunden Rhythmus zwischen Reiz und Ruhe.

Das menschliche Gehirn ist täglich einer Flut an Reizen ausgesetzt: Bilder, Geräusche, Gerüche und digitale Informationen prasseln nonstop auf uns ein. Doch was passiert eigentlich im Gehirn, wenn es permanent mit Informationen überflutet wird? Das war auch Thema des diesjährigen NeuroForum Frankfurt „Reizflut – Herausforderung für Gehirn und Gesellschaft“, an dem Prof. Dr. Malek Bajbouj teilnahm. Er ist Einsteinprofessor und Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité - Universitätsmedizin Berlin. In unserem Interview erläutert Prof. Bajbouj die gesundheitlichen Risiken durch Reizüberflutung, die Rolle der eigenen Persönlichkeit, und warum bewusste Rituale helfen können, den Alltag zu entschleunigen.

Es ist 9 Uhr morgens, waren Sie heute schon einer Reizflut ausgesetzt?

Das ist fast schon eine philosophische Frage, denn jeder Mensch wird ja fast immer Reizen ausgesetzt. Aber ich glaube, bis jetzt hatte ich eher ein mittleres Maß an Reizen. Ich bin morgens mit dem Fahrrad in die Klinik zur Arbeit gefahren. Das war in Phasen eine sehr reizvolle Umgebung, aber auch eine reizarme, weil ein Teil des Weges durch den Berliner Tiergarten geht. Im Anschluss hatte ich wenige Besprechungen, eine Frühkonferenz, zwei Patientinnen, die ich gesehen habe. Das war ein moderates Maß, von dem ich nicht sagen würde, dass es eine Flut gewesen sei.

Was macht Reizflut eigentlich aus? Ab wann werden Reize für unser Hirn als zu viel empfunden?  

Der Begriff Reizflut beschreibt ja zunächst einmal nur die Menge, also viel oder wenig. Schaut man genauer hin, ist aber mindestens genauso entscheidend, ob die Reize für uns relevant sind oder nicht. Es macht einen Unterschied, ob ich Reizen ausgesetzt werde, die für mich persönlich bedeutsam sind, oder ob es um völlig irrelevante Dinge geht, wie zum Beispiel die Montageanleitung für einen IKEA-Schrank. In letzteren Fällen kann das Gehirn irgendwann sagen: „Okay, das ist unwichtig, das blende ich leichter aus.“ Anders verhält es sich, wenn die Reize dauerhaft relevant sind, dann fällt das Ausblenden deutlich schwerer. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die emotionale Färbung der Reize. Viele positive oder viele negative Reize können selbst in kleiner Menge das Gehirn stark beanspruchen, während eine große Anzahl irrelevanter, bedeutungsloser oder emotional neutraler Reize weniger Wirkung zeigt.

Manche Menschen sitzen in Gesellschaft im Restaurant und können sich kaum wehren, jedes Gespräch am Nachbartisch im Wortlaut mitzubekommen. Warum gelingt es ihnen nur schwer, solche Reize auszublenden – während andere das Drumherum kaum registrieren?

Das hängt vermutlich auch mit Persönlichkeitseigenschaften zusammen, möglicherweise aber auch mit den Faktoren, die ich zuvor genannt habe. Nehmen wir nochmal das Beispiel mit der Montageanleitung: Zwei Personen am Nachbartisch gehen sie gemeinsam durch, und meine Neigung zuzuhören ist minimal. Wenn ich aber einen Sohn habe, der für ein halbes Jahr nach Kanada geht, und nebenan wird genau über Kanada und Schüleraustausch bei 15-Jährigen gesprochen, höre ich natürlich gebannt zu und kann mich kaum abwenden. Es muss für mich eine persönliche Relevanz haben. Oder nebenan wird über eine Trennung gesprochen, und die Personen sind in Tränen aufgelöst, dann höre ich auch eher zu als bei neutralen Gesprächen. Es kommt also auf den Inhalt an und darauf, welche Bedeutung er für mich persönlich hat. Dazu kommen Persönlichkeitseigenschaften: bin ich eher neugierig oder nicht? Und vielleicht spielt auch das Gegenüber eine Rolle: Ist das Gespräch mit der Person, mit der ich selbst rede, langweilig, lenkt mich die Unterhaltung nebenan eher ab.

Welche Auswirkung hat Reizüberflutung auf unser Gehirn und auf unsere Gesundheit?

Das Gehirn ist so aufgebaut, dass es quasi einen Gatekeeper hat – Strukturen im Thalamus, die herausfiltern, welche Reize relevant sind und welche nicht. Evolutionär sind wir darauf ausgelegt, dass uns ständig mehr Reize umgeben, als wir bewusst verarbeiten können. Wenn wir Reizflut nun als eine Situation definieren, in der die üblichen Filterstrukturen überfordert sind, kann das eine ganze Reihe von Hirnfunktionen verändern: Die Fähigkeit zu fokussieren kann abnehmen, die Aufmerksamkeit und die Gedächtnisleistung können beeinträchtigt werden, und auch die Stimmung kann sich beispielsweise in Richtung Depressivität verschieben. Ein basales Reaktionsmuster ist dabei das sogenannte Arousal-System, das Gehirnsystem, das das allgemeine Aktivierungsniveau des zentralen Nervensystems steuert und somit auch für Anspannung verantwortlich ist. Bei zu vielen Reizen steigt dieser Wert deutlich an.

Welche Erfahrungen machen Sie in Ihrer klinischen Arbeit mit Patientinnen und Patienten, die von Reizüberflutung betroffen sind?

Eine eigene Kategorie „reizflutbezogene Erkrankungen“ gibt es zwar nicht, aber wir begegnen dem Phänomen in unterschiedlichen Varianten. Eine davon sind Abhängigkeiten, darunter auch die sogenannten Verhaltenssüchte oder nicht-stoffgebundenen Abhängigkeiten. Menschen konsumieren zum Beispiel übermäßig digitale Inhalte wie Handyinhalte oder Computerspiele und geraten dadurch in eine Art Abhängigkeit. Wenn sie nicht die gewohnte Intensität und Dosis an Informationen pro Tag erhalten, entsteht ein sogenanntes Craving, also ein starkes Verlangen, und es können Entzugssymptome auftreten. Bleibt die gewünschte Reizzufuhr aus, kommt es häufig auch zu einer Vernachlässigung sozialer Aktivitäten. In dieser Kategorie sehen wir im klinischen Kontext eine besonders hohe Dichte an Reizen. Eine zweite Variante betrifft Menschen mit Schizophrenien. Hier spielt der bereits erwähnte Thalamus eine Rolle, der normalerweise Informationen filtert. Bei diesen Patientinnen und Patienten funktioniert dieser Filtermechanismus nur eingeschränkt, sodass Informationen wie durch ein großmaschiges Sieb ungefiltert ins Gehirn gelangen und es überfordern. Das kann über mehrere Kaskaden hinweg zu Halluzinationen und Wahnvorstellungen führen. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Reizüberflutung ein relevanter Faktor für die Psychopathologie sein kann.

Kann man sagen, dass manche Menschen besonders anfällig für Erkrankungen im Zusammenhang mit Reizüberflutung sind?

Für beide Erkrankungen, die ich zuvor genannt habe, spielt die genetische Prädisposition eine Rolle, also eine gewisse Veranlagung. Noch wichtiger sind jedoch Umgebungsfaktoren: Erfahrungen, die man im Leben gemacht hat, erlernte Verhaltensweisen oder das, was man nicht erlernt hat. Wir betrachten solche Erkrankungen immer im Rahmen des biopsychosozialen Modells: Krankheiten entstehen nie durch eine einzige Ursache, sondern durch ein Zusammenspiel von Genen, Umwelt und individuellem Lernen.

Was halten Sie von einem Handy- oder auch Social-Media-Verbot für Kinder und Jugendliche?

Ich hoffe, dass wir in einigen Jahren auf unsere heutige Zeit und die weitgehend unregulierte Nutzung sozialer Medien ähnlich zurückblicken wie auf das Rauchen: „Wow, man hat damals wirklich in Restaurants geraucht und durfte wirklich im Auto rauchen!“ Natürlich sind soziale Medien nicht per se negativ, aber angesichts der noch nicht abgeschlossenen Hirnreifung sehr junger Menschen und der Art, wie soziale Medien gestaltet sind, überwiegen aus meiner Sicht die Nachteile gegenüber den Vorteilen für junge, noch vulnerable Gehirne. Auf der einen Seite sehe ich, mit welcher Selbstverständlichkeit die junge Generation über Grenzen hinweg kommuniziert und sich zu Themen vernetzt. Das ist eine großartige Entwicklung, die man nicht missen möchte. Auf der anderen Seite sind soziale Medien jedoch oft nicht darauf ausgelegt, wertvolle soziale Verbundenheit zu fördern oder den Blick über den digitalen Raum hinaus zu stärken. Ihre Algorithmen zielen vielmehr auf Polarisierung und schnelle Belohnung durch Aufmerksamkeit ab – und genau das macht sie für junge Menschen besonders problematisch. Deshalb erwarte und hoffe ich, dass wir in Zukunft einen restriktiveren und bewussteren Umgang mit sozialen Medien sehen werden.

Gibt es aus Ihrer Sicht ein Mindestalter, ab dem Kinder soziale Medien nutzen sollten?

Es gibt unterschiedliche Einschätzungen von Fachleuten – die Empfehlungen reichen meist von etwa zwölf bis sechzehn Jahren. Letztlich hängt es stark vom individuellen Entwicklungsstand des Kindes ab. Entscheidend ist, dass Kinder zunächst eine Phase erleben, in der sie soziale Fähigkeiten ohne digitale Medien aufbauen können: also echte Begegnungen, gemeinsames Spielen, Sport, gemeinsames durch den Wald laufen und etwas bauen, aber auch Konflikte aushandeln. In dieser Zeit lernen sie, dass ihr Belohnungssystem auch auf natürliche Weise aktiviert werden kann – durch Erlebnisse, Beziehungen oder Erfolgserlebnisse im echten Leben. Deshalb halte ich ein Einstiegsalter eher ab etwa 15 Jahren für sinnvoll, nicht schon mit 10 oder 11.

Reize überall, dazu rasanter Fortschritt – kann unser Gehirn evolutionär gesehen unserer schnelllebigen Zeit eigentlich noch folgen, oder hinkt es eher hinterher?

Ja und nein. Unser Gehirn ist unglaublich plastisch und reagiert ständig auf die Reize und Anforderungen, die uns umgeben. Zur Zeit Gutenbergs gab es noch keinen MRT-Scanner, daher wissen wir nicht genau, wie die Einführung des Buches das Gehirn verändert hat, aber wir wissen, dass neue Fähigkeiten immer auch Spuren im Gehirn hinterlassen. So zeigen etwa Studien, dass sich durch häufiges Computerspielen motorische Areale vergrößern, sich die selektive Aufmerksamkeit verändert und auch bestimmte Repräsentationsareale im Gehirn anpassen. Das bedeutet: Das Gehirn reagiert, es passt sich an und zwar fortlaufend. Die wichtigere Frage ist jedoch, ob diese neuroplastischen Veränderungen immer funktional sind und ob sie ausreichen. Wenn sich der motorische Kortex durch häufiges „Daddeln“ vergrößert, ist das zunächst nur ein Zeichen für Anpassung, es sagt aber nichts darüber aus, ob diese Veränderung nützlich oder schädlich ist. Sie ist einfach eine Reaktion auf äußere Reize. Evolutionäre Mechanismen dagegen brauchen viel Zeit. Solche grundlegenden Anpassungen geschehen nicht innerhalb von zwei oder drei Generationen.

3sat NANO Talk: Die Reizflut

Ein gesundes Gehirn ist darauf eingestellt, Reize zu filtern und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Doch ein ständiges Zuviel an Informationen führt zu einer Überforderung, die langfristig krank machen kann. Alena Buyx spricht mit ihren Gästen über die Folgen des Dauerbeschusses:  Prof. Malek Bajbouj, Prof. Michael Hampe, Prof. Maren Urner.

Zur Sendung in der Mediathek

Wie können wir uns im Alltag vor der Überflutung von Reizen schützen? Man könnte zwar häufiger das Handy zur Seite legen, aber es scheint ja nicht so einfach zu sein…

Durch protected time, also geschützte Zeiten, und bewusste Rituale wie zum Beispiel Zeiten für Sport, Hobbys oder persönliche Begegnungen, die fest im Alltag verankert sind, damit eine Reizüberflutung gar keine Chance hat. Ich erinnere mich an die Aussage eines Sohns einer Bekannten, der irgendwann sagte: „Das Fußballspielen klaut total meine Zeit. Ich komme gar nicht mehr so richtig zum Zocken.“ Das bringt es eigentlich auf den Punkt. Es ist wenig wirksam, Kindern oder Jugendlichen einfach das Handy wegzunehmen und zu sagen: „Mach doch was anderes.“ Viel hilfreicher ist es, Gewohnheiten zu fördern und Rituale zu schaffen, die selbstverständlich werden – bis solche Sätze ganz von allein entstehen. Wenn ich zum Beispiel morgens mit dem Fahrrad fahre anstatt mit der U-Bahn, in der ich sonst E-Mails checken würde, oder in einem Auto, in dem gleichzeitig links ein Podcast läuft und rechts ein Telefonat geführt wird. Oder wenn ich mir am Wochenende bewusst Zeit für Aktivitäten draußen in Bewegung und mit anderen Menschen nehme, dann sind das kleine, aber überaus wirksamen Schritte, die helfen, unser Gehirn vor der Reizüberflutung zu schützen.

Wissen tun das sicher einige, aber umsetzen…

Ja, es ist nicht unbedingt ein Erkenntnisproblem. Am Ende braucht es noch den Willen und die Entscheidung, die Dinge zum Positiven verändern zu wollen. 

Welche positiven Effekte würden uns unmittelbar belohnen?

In einer reizarme Umgebung sinkt das Arousal, also das Anspannungslevel. Gleichzeitig steigt die Fähigkeit, sich Dinge zu merken und fokussiert zu arbeiten. Man kann sogar anhand von Biomarkern messen, dass sich die Herzratenvariabilität günstig verändert, dazu gibt es eine ganze Reihe von spannenden Studien. Man muss dafür auch nicht sieben Tage die Woche 24 Stunden in der Tonne verbringen, aber es ist, wie schon die alten Griechen sagten: Das gesunde Mittelmaß macht‘s. Für Menschen bedeutet das einen Wechsel zwischen intensiveren Phasen und ruhigeren Abschnitten, und dieser Rhythmus ist individuell verschieden. Manche fühlen sich unwohl, wenn es zu ruhig ist, andere, wenn es zu laut und bunt ist. Aber da gibt es sicher für jede und jeden einen sinnvollen Korridor. 

Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung

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