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Interview mit Julia Karnahl, September 2025

Kunst kann einen großartigen Beitrag zur Demokratieförderung leisten

Anlässlich des zunehmenden Antisemitismus spricht Hertie-Referentin Julia Karnahl über das neue Silvia-Tennenbaum-Stipendium.
Demokratie stärken

Quick Read: Worum es geht

Im Interview spricht Julia Karnahl,  Referentin im Demokratiebereich, über das neue Silvia-Tennenbaum-Stipendium.   Mit dem Stipendium fördert die  Hertie-Stiftung Autorinnen, Kritiker und Künstlerinnen, die   zu den Themen Antisemitismus, Erinnerungskultur und Demokratie schreiben.   Das sechsmonatige Writer-in-Residence-Programm umfasst einen dreimonatigen Aufenthalt in Frankfurt am Main, eine monatliche Zuwendung, einen Mietzuschuss sowie die Teilnahme an Veranstaltungen der Stiftung. 

Antisemitisches Denken und Handeln nimmt aktuell rasant zu, antisemitische Straftaten in Deutschland sind auf dem Höchststand. Darum erweiterert die Hertie-Stiftung ihr Engagement gegen Antisemitismus um ein neues Stipendium.  Mit dem Silvia-Tennenbaum-Stipendium fördert die  Hertie-Stiftung Autorinnen, Kritiker und Künstlerinnen, die   zu den Themen Antisemitismus, Erinnerungskultur und Demokratie schreiben.  Das sechsmonatige Writer-in-Residence-Programm umfasst einen dreimonatigen Aufenthalt in Frankfurt am Main, eine monatliche Zuwendung, einen Mietzuschuss sowie die Teilnahme an Veranstaltungen der Stiftung. Warum Silvia Tannenbaum als Namensgeberin dient und welche Rolle Literatur, Kritik und Kunst in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit spielen, erzählt Julia Karnahl,  Hertie-Referentin für  das Projekt Beruf:Politik und  für Grundsatzfragen Demokratie, in unserem Interview.

Wer war Silvia Tennenbaum – und warum hat die Stiftung ihr zu Ehren ein Stipendium geschaffen?

Silvia Tennenbaum war eine jüdische Schriftstellerin. Sie wurde 1928 in eine bekannte Frankfurter Familie geboren, die das kulturelle Leben der Stadt maßgeblich mitprägte. 1936 verließ sie Deutschland und wuchs in den USA auf. Dort blieb sie zeitlebens wohnen, beschäftigte sich aber in ihren literarischen Werken immer wieder mit ihrer Familiengeschichte. 1981 erschien der Roman „Straßen von gestern” über das Schicksal einer deutschen jüdischen Familie in Frankfurt von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik bis in die Jahre der nationalsozialistischen Verfolgung. Die FAZ nannte das Buch „die jüdischen Buddenbrooks“.

Aber Silvia Tennenbaum schrieb nicht nur über Frankfurt und die jüdische Geschichte der Stadt, sie reiste auch ab Beginn der 1980er Jahre immer wieder dorthin, las aus ihren Büchern und engagierte sich in der Erinnerungsarbeit.

Diese Kombination aus literarischem Schaffen und engagierter Erinnerungsarbeit vor Ort macht sie zur perfekten Namensgeberin für das Stipendium. Denn wir wollen genau dazu ermutigen: dass sich Autorinnen und Autoren literarisch mit den Themen Erinnerungskultur und Antisemitismus beschäftigen und sich mit ihrem Wirken aktiv in die Frankfurter Stadtgesellschaft und den aktuellen Diskurs einbringen.  

Das Stipendium wird in diesem Jahr erstmals ausgeschrieben. Warum ist ein Stipendium gegen Antisemitismus gerade jetzt so wichtig?

Antisemitisches Denken und Handeln nimmt aktuell rasant zu – weltweit und auch in Deutschland. Studien wie die Memo-Studie der Stiftung "Erinnerung,  Verantwortung und Zukunft" zeigen, dass antisemitische Einstellungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen und in den letzten Jahren immer weiter zugenommen haben. Und diese Haltungen schlagen sich leider auch im Bundeszentralregister nieder: 2024 erreichten antisemitische Straftaten in Deutschland einen Höchststand.

Das ist eine absolut alarmierende Entwicklung und eine der großen gegenwärtigen Herausforderungen für unsere Demokratie. 

An wen richtet sich das Stipendium? Welche Art von Projekten und Bewerbungen erhoffen Sie sich?

Das Programm richtet sich an Autoren und Autorinnen, Kritiker und Kritikerinnen, Künstler und Künstlerinnen, die sich inhaltlich mit den Themen Antisemitismus, Erinnerungskultur und Demokratie beschäftigen. Von ihnen erhoffen wir uns neue Perspektiven und künstlerische Ansätze, die die gesellschaftliche Debatte bereichern, in die Frankfurter Stadtgesellschaft hineinwirken und andere inspirieren, sich mit dem Themenfeld zu beschäftigen.

Die ersten Bewerbungen sind übrigens schon eingegangen und sehr vielversprechend…

Wie fügt sich das Stipendium in die breitere Arbeit der Hertie-Stiftung gegen Antisemitismus ein? Gibt es Schnittstellen zum Fonds?

Das Thema Antisemitismus beschäftigt die Stiftung kontinuierlich, schon aus ihrer historischen Verantwortung heraus. Der „Fonds für Antisemitismus-Bekämpfung und Aufklärung“ fördert gemeinnützige Körperschaften und Körperschaften des öffentlichen Rechts, die Bildungs- und Dialogprojekte gegen Antisemitismus vor allem für junge Menschen umsetzen. Auch in anderen Projekten der Stiftung spielen die Themen Antisemitismus und Erinnerungskultur eine Rolle, so im Weiterbildungsprogramm des Business Council for Democracy "Leaders for Democracy: Erinnern. Gestalten. Unternehmen stärken.", in dem sich Führungskräfte mit Themen wie Verantwortung und Haltung beschäftigen.

Das Silvia-Tennenbaum-Stipendium knüpft inhaltlich daran an und erweitert den Wirkungsraum der Stiftung in den kulturellen Raum. Natürlich wird es einen engen Austausch zwischen den Stipendiaten und allen Demokratie-Projekten der Stiftung geben, der sicherlich für alle Seiten bereichernd sein wird.

Welche Rolle können Literatur, Kritik und Kunst in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit spielen?

Kunst kann einen großartigen Beitrag zur Demokratieförderung leisten, davon bin ich überzeugt. Sie kann Menschen berühren, zum Nachdenken anregen, fremde Perspektiven nahebringen, Räume für Ideen und Zukunftsvisionen öffnen. Bestenfalls fördert Kunst so demokratische Kompetenzen wie kritisches und multiperspektivisches Denken, Dialogfähigkeit, Empathie, Resilienz. Und wenn Kunst in den Dialog geht, befördert sie auch die Teilhabe von Menschen an gesellschaftlichen Diskursen und Prozessen.  

Die Stiftung arbeitet besonders in Frankfurt ja immer wieder mit kulturellen Institutionen wie etwa der Alten Oper und dem Städel Museum zusammen, um solche Wechselwirkungen zu befördern.  

Das Silvia-Tennenbaum-Stipendium unterstützt kreative Menschen, die sich mit Fragen von Antisemitismus, Erinnerungskultur und Demokratie auseinandersetzen. Es erinnert zugleich an die Schriftstellerin Silvia Tennenbaum, deren Lebensgeschichte und Werk für diesen Einsatz inspirieren.

Mehr erfahren

Sie haben kürzlich ein Buch über politische Teilhabe veröffentlicht. Inwiefern spielt Ihre Erfahrung mit Demokratieförderung auch in die Arbeit am Stipendium hinein?

Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, sich für die Demokratie zu engagieren – ob in Parteien, über Interessensvertretungen, in Vereinen, Verbänden, durch Protest oder Kunstaktionen. In meinem Buch habe ich versucht, möglichst viele davon aufzuzeigen, um gerade junge Menschen zu motivieren, sich aktiv einzubringen.

In den Demokratie-Projekten der Stiftung setzen wir ja auch an verschiedenen Stellen an: Wir geben Lehrkräften Mittel an die Hand, um mit ihren Schülerinnen und Schüler das Debattieren zu erlernen. Wir unterstützen Kommunen, Jugendbeteiligung umzusetzen. Wir begleiten Unternehmen darin, Demokratiebildung am Arbeitsplatz zu ermöglichen. Wir ermutigen junge Menschen dazu, in politischen Ämtern und Mandaten Verantwortung zu übernehmen. 

Immer wieder neu zu evaluieren, welche Bedarfe es im Bereich Demokratieförderung gibt, welche neuen Zielgruppen, Ansätze und Methoden, und entsprechend Programme zu entwickeln und aufzugleisen, das ist eine wichtige, große und dauerhafte Aufgabe – und eine sehr lohnende!

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