
Interview mit Prof. Dr. Sven Poli, Juli 2025
Heiße Nächte erhöhen das Schlaganfall-Risiko
Wie gefährlich sind extreme Temperaturen wirklich? Prof. Dr. Sven Poli vom Hertie-Institut in Tübingen erklärt, warum vor allem die Hitze in der Nacht das Schlaganfallrisiko steigen lässt, wie sich Hitzschlag, Sonnenstich und Hitze-Schlaganfall voneinander unterscheiden und wer besonders gefährdet ist. Warum vor allem Anpassung eine besonders große Rolle spielt und wie klimabedingte Gesundheitsrisiken besser erforscht und minimiert werden können, lesen Sie im Interview.
Sommer, Sonne – und ein Hirn im Schwitzkasten: Extreme Hitze stellt für uns Menschen ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar. Herz, Kreislauf, aber vor allem unser Gehirn leidet unter hohen Temperaturen bis zu 40 Grad. Nicht ohne Folgen: Eine Studie aus Augsburg zeigt, dass nächtliche Hitze das Risiko für Schlaganfälle um sieben Prozent erhöht. Warum das so ist? Prof. Dr. Sven Poli, Forschungsgruppenleiter in der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt neurovaskuläre Erkrankungen am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) gibt Antwort und erläutert, warum neben älteren Menschen gerade Frauen bei Hitze ein erhöhtes Hirn-Infarkt-Risiko haben – und weshalb die heißen Nächte so gefährlich sind.
Die erste große Hitzewelle in diesem Jahr bescherte uns Temperaturen bis zu 39 Grad, weitere Hitze-Hochs werden erwartet. Was bedeutet starke Hitze für unser Gehirn?
Für das Gehirn bedeutet starke Hitze zunächst wenig, solange die Autoregulation funktioniert. Der Mensch hat verschiedene Mechanismen, der Hitze zu begegnen: Er geht aus der Sonne in den Schatten, und auch unser Körper reagiert ganz natürlich, zum Beispiel mit viel Schwitzen, um das System zu kühlen. Zusätzlich können wir uns mit künstlichen Mitteln wie Klimaanlagen behelfen. Das heißt, das Ziel unseres Handelns und unserer physiologischen Reaktion ist, das Gehirn nicht überhitzen zu lassen. Denn ab Temperaturen um 40 Grad – das wissen wir von Fieber – funktionieren unser Hirn und unser Körper nicht mehr wie gewünscht, irgendwann ab 42 Grad denaturieren dann auch Proteine. Das heißt, es gehen tatsächlich Strukturen im Körper irreversibel kaputt. So, als würde man ein Ei kochen, das sich im heißen Wasser auch unwiederbringlich verändert. Um dem vorzubeugen, müssen wir uns kühlen.

Eine 2024 erschienene Studie aus der Region Augsburg über die letzten 15 Jahre ergab, dass in Nächten mit extrem hohen Temperaturen mehr Schlaganfälle auftraten: von zwei pro Jahr (2006 bis 2012) auf 33 pro Jahr (2013 bis 2020). Warum steigt bei Hitze das Risiko für einen Hirninfarkt?
Die Dehydrierung, also der Flüssigkeitsmangel, spielt eine entscheidende Rolle: Durch das starke Schwitzen verliert der Körper Wasser und dadurch verändert sich die Viskosität, also die Fließeigenschaft des Blutes, es wird zäher. Zähes Blut gerinnt eher, sodass sich Blutgerinnsel bilden, die zu einem ischämischen Schlaganfall – einem Hirninfarkt – führen können. Es kann aber auch zu kardiovaskulären Erkrankungen wie einem Herzinfarkt kommen. Darüber hinaus kann der Flüssigkeitsmangel zum Teil kardiale und hormonelle Veränderungen auslösen. Wir wissen zum Beispiel, dass bestimmte Herzrhythmusstörungen wie das Vorhofflimmern durch Hitze getriggert werden können – und Vorhofflimmern per se ist wiederum ein Risikofaktor für sogenannte kardioembolische Hirninfarkte.
Wer ist besonders gefährdet, einen Schlaganfall durch Hitze zu bekommen?
Ältere Menschen und Frauen gelten als besonders gefährdet. Bei älteren Menschen lässt die Fähigkeit zur Temperaturregulation mit den Jahren nach, sie schwitzen weniger und suchen seltener aktiv Schatten auf. Hinzu kommen häufige Begleiterkrankungen und Medikamente, etwa harntreibende Mittel, die den Flüssigkeitshaushalt zusätzlich belasten. Besonders gefährdet sind aber nicht nur Ältere, sondern auch Menschen mit mehreren gesundheitlichen Einschränkungen. Das kann dann schon ein multimorbider 55-Jähiger sein, während ein gesunder und fitter 70-Jähiger nur ein geringes Risiko hat.
Und warum sind Frauen eher gefährdet?
Vermutet wird ein hormoneller Einfluss sowie Unterschiede in der Körperzusammensetzung: Ein höherer Fettanteil wirkt wie eine Isolationsschicht und erschwert die Wärmeabgabe. Zudem scheint die Temperaturwahrnehmung im Verlauf des Menstruationszyklus zu schwanken – ein weiterer möglicher Risikofaktor.
Gerade die nächtliche Hitze soll ein Risikofaktor für den Schlaganfall sein. Woran liegt das?
Das ist ein interessantes Phänomen, und es könnten viele Faktoren eine Rolle spielen. Nachts reagiert der Körper weniger aktiv auf Hitze: Man trinkt seltener, obwohl man schwitzt, und die Temperaturregulation verlangsamt sich. Gefährlich wird es, wenn die nächtliche Temperatur dauerhaft überdurchschnittlich hoch bleibt. Studien zeigen, dass sich das Schlaganfallrisiko insbesondere dann erhöht, wenn die übliche nächtliche Tiefsttemperatur – in Deutschland liegt sie im Sommer bei rund 14 bis 15 Grad – regelmäßig überschritten wird. In heißen Sommernächten können diese Werte bis zu 25 Grad steigen, was den Körper im Schlaf zusätzlich belastet. Offenbar ist die Anpassungsfähigkeit des Menschen entscheidend, denn in wärmeren Ländern mit hohen Nachttemperaturen erleiden die Menschen nicht ständig Schlaganfälle – ein Hinweis darauf, wie stark die Anpassung an lokale Gegebenheiten eine Rolle spielt. Möglicherweise könnte bei uns der stärkere Einsatz von Klimaanlagen bereits einen Effekt auf das Risiko haben. Anderseits gibt es viele weitere Faktoren, die mit dem Schlaganfall-Risiko assoziiert sind, wie zum Beispiel Luftfeuchtigkeit, Luftdruck, Schadstoffbelastung durch Ozon, Stickoxid oder Feinstaub. Sie alle könnten eine Rolle spielen.

Was passiert bei einem Hitzschlag – und wie unterscheide ich ihn vom Hitze-Schlaganfall?
Ein Hitzschlag ist quasi der Zusammenbruch der Autoregulation, dem Betroffenen gelingt es nicht mehr, mit der Umgebungstemperatur zurecht zu kommen. Die Körpertemperatur steigt auf über 40 Grad, und es kommt zu Gehirn- und Nervenfehlfunktionen. Eine absolute Risikosituation, die lebensbedrohlich sein kann, weil möglicherweise schon Proteine denaturieren und irreversible Schäden entstehen. Und: Der Hitzschlag kann auch junge gesunde Menschen und Kinder reffen. Das ganze System bricht durch die starke Hitze zusammen, man ist orientierungslos, produziert keinen Schweiß, hat Fieber. Anders als beim Schlaganfall: Da leidet der Betroffene in dem Augenblick nicht unter der Hitze, er hat auch keine erhöhte Temperatur. Oftmals tritt der Schlaganfall sogar erst 48 Stunden nach der starken nächtlichen Hitze auf. Anders als beim Hitzschlag, bei dem der Körper akut überhitzt ist und zusammenbricht. Beide Situationen sind ein Fall für den Notarzt. Beim Sonnenstich – um es komplett zu machen – handelt es sich um eine Reizung der Hirnhäute nach zu langem Aufenthalt in der Sonne, oftmals verbunden mit einem Sonnenbrand auf dem Kopf und starken Kopfschmerzen. Es ist keine lebensbedrohliche Krankheit und etwa nach zwei Tagen überstanden.
Sollten Menschen mit Schlaganfall-Erfahrung auf Reisen in heiße Urlaubsländer verzichten?
Daten gibt es zu der Frage bisher nicht. Aber ich sage mal: Das Leben ist zum Leben da, nicht, um sich einzusperren. Ja, man muss aufpassen, und wenn man ein Hoch-Risiko-Kandidat ist mit Herzinsuffizienz und Schlaganfall-Vorgeschichte, dann sollte man vielleicht die warme Saison meiden. Wenn man es dennoch möchte, muss man ausreichende Maßnahmen treffen: nicht in die pralle Sonne gehen, sich kühlen, ausreichend trinken. Und vorher den Arzt fragen, ob die Medikamente, die man einnimmt, möglicherweise die Temperaturregulierung beeinträchtigen. Psychopharmaka wie die älteren Antidepressiva oder Neuroleptika können solche Effekte haben. Da lohnt sich der Besuch beim Hausarzt, um die Medikamente vor einem Urlaub in ein warmes Land durchzugehen. Eine Empfehlung wäre auch, nachts eine Klimaanlage zu nutzen. Je höher das Risiko, umso achtsamer sollte man sein.
Es gibt Studien, die zeigen, dass besonders kalte Tage oder der Wechsel der Temperaturen auch zu einem erhöhten Risiko für Schlaganfälle beitragen können…
Ja, der Temperaturwechsel bzw. die Adaptierung daran spielt offenbar eine Rolle. Zudem ist die Sterblichkeitsrate nach Schlaganfall in kalten Monaten höher als in wärmeren. Auch der sogenannte Augeninfarkt, also der Schlaganfall der Netzhaut des Auges, tritt häufiger in den Wintermonaten auf. Es handelt sich um einen Zentralarterienverschluss, also eine sehr plötzliche Sehverschlechterung, die durch einen Verschluss eines Blutgefäßes in der Netzhaut ausgelöst wird, und eine Unterversorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen zur Folge hat. Unbehandelt führt dieser in rund 95 Prozent der Fälle zu einem schweren und dauerhaften Sehverlust im betroffenen Auge. Es ist ein medizinischer Notfall nach dem Motto: Zeit ist Netzhaut! Denn je schneller das Blut wieder ungehindert fließen kann, umso besser die Prognose. Am Hertie-Institut haben wir 2022 eine Therapiestudie gestartet, um herauszufinden, inwieweit ein Medikament das Gerinnsel auflösen und die Zerstörung der Netzhaut aufhalten kann. Der Augeninfarkt hat eigentlich die gleichen Risikofaktoren wie der Schlaganfall des Hirns, nur zeigen unsere Daten, dass es in den Wintermonaten eine höhere Inzidenz gibt. Warum das so ist, wissen wir noch nicht. Es gibt also noch viel zu tun, um die Zusammenhänge und Ursachen zu verstehen, die zu einem Schlaganfall führen können – egal ob in Hirn oder Netzhaut.
"KI bietet hier sehr gute Möglichkeiten, um in der Schlaganfallforschung einen großen Schritt voranzukommen."
Wie gehen Sie dabei vor?
Diese Temperatur-Assoziationen oder Umwelt-Assoziationen sowie das Schlaganfall-Risiko und der Outcome gehören in die Hände von Big Data und Künstlicher Intelligenz, um diese großen Datensätze multimodal zu erfassen und auszuwerten. Das sind einfach zu viele Faktoren, die sich zum Teil widersprechen. KI bietet hier sehr gute Möglichkeiten, um in der Schlaganfallforschung einen großen Schritt voranzukommen.
Haben Sie eine Vermutung, wie in Bezug auf Temperaturen alles zusammenhängen könnte?
Ich denke, die Adaptierung, also unsere Anpassungsfähigkeit an lokale Gegebenheiten, könnte ein Ansatz sein. Wir sind ein eher kühleres Land, und wenn es dann mal wärmer wird, dann fehlt uns einfach die Adaptierung und vielleicht auch die Sorgfalt, auf ausreichend Flüssigkeit, Schatten usw. zu achten. Sonst hätten wir in warmen Ländern durchweg eine höhere Schlaganfallrate. Das ist aber nicht der Fall.
Wir sind in Deutschland also (noch) nicht gemacht für diese Temperaturwechsel?
Na ja, heute haben wir ja 20 Grad, am nächsten Tag haben wir 35 Grad, am übernächsten Tag haben wir 10 Grad. Da fehlt einfach die Möglichkeit, sich anzupassen. Wenn Sie im Urlaub zwei Wochen an einem warmen Ort sind, dann wird Ihre Haut braun, dann schwitzen Sie vielleicht an Tag zehn nicht mehr so, wie am ersten Tag. Diese Möglichkeit gibt es weniger – um es vorsichtig auszudrücken – bei den ständigen Wechseln. Wir sollten also immer gut auf uns achten.
INFO Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung
Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) bildet mit der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen das Hertie-Zentrum für Neurologie, eine der größten und modernsten Einrichtungen für klinische Hirnforschung bundesweit. Um die Einheit von Forschung und Patientenversorgung zu betonen, wurde das Zentrum für Neurologie 2023 in „Hertie-Zentrum für Neurologie“ umbenannt.