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Britta Flaig, Foto: Karin Costanzo
Interview mit Britta Flaig, Oktober 2025

Mein Alzheimer-Outing hat mein Leben leichter gemacht

Hertie-Preisträgerin Britta Flaig wird mit Mitte 50 mit Alzheimer diagnostiziert. Durch ihren offenen Umgang mit der Krankheit macht sie anderen Betroffenen Mut.
Gehirn erforschen

Quick Read: Worum es geht

Trotz Alzheimer-Diagnose blickt Britta Flaig voller Mut nach vorn. Die ehemalige Lehrerin und vierfache Mutter spricht offen über ihr Leben mit der Erkrankung, über ihre „Fee Dementia“ – und darüber, wie Offenheit, Humor und Kreativität ihr helfen, den Alltag zu meistern. In unserem Interview erzählt sie, warum ihr Outing als Alzheimer-Betroffene ihr Leben leichter gemacht hat und wie sie mit ihrem Kinderbuch „Mama Berta und das Vergessen“ anderen Hoffnung geben möchte.

Britta Flaig (57) aus Eckernförde in Schleswig-Holstein war Mitte fünfzig, als sie die Diagnose Alzheimer bekam. Ein Schock für die Lehrerin und Mutter von vier Kindern, denn eine Demenz vom Typ Alzheimer tritt eher im höheren Alter auf. Doch schon bald entschied sie: „Ich nehme die Diagnose an und mache das Beste daraus.“ Britta Flaig schrieb und illustrierte ein Kinderbuch über Alzheimer, mit dem sie bis heute auf Lesungen Jung und Alt berührt. Es ist die Geschichte von Schafmama Berta, die immer vergesslicher wird, sich verläuft und die Namen ihrer Kinder verwechselt – es ist Britta Flaigs Geschichte. Sie erzählt sie herzlich und hoffnungsvoll und macht damit Betroffenen und ihren Familien Mut. Ein echtes Vorbild! Die Hertie-Stiftung verleiht Britta Flaig deshalb 2025 den Hertie-Preis für Engagement und Selbsthilfe, der Einzelpersonen und Projekte würdigt, die sich mit neurologischen Erkrankungen auseinandersetzen und dabei Mut, Kreativität und Wirkung zeigen. Wir haben Britta Flaig in Eckernförde an der Ostsee besucht.

Heute ist ein guter Nachmittag für Britta Flaig (57). Ihre „kleine Fee Dementia“ flattert nur wenig, scheint ausgeruht und sanft. Noch am Vormittag war sie übereifrig im Kopf der ehemaligen Grundschullehrerin umhergewirbelt, hatte immer wieder Gedanken und Erinnerungen verrückt – und sie am Ende einfach vergessen lassen: „Warum stehe ich mit dem Wäschekorb in der Küche?“, „Wie hebe ich Geld bei der Bank ab?“, „Wo geht es nach Hause?“. Die „kleine Fee Dementia“ wohnt im Kopf von Britta Flaig und treibt dort seit knapp sieben Jahren ganz öffentlich ihr Unwesen. Britta Flaig hat die Fee dort für sich entdeckt und ihr diesen Namen gegeben: Dementia, eine Elfe, zart, verspielt und lieblich – weil alles andere kaum auszuhalten wäre. „Kurz nachdem bei mir der Verdacht auf eine beginnende Demenz vom Typ Alzheimer diagnostiziert wurde, hatte ich die Vorstellung, dass Motten Löcher in mein Gehirn fressen“, erzählt Britta Flaig. „Es war furchtbar, die pure Angst. Mit diesem Bild hätte ich nie Frieden schließen können. So kam die Fee Dementia zu mir, sie macht es mir und anderen leichter zu akzeptieren, was ist“. Auch ihr kleiner Enkel Emil (7) weiß jetzt, dass Dementia dahintersteckt, wenn seine Oma immer „tüddeliger“ wird oder an manchen Tagen immer wieder dasselbe erzählt, so dass er ruft: „Oma, jetzt flattert deine Fee aber ganz schön doll.“ Mit Motten wäre das nicht gegangen. 

Demenz und Alzheimer den Schrecken nehmen, darüber aufklären sowie Betroffene und ihre Familien ermutigen – dafür steht Britta Flaig, dafür geht sie in die Öffentlichkeit, und genau dafür wurde sie mit dem Hertie-Preis für Engagement und Selbsthilfe ausgezeichnet, als eines von insgesamt vier Projekten. Durch Enkel Emil inspiriert hat sie das Kinderbuch „Mama Berta und das Vergessen“ geschrieben, illustriert und selbst verlegt. Sie liest daraus in Schulen und Altenheimen, in der Stadtbibliothek, erzählt in Podcasts, immer für Jung und Alt, „denn Alzheimer darf kein Tabu mehr sein“, sagt sie, „niemand muss sich für die Krankheit schämen.“

Zu Besuch bei Britta Flaig und ihrem Mann Stefan Seidel in Eckernförde an der Ostsee: Es gibt Apfel- und Rhabarberkuchen, Britta Flaig hat ihn am Morgen ausgesucht. Am Handgelenk trägt sie eine orangefarbene Uhr mit Tracker, damit ihr Mann immer weiß, wo sie ist. Einige Male hat sich seine Frau schon verlaufen, zuletzt im Sommerurlaub in Schweden, als sie auf eigene Faust „mal kurz“ einen Berg besteigen wollte… Wer Britta Flaig begegnet, ahnt zunächst nicht, dass sie an Alzheimer erkrankt ist. Wie auch? Herzliches Sommersprossen-Lachen, wacher Blick, Latzhose, das weiße Haar lässig zum Knoten gebunden. Nur manchmal verhaspelt oder wiederholt sie sich, vergisst mitten im Satz die Frage, blickt zu ihrem Mann: „Stefan, wie war das nochmal...?“. „Eine Vollblutlehrerin“ sei sie gewesen, erzählt Britta Flaig, eine, die ihre Arbeit an der Grundschule wirklich geliebt habe. Bis es nicht mehr ging.

Wie kam es zur Diagnose? „Das war ein langer Weg. Mit etwa 50 Jahren zeigten sich erste Symptome: Ich wurde immer fahriger und vergesslicher, verwechselte Worte, die Namen der Kinder und wurde in der Schule und auch zuhause immer unzuverlässiger. Jeglicher Arztbesuch endete mit der Diagnose ‘Burnout‘, obwohl ich mich gar nicht ausgebrannt fühlte. Ich spürte, dass es etwas anderes sein musste, fühlte mich aber nicht ernstgenommen.“ Es folgten Gesprächs- und Verhaltenstherapien, zwei Kuraufenthalte und schließlich ein „Finden Sie sich damit ab, Sie sind eben labil.“ Britta Flaig kehrte in die Schule zurück, doch schnell kam der Tiefpunkt: „Im Unterricht wurde die Klasse plötzlich sehr unruhig, bis mir meine Praktikantin sagte: ‚Britta, Du hast das Gleiche eben schon mal erklärt.‘ Das war mein letzter Tag in der Schule, die Wiedereingliederung war gescheitert. Erst Monate später gelangte ich an eine Ärztin, die ein Hirn-MRT und eine Lumbalpunktion veranlasste. Sechs Wochen später erhielt ich den Befund: Verdacht auf beginnende Alzheimer-Demenz – mit Mitte 50!  Es folgten noch viele Untersuchungen. Schließlich stand fest: Als Lehrerin konnte ich nicht mehr eingesetzt werden. Meine endgültige Diagnose bekam ich dann erst im Januar 2024.“

Ein Schock, oder? „Und wie! Zunächst war ich erleichtert, weil ich nach Jahren endlich eine Diagnose hatte. Ziemlich schnell setzten aber Verzweiflung und die Angst vor der Krankheit und ihren Folgen ein. Außerdem vermisste ich meine Arbeit und die Schulkinder. Ich habe viel geweint, aber zum Glück hatte ich noch während meiner Lehrtätigkeit begonnen, mein erstes Kinderbuch ‚Abenteuer in Schafhausen‘ zu schreiben und zu illustrieren, das hat sich einfach für mich gefügt, sonst wäre ich in ein noch viel größeres Loch gefallen.“ Überhaupt: Kreativ zu sein, habe ihr immer geholfen, sagt Britta Flaig. Zu malen, Dinge aufzuschreiben, das ist bis heute so.

Die Zeit mit möglichst vielen schönen Erlebnissen füllen

Stefan Seidel, Britta Flaigs Ehemann, schenkt Kaffee nach. Ein ruhiger, freundlicher Mann, der halbtags als Sekretär an der Schule arbeitet. Nachmittags verbringt er Zeit mit seiner Frau. Dann kaufen sie ein, unterhalten sich, erledigen Arztbesuche, kochen, singen im Gospelchor, schmieden Urlaubspläne – alles, solange es noch geht. Denn die Krankheit schreitet voran, schneller als gedacht. „Wir wollen unsere gemeinsame Zeit mit möglichst vielen schönen Erlebnissen füllen“, sagt Stefan Seidel, der die Betreuung seiner Frau übernommen hat. Es ist nicht immer leicht mit der Fee Dementia, auch für ihn. „Ich balanciere täglich auf einem schmalen Grat zwischen Hilfe und Bevormundung“, sagt er, „meine Frau ist sehr autonomiebedürftig und temperamentvoll, da ist es nicht so einfach, wenn immer mehr Fähigkeiten wegfallen.“

"Seit meinem Alzheimer-Outing geht es mir viel besser, es war die beste Entscheidung, das Versteckspiel zu beenden. Dazu kann ich alle Betroffenen ermutigen."

Allein Autofahren zum Beispiel, einen privaten Kalender führen, Einkaufen, Planen, Geld abheben bei der Bank. Wobei: „Als ich am Bankautomaten nicht zurechtkam, habe ich dem Mann am Schalter gesagt, dass ich Alzheimer habe, und er mir bitte zeigen soll, wie das mit dem Automaten geht“, erzählt Britta Flaig. Stolz schwingt mit in ihrer Stimme: „Ich habe Alzheimer.“ Es ist oftmals ein langer Weg, bis Betroffene diese Worte laut aussprechen können, sich trauen. Auch für Britta Flaig war das so: „Wenn ich früher etwas vergessen hatte, habe ich aus Scham immer verlegen gelacht, mir mit ‚Ich-Dummkopf-Geste‘ an die Stirn geklopft und die Situation heruntergespielt. Diese Fassade aufrechtzuerhalten, war auf Dauer unheimlich anstrengend. Inzwischen habe ich gelernt, meine Erkrankung anzunehmen und offen mit ihr umzugehen. Schließlich habe ich keine andere Wahl, denn den Kopf in den Sand zu stecken, passt nicht zu mir. Seit meinem Alzheimer-Outing geht es mir viel besser, es war die beste Entscheidung, das Versteckspiel zu beenden. Dazu kann ich alle Betroffenen ermutigen.“ Ihr Mann ergänzt: „Diese Klarheit hilft auch mir und anderen, denn nun kann jeder verstehen, warum du vielleicht mal ein Treffen vergessen hast oder jemanden auf der Straße nicht erkennst.“

Auf dem Holztisch im Wohnzimmer liegt „Mama Berta und das Vergessen“, Britta Flaigs persönlichstes Buch. Darin vergisst Schafmama Berta die Geburtstage ihrer vier Lämmchen und weint bitterlich darüber. „Mir ist genau das passiert“, erzählt Britta Flaig. „Als ich es bemerkte, habe ich mir die Geburtsdaten meiner Kinder auf einen Zettel geschrieben und ihn immer vorn in meiner Latzhose getragen – bis ich irgendwann nicht mehr wusste, was diese Zahlen auf dem Zettel bedeuten…. Es war furchtbar.“ Was oder wer hilft in solchen Momenten? „Die Familie und mein Freundeskreis. Meine Kinder gehen großartig mit meiner Erkrankung um. Natürlich waren sie am Anfang fix und fertig, aber wir halten fest zusammen, und sie unterstützen mich. Und dann mein Mann Stefan natürlich, in dessen große Arme ich mich immer wieder fallen lassen kann. Dann weine ich alles raus, die Angst, die Wut, die Verzweiflung, bis es wieder geht.“ Seit fünf Jahren sind die beiden ein Paar, die vier erwachsenen Kinder stammen aus Britta Flaigs erster Ehe. Große Sorge habe sie gehabt, dass sie die Demenz an sie weitervererben könnte, denn gerade bei früherem Alzheimer liegt meistens eine genetische Ursache vor. Doch die Tests sprechen dagegen.

Die Liste der großen und kleinen Wünsche abarbeiten

Wie hat sich ihr Leben seit der Diagnose verändert? „Ich lebe jeden Augenblick viel bewusster. Morgens gehe ich erstmal eine Stunde am Strand walken und anschließend in die Ostsee. Ich kann zwar nicht so gut schwimmen, aber ich hüpfe immer mal kurz rein. Herrlich! Dann fühlt sich der Körper schon mal gut an und ich habe das Morgentief hinter mir. Eine feste Struktur am Tag ist sehr wichtig.“ Und dann natürlich die Bucket-List, zu der sie ihre Ergotherapeutin ermutigt hat. „In dieser Liste habe ich alles eingetragen, was ich noch erleben möchte“, sagt Britta Flaig – sie hat bis heute jeden einzelnen Punkt abgehakt: Sie war mit zweien ihr Kinder für fünf Wochen in Südafrika und Namibia, sie hat mit ihrem jüngsten Sohn zu Fuß die Alpen überquert, sie war mit ihrer ganzen Familie im Hansa-Park und ist dort mit ihnen Achterbahn gefahren – und sie hat ihren Stefan geheiratet, ein „Hochzeits- und Lebensfest“ mit über 100 Gästen. „Ich zehre noch sehr von diesen Erlebnissen“, sagt Britta Flaig, „sie geben mir Kraft.“ Immer wieder sieht sie sich die Fotos und Schnappschüsse an, die in einem digitalen Bilderrahmen auf dem Wohnzimmerschrank aufploppen.

Irgendwann werden auch diese Bilder verblassen, die Menschen darauf werden zu Fremden, Britta Flaig wird sich nicht mehr an sie erinnern können. Sie weiß das, und sie spürt es, wenn die kleine Fee wieder mal den Turbo anschaltet und sie in Schüben in diesen Nebel schickt, der dann durch ihren Kopf wabert: „Solche Momente machen mir noch immer Angst, weil ich nicht weiß, was mich hinter dem Nebel erwartet“, sagt Britta Flaig. Sie will nichts schönreden, auch nicht als Mutmacherin. „Wir brauchen ein echtes Verständnis für Alzheimer und die Menschen, die von dieser Erkrankung betroffen sind, damit wir besser miteinander umgehen können.“ Noch immer würde es sie “die Krätze“ ärgern, wenn Leute ihr sagten: „Oh, Du vergisst so viel, das kenne ich, dann habe ich wohl auch Alzheimer.“ Nicht ernstgenommen fühle sie sich dann, nicht erkannt und nicht gesehen mit all der Last und dem Leid, das diese schwere Krankheit auch bedeutet. Oder Sätze wie: „Das habe ich Dir doch schon mal gesagt“. „Solche Hinweise helfen Menschen mit Alzheimer nicht“, sagt Britta Flaig, ebenso wie Streitgespräche: „Im Wortgefecht habe ich nach kurzer Zeit sowieso wieder vergessen, worum es eigentlich geht – und kann am Ende nur verlieren“. Stress frisst Hirn, habe ihr Neurologe ihr gesagt. Seitdem versuche sie, sich besser abzugrenzen von allem, was ihr nicht guttut.

Hertie-Preis für Engagement und Selbsthilfe

Mit dem Hertie-Preis würdigt die Stiftung Aktionen von Einzelpersonen oder Selbsthilfegruppen zugunsten neurodegenerativ oder MS-Erkrankter. Die Aktivitäten sollen möglichst kreativ, ungewöhnlich oder durch einen besonderen Zusammenschluss von unterschiedlichen Menschen geprägt sein. Die Größe des Projekts ist dabei weniger entscheidend als der Einsatz der Akteure.

Mehr über den Hertie-Preis

Was sie anderen Betroffenen raten kann? „Legt den Fokus immer auf das, was noch geht und was ihr noch könnt, nicht auf das, was nicht mehr geht. Konzentriert euch auf das Positive. Ich kann zwar nicht mehr so einkaufen, dass man daraus eine leckere Mahlzeit mit mehreren Komponenten kochen könnte, aber ich kann zum Beispiel noch zum Bäcker gehen und Kuchen aussuchen. Darüber freue ich mich.“ Welche Wünsche gibt es noch? „Da ist nichts mehr, was ich erledigen muss“, sagt Britta Flaig, „natürlich möchte ich nochmal mit meinen Kindern und mit Stefan in den Urlaub fahren, vielleicht mit meinem alten VW-Bus. Das wäre was.“ Und sie möchte sich weiter für die Aufklärung über Alzheimer engagieren, das ist ihr ein Herzensanliegen. Dass sie dafür nun mit dem Hertie-Preis ausgezeichnet wurde, habe Britta Flaig total überrascht und sehr gefreut. „Ich habe so viel zu geben, das war schon als Lehrerin so“, sagt sie und ergänzt nach kurzer Stille: „Wenn ich schon eine Krankheit bekommen sollte, dann musste es wohl Alzheimer sein, damit ich darüber berichten und Menschen ermutigen kann. Wir sind so viele, die Trost brauchen.“

INFO Text: Rena Beeg

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