Interview mit Lena Pawelke, Dezember 2025
Sport bewegt die Gesellschaft – vom Radfahren zur Teilhabe
Der Verein Bike Bridge e.V. aus Freiburg zeigt, wie Sport Brücken baut: Frauen mit Fluchtgeschichte lernen Radfahren – und gewinnen dabei nicht nur Mobilität, sondern auch Selbstvertrauen und Gemeinschaft. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Integrationspreis, hat sich das Projekt zu einem bundesweiten Netzwerk entwickelt, das inzwischen auch Kinder erreicht. Im Interview erzählt Lena Pawelke, geschäftsführende Vorständin von Bike Bridge e.V. , wie aus einem kleinen Kurs eine Bewegung wurde, warum Radfahren ein Schlüssel für soziale Mobilität ist und wie Sport for Development das Leben vieler Menschen verändert.
Durch Sport und Bewegung Menschen zusammenbringen, Brücken bauen und so Teilhabe, Selbstwirksamkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern – dafür engagiert sich Lena Pawelke, geschäftsführende Vorständin von Bike Bridge e.V. aus Freiburg. Das Projekt, das Frauen mit Fluchtgeschichte das Fahrradfahren lernen ermöglicht, wurde 2017 von der Hertie-Stiftung mit dem Deutschen Integrationspreis und einem Preisgeld von 50.000 Euro gewürdigt. Seitdem ist vieles ins Rollen gekommen: Bike Bridge ist Gründungsmitglied des bundesweiten Sport for Development (S4D) Netzwerk Deutschland e.V., das Lena Pawelke 2024 mit Mitstreitern ins Leben rief. Warum es dieses u.a. von der Hertie-Stiftung unterstützte Netzwerk braucht, weshalb Bike Bridge auch für Kinder immer wichtiger wird, und wie Lena Pawelke selbst auf ihr Wirken blickt, erzählt sie in unserem Interview.
Foto: Jeannette Petri
Viele Frauen mit Flucht- und Migrationsgeschichte können nicht Radfahren. Welche Rückmeldungen bekommen Sie von den Frauen, die bei Bike Bridge das Radfahren lernen?
Zu Beginn steht oft nur der Wunsch im Vordergrund, eine alltägliche Fähigkeit zu erwerben. Doch im Rückblick beschreiben sie, wie viel mehr dahintersteckt. Für viele war es in ihrer Kindheit oder Jugend schlicht nicht möglich, Fahrradfahren zu lernen, sei es aus gesellschaftlichen, politischen oder familiären Gründen. Als Erwachsene eine solche Kompetenz zu erwerben, die ihnen plötzlich räumliche, soziale und nachhaltige Mobilität eröffnet, wirkt tiefgreifend. Diese Erfahrung löst häufig einen starken Schub an Selbstwirksamkeit aus. Viele Frauen formulieren es genauso: „Wenn ich das geschafft habe, kann ich alles schaffen.“ Eine Follow-up-Studie meiner Mitgründerin und Vorstandskollegin Shahrzad Enderle bestätigt, dass Radfahren für die Frauen weit mehr als Fortbewegung ist, es ist ein Schlüssel für soziale Mobilität – verstanden als die Möglichkeit von Individuen, ihre soziale und wirtschaftliche Position zu verbessern und Zugang zu besseren Bildungs-, Arbeits- und Lebensperspektiven zu erhalten.
Haben Sie mit dem vielfältigen Erfolg des Projekts gerechnet?
Nicht in dieser Form. Schon im ersten Kurs wurde klar, dass dort etwas Besonderes passiert. Die Frauen lachten viel, spielten Fangspiele, feuerten sich gegenseitig an – das war so eine ungeheure Leichtigkeit und Freude. Und auch, wieviel Selbstwirksamkeit durch das Radfahren entsteht, war uns anfangs gar nicht in diesem Ausmaß bewusst. Natürlich wussten wir, wie wichtig das Fahrrad hier in Freiburg ist, allein, um sich frei bewegen zu können und Teil des städtischen Alltags zu sein. Doch wie transformierend dieser Schritt für die Frauen tatsächlich ist, wurde uns erst durch ihre Rückmeldungen klar. Diese positive Dynamik beschränkt sich übrigens nicht nur auf die Teilnehmerinnen. Auch unsere ehrenamtlichen Trainerinnen erzählen immer wieder, wie erfüllend ihr Engagement sei. Ob als Ausgleich nach einem langen Arbeitstag, als Möglichkeit, draußen aktiv zu sein oder als Raum für interkulturellen Austausch. Viele berichten, dass sie selbst Kompetenzen entwickeln, die ihnen in anderen Bereichen zugutekommen: Kommunikation, Teamleitung, Selbstvertrauen.
Was hat der Gewinn des Deutschen Integrationspreises ausgelöst?
Als wir 2017 ausgezeichnet wurden, waren wir noch kein eigener Verein, sondern drei engagierte Sportwissenschaftlerinnen, die ein Jahr lang ehrenamtlich gearbeitet hatten. Der Preis war unser Startschuss für die Vereinsgründung, erste hauptamtliche Stellen und für öffentliche Sichtbarkeit. Aus dem prämierten Fahrradangebot für geflüchtete Frauen ist mittlerweile unser Programm „Bike & Belong“ geworden – Radfahrtrainings für Frauen mit und ohne Flucht- oder Migrationsgeschichte. Kurz nach der Preisverleihung bekamen wir dann auch Anfragen von Organisationen wie Caritas oder Diakonie, die sich Fahrradkurse für ihre Frauengruppen wünschten. So starteten wir in Stuttgart und Frankfurt und bewarben uns für eine Skalierungsförderung. 2020 erhielten wir von der Aktion Mensch Stiftung eine dreijährige Förderung für den Aufbau weiterer sechs Standorte. Parallel haben wir in Freiburg professionalisiert, Strukturen geschaffen und Personal aufgebaut. Anschließend entwickelte sich ein bundesweites Bike & Belong Netzwerk mit acht bis zehn Organisationen samt einer Schwesterorganisation in Frankreich. Das sind allerdings nicht alles unsere eigenen Standorte, denn für uns stand früh fest, dass wir keine riesige Organisation mit viel Personal werden wollen. Wir arbeiten lieber konzeptionell, verfolgen eine offene Skalierungsstrategie und schulen gerne Organisationen, die das Programm selbst durchführen möchten. Münster und München sind zum Beispiel erfolgreiche Kooperationsstandorte.
Bike Bridge richtet sich inzwischen auch an Kinder. Wie kam es dazu?
In Stuttgart erreichten uns Anfragen von Schulen und Trägern, die beobachtet hatten, dass eine zunehmende Anzahl von Kindern kaum noch Rad fährt. Es fehlt ihnen an Balance, Koordination und Verkehrskompetenz. Digitale Medien und mangelnde Bewegung verstärken das Problem. Wir wollten ein Bike & Belong Konzept für Kinder und Jugendliche entwickeln, sodass wir uns für das MITWIRKEN-Programm der Hertie-Stiftung beworben haben, um unsere Idee umsetzen zu können. Und wir bekamen die Förderung! Eine Kollegin hatte ein Jahr Zeit, das Konzept zu erarbeiten und zu pilotieren. Seitdem gibt es in Stuttgart regelmäßig Angebote für Kinder und Jugendliche, inzwischen auch in Freiburg. Der Bedarf ist riesig: viele Organisationen berichten von vielen Kindern, die die Fahrradprüfung der Verkehrspolizei in der 4. Klasse nicht mehr erfolgreich absolvieren.
Sport for Development Deutschland e.V.
Der Verein Sport for Development Deutschland e.V. (S4D) bringt Organisationen zusammen, die mit Sport und Bewegung gesellschaftliche Teilhabe, Gesundheit und Demokratie fördern. Ziel ist es, vulnerable Gruppen wie Kinder, Jugendliche, Frauen und Menschen mit Behinderungen zu erreichen und ihnen Zugang zu Bewegung, Spiel und Sport zu ermöglichen.
Sie haben mit Bike Bridge das Sport for Development (S4D) Netzwerk Deutschland e.V. mitgegründet und sind heute geschäftsführende Vorständin. Worum geht es in diesem Netzwerk?
Unser Ansatz orientiert sich an der international anerkannten Sport for Development-Methode: Sport und Bewegung dienen als wirkungsvolle Instrumente, um gezielt gesellschaftlich relevante Ziele zu erreichen – Demokratieförderung, soziale Inklusion, Gesundheitsförderung. Dabei stehen die Menschen und ihre Bedarfe im Mittelpunkt. Wir arbeiten niedrigschwellig und auf Augenhöhe. Bei Bike Bridge zum Beispiel ist Radfahren der Einstieg, doch darüber hinaus entstehen Gemeinschaft, Selbstvertrauen, soziale Teilhabe und neue Perspektiven. Ebenso bei unseren Mitgliedsorganisationen: Über Sport und Bewegung werden gezielt Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderungen oder Frauen erreicht und Zugehörigkeit und persönliche Entwicklung gefördert. In diesen geschützten Räumen wachsen soziale Kompetenzen, Vertrauen und Selbstwirksamkeit – und es wird sichtbar, dass Sport weit mehr ist als Freizeit oder Leistung.
Wie ist das Sport for Development Netzwerk Deutschland entstanden?
Die Idee entstand während der Pandemie. Anfang 2020 konnten wir keine Präsenzangebote durchführen, gleichzeitig waren Fördermittel an aktive Programme gekoppelt. Um Lösungen zu finden, gründeten sechs Organisationen einen digitalen Stuhlkreis. Wir tauschten uns über Personalfragen, Kurzarbeit und andere Herausforderungen aus. Bald wurde klar: Wir brauchen ein übergeordnetes Netzwerk, das S4D-Organisationen zusammenbringt, sichtbar macht und unterstützt. Über zwei Jahre bereiteten wir die Gründung eines Netzwerkes vor, weitere Organisationen kamen hinzu. Heute ist es ein Multi-Akteurs-Netzwerk mit der Mission, vulnerable Gruppen zu erreichen, und ihnen Zugang zu Bewegung, Spiel und Sport zu ermöglichen. Der Sport for Development-Ansatz ist übrigens nicht neu, sondern international seit über 20 Jahren etabliert, unter anderem durch die UN.
Welche Rolle spielt die Hertie-Stiftung generell für Ihre Arbeit?
Die Hertie-Stiftung ist seit dem Integrationspreis 2017 eine wichtige Partnerin. Sie unterstützte Bike Bridge in der Vergangenheit nicht nur finanziell, sondern auch durch Vernetzung, Beratung und Coaching. Man stößt immer auf offene Ohren, zum Beispiel auch 2020, als wir uns für das MITWIRKEN-Förderprogramm beworben haben. Besonders wertvoll ist der persönliche Austausch, der Kooperationen und Sichtbarkeit unserer Arbeit ermöglicht.
Bike Bridge, das S4D Netzwerk – wie haben Sie sich persönlich während dieser Zeit entwickelt?
Bike Bridge hat meine berufliche und persönliche Biografie stark geprägt. Ich habe ursprünglich Diplom-Sportwissenschaft an der TU München studiert und hatte eine Promotionsstelle am Sportinstitut in Freiburg. Mit dem anfänglichen Ehrenamt während einer Elternzeit startete für mich Bike Bridge, und hat mich Schritt für Schritt sowie Jahr für Jahr persönlich weitergebracht: zu einer hauptamtlichen Projektstelle neben der Gründerinnen- und Vorstandsrolle und heute zur Leitung des Vereins mit aktuell zwölf Hauptamtlichen, mehreren Programmen und mehreren Standorten. Dass sich daraus ein Mitwirken bei der Gründung einer Dachorganisation für S4D Organisationen im deutschsprachigen Raum entwickeln würde – das S4D Netzwerk – war vor der Pandemie nicht absehbar. Gleichzeitig ist es ein Ergebnis jahrelanger Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnerinnen und Partner. Die Arbeit bei Bike Bridge erfüllt mich nach wie vor sehr und die Arbeit im Netzwerk ist für mich eine sinnvolle Ergänzung.
Fahren Sie eigentlich selbst gern Fahrrad?
Als Fortbewegungsmittel nutze ich das Fahrrad sehr gerne, gehe aber lieber zu Fuß, wenn möglich. Durch Bike Bridge durfte ich das Fahrrad und das Radfahren jedoch neu entdecken! Heute kommen mir die besten Ideen auf dem Rad.
Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung