
Interview mit Jannis Poestges, September 2025
Junge Menschen aus der Privatwirtschaft wollen sich für die Demokratie engagieren
Unsere Demokratie steht unter Druck, und die Auswirkungen von Polarisierung, Hass und gesellschaftlicher Spaltung sind längst auch in Unternehmen angekommen. Deshalb braucht es Menschen – Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – die unsere Grundwerte schützen und unsere Gemeinschaft positiv gestalten wollen. Das Weiterbildungsprogramm Leaders for Democracy: Erinnern. Gestalten. Unternehmen stärken. richtet sich an junge Führungskräfte in Unternehmen, denen genau dies ein Anliegen ist. Jannis Poestges, Manager Agency Sales bei Netflix Deutschland, war Teilnehmer des ersten Jahrgangs. Ob seine Erwartungen an das Programm – das gemeinsam vom Business Council for Democracy (BC4D) und der Hans und Berthold Finkelstein Stiftung umgesetzt wird – erfüllt wurden, welche Begegnungen und Erlebnisse ihn besonders beeindruckt haben, und was der 36-Jährige jungen Führungskräften rät, die sich für das Programm interessieren (Bewerbungen ab sofort möglich), erzählt er in unserem Interview.

Wie sind Sie auf das Programm „Leaders for Democracy“ aufmerksam geworden?
Ich wurde von Bekannten auf das Programm hingewiesen. Sich für Demokratie einzusetzen, war für mich schon immer ein Kernthema. In Berlin bewege ich mich seit einigen Jahren in einem Umfeld von Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen, die jedoch häufig politisch aktiv sind. Dort wächst – so mein Eindruck – die Zahl jener, die in der Privatwirtschaft arbeiten und sich zugleich für demokratische Werte einsetzen möchten. Über ein solches Netzwerk wurde ich auf das Programm aufmerksam gemacht. Als ich mir die Website mit den Modulen und Themen anschaute, dachte ich sofort: „Das ist genau das, was es braucht und wonach ich gesucht habe.“
Was hat Sie an dem Programm überzeugt?
Oftmals wird ein künstlicher Widerspruch aufgebaut: Entweder arbeitet man in der Privatwirtschaft, oder man bewirkt etwas mit großem gesellschaftlichem Impact. Viele verbringen jedoch den größten Teil ihrer Zeit im Unternehmenskontext; gerade dort sehe ich eine große Chance, positiv auf die Gesellschaft einzuwirken. Das „Leaders for Democracy“-Programm verbindet genau das: demokratische Teilhabe stärken und zugleich Menschen aus der Privatwirtschaft oder Stiftungen ansprechen. Ich bin eigentlich überrascht, dass es nicht mehr dieser Programme gibt, denn ich sehe da wirklich eine Lücke, die das Programm schließt - auch für mich.
Hat Sie Ihr Arbeitgeber für das Programm freigestellt?
Ja, ich konnte mir für die Fortbildung problemlos Zeit nehmen. Ich bin dankbar, für ein Unternehmen zu arbeiten, das mir viel Flexibilität und Möglichkeiten bietet, mich weiterzuentwickeln.
In dem Programm geht es um werteorientierte Führung und den Umgang mit Antisemitismus, Hass und Rassismus. Welche Erfahrungen haben Sie auf Ihrem Karriereweg bisher mit diesen Themen gemacht?
Ich habe in meiner Laufbahn viel in amerikanisch geprägten Unternehmen gearbeitet, etwa bei Google oder Spotify. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, unterschiedliche Strömungen mitzubekommen und auch Trainings zu Rassismus zu belegen. Mein Eindruck ist, dass dieser Themenkomplex in den USA stärker erforscht ist und es dort mehr Daten gibt, während ich in Deutschland oft überrascht war, wie wenig fundiertes Material vorliegt. Im Bereich Antisemitismus war das “Leaders for Democracy”-Programm für mich besonders prägend. Bildungsangebote, die ich bisher wahrgenommen hatte, fokussierten sich häufig auf den Antisemitismus heute oder im 20. Jahrhundert. Innerhalb des Programms haben wir uns auch mit den frühen Ursprüngen befasst. Das war für mich eine wichtige Lernreise und hat mir geholfen, zusätzlichen historischen Kontext zu erschließen.
Waren Sie schon mal Zeuge von Rassismus oder Antisemitismus? Welche Erfahrungen haben Sie damit im Job oder auch nach Feierabend gemacht?
Ja, ich sehe Rassismus als ein grundlegendes Problem, das sich in vielen Kontexten zeigt. Mir ist bewusst, dass alle Menschen - auch unbewusst - rassistische Muster reproduzieren können. Dies erkennen und ansprechen zu können, ist entscheidend - egal ob im Job-Kontext oder im Feierabend. Nur so können wir voneinander lernen und wachsen. Für mich gilt, dass ich dankbar bin, wenn zum Beispiel jemand zu mir sagt: „Hey, Jannis, schau mal, so könntest du es anders sehen, machen oder sagen“.
Haben Sie ein Beispiel?
Früher sprach man in der Werbebranche oft von „Blacklists“, wenn bestimmte Ausschlüsse definiert werden sollten. Die Sprache hat dabei unbewusst rassistische Bilder transportiert. Nach Bewegungen wie „Black Lives Matter“ und dem Mord an George Floyd hat sich die Aufmerksamkeit dafür deutlich erhöht. Heute wird meist von „Allow-Lists“ oder „Deny- Lists“ gesprochen, die ohne farbliche Beschreibungen auskommen. Das ist nur ein kleines Beispiel, aber vielleicht illustriert es ein bisschen, wie unreflektiert alltägliche Sprache wirken kann.

Foto: buero kleinschmidt
Welche Module oder Inhalte des Programms haben Sie besonders überrascht, begeistert oder vielleicht auch bewegt?
Das Programm war sehr abwechslungsreich: vom Termin im Bundespräsidialamt über die Vorführung des Films „Die Ermittlung“, der auf Aufzeichnungen des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses basiert, bis zu klassischen Workshops. Besonders nachhaltig war für mich die Erfahrung in der Gedenkstätte Buchenwald. Viele Menschen haben vielleicht als Schüler oder Schülerin einmal ein KZ besucht, ich selbst aber schon viele Jahre nicht mehr. Als Erwachsener hat diese Begegnung noch einmal eine ganz andere Dimension, weil ich inzwischen mehr Lebenserfahrung und persönliche Entwicklungen mitbringe. Dass eine Führungskräfte-Weiterbildung mit einem Gedenkstättenbesuch kombiniert wird, ist außergewöhnlich und hat einen starken Eindruck bei mir hinterlassen. Dieses Erlebnis würde ich als besonders prägend hervorheben, weil es auf einer persönlichen und gesellschaftlichen Ebene wirklich bewegt.
Wie muss man sich die Workshops inhaltlich vorstellen?
Die Workshops reichten von klassischen Führungsthemen bis hin zu sehr praxisnahen Übungen. Wir haben uns etwa damit beschäftigt, was Führung eigentlich bedeutet, wie sie sich von Autorität unterscheidet und welche Aufgaben eine Führungskraft hat. Besonders interessant fand ich den Fokus auf den Umgang mit Widerständen: Wenn man Veränderung bewirken will – sei es im Unternehmen, in der Organisation oder in der Gesellschaft – stößt man oft auf Widerstand. Statt darauf einfach mit Gegenwehr zu reagieren, ging es darum zu verstehen: Woher kommt der Widerstand? Welche Ängste oder Sorgen spielen eine Rolle? Diese empathische Herangehensweise hilft nicht nur, Ziele zu erreichen, sondern auch ein besseres Verständnis für das Gegenüber zu entwickeln. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf Werten und darauf, Haltung zu zeigen. In einem Kommunikations-Workshop haben wir zum Beispiel geübt, wie man die eigene Haltung erkennt und so formuliert, dass andere sie verstehen.
Wie oft haben Sie sich mit den anderen Teilnehmenden getroffen?
Es gab fünf Module über ein halbes Jahr. Zwei waren online, die anderen drei in Präsenz, jeweils über mehrere Tage. Teilweise hatte das Offsite-Charakter, sodass wirklich ein Safe Space entstanden ist, in dem wir intensiv diskutieren konnten. Das war für mich ein großer Vorteil des Programms, denn viele andere Workshops enden schnell und ohne Follow-up. Hier gab es genug Zeit, das Gelernte wirken zu lassen, bevor wir weitergemacht haben – fast wie bei einer Schneekugel, bei der sich das Aufgewirbelte erst wieder setzen muss. Das baut alles schön aufeinander auf. Persönlich getroffen haben wir uns in Berlin, in Weimar nahe der Gedenkstätte Buchenwald und zum Abschluss am Tegernsee.
"Ich fand die Beiträge vom ersten bis zum letzten Moment bereichernd und ich habe von den anderen Teilnehmenden mindestens genauso viel gelernt wie durch das offizielle Programm."
Wie haben Sie Zusammenarbeit und Austausch mit den anderen Teilnehmenden erlebt?
Es war eine sehr spannende Erfahrung, weil ich mit etwa 20 Leuten zusammenkam, die sich vorher nicht kannten – aus ganz unterschiedlichen Institutionen und mit sehr verschiedenen Hintergründen. Gerade dieser Austausch mit Menschen aus ganz anderen Organisationen war äußerst bereichernd, weil trotz unterschiedlicher Kontexte viele Themen ähnlich gelagert sind. Und es gab ein Element, das uns alle von Anfang an sehr verbunden hat: Alle haben sich wirklich sehr für das Programm engagiert. Dadurch gab es von Anfang an einen Raum, in dem absolut offen miteinander gesprochen wurde, und der auch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit versehen war. Ich fand die Beiträge vom ersten bis zum letzten Moment bereichernd und ich habe von den anderen Teilnehmenden mindestens genauso viel gelernt wie durch das offizielle Programm. Es gab eine gewisse Fokussierung, aber dann abends, wenn man bei einem Getränk oder beim Abendessen zusammensaß, natürlich auch die Gelegenheit, noch mal zu reflektieren oder gemeinsam zu lachen. Die Vortragenden haben uns auch immer wieder gespiegelt, was für eine tolle Dynamik in der Gruppe herrschte. Ich glaube, dass die Verbindungen, die wir in diesem Programm aufgebaut haben, über das Ende hinaus bestehen bleiben. Nicht zuletzt auch durch das Alumni-Netzwerk, das gerade entsteht.
Was haben Sie persönlich für sich aus dem Programm „mitgenommen“?
Sehr viel! Auf einer übergeordneten Ebene hat es mich nochmal darin bestärkt, wie wertvoll es ist, sich aus dem stressigen Alltag herauszunehmen, Workshops zu besuchen und Weiterbildung ernsthaft zu betreiben. Ich sehe solche Programme für mich in Zukunft definitiv wieder und ich würde es auch jedem in meinem Umfeld empfehlen, beruflich wie privat. Darüber hinaus habe ich viele praktische Dinge mitgenommen. Zum Beispiel aus dem Bereich Kommunikation: Wie bringe ich Haltung in ein oder zwei Sätzen so rüber, dass sie auch verstanden wird? Dazu kam ein größeres Bewusstsein für bestimmte Themenbereiche, das noch einmal geschärft wurde. Kleine, taktische Elemente, die ich direkt in meinem beruflichen Alltag gut einsetzen kann.
Haben Sie ein Beispiel?
Ich habe schon ein bisschen davon gesprochen, dass man auf Widerstände, die es ja häufig gibt, mit mehr Neugierde reagieren kann. Wir haben zum Beispiel gelernt, gezielt darüber nachzudenken, woher Widerstände eigentlich kommen, wenn man eine positive Veränderung anstoßen möchte. Zum Thema „mehr Bewusstsein entwickeln“ fällt mir ein Bereich ein, der ebenfalls in der Weiterbildung behandelt wurde: Wie gehen Unternehmen mit ihrer eigenen Geschichte um, zum Beispiel solche, die schon zwischen 1933 und 1945 existierten? Ich war innerhalb des ersten Halbjahres 2025 immer mal wieder in einer Situation, in der sich ein Unternehmen mir vorgestellt hat, aber die Unternehmensgeschichte zwischen 1933 und 1945 so gar nicht behandelt wurde. Stattdessen heißt es oft: „Wir haben zwischen 1920 und 1950 ganz tolle Innovationen hervorgebracht“. Mehr wird zu dieser Zeit nichts gesagt. Das ist mir ehrlich gesagt vor der „Leaders for Democracy“-Fortbildung gar nicht aufgefallen. Jetzt achte ich stärker darauf und frage auch mal nach: „Hey, würdet ihr zu der Zeit auch noch etwas sagen? Einfach, um zu verstehen: Wie geht ihr eigentlich mit eurer historischen Verantwortung um?“
"Auf jeden Fall schließt das „Leaders for Democracy“-Programm diese Brücke zwischen Haltung und Demokratie in die Privatwirtschaft. Das ist ein wunderbarer Anfang."
Wie wollen Sie Ihre neuen Erkenntnisse und Erfahrungen als „Leader for Democracy“ in die Praxis einbringen?
Ich sehe dafür zwei Ebenen. Zum einen im Alltag: Da spiegelt sich vieles aus dem Programm diffus wider – von Awareness über Sprache und Haltung bis hin zu größeren Projekten. Gegen Ende des Programms haben wir als Gruppe viel darüber nachgedacht, wie wir das Gelernte nicht nur theoretisch, sondern praktisch umsetzen können. Konkrete Projekte kann ich noch nicht nennen, aber eine Sache steht schon fest: Wir wollen die Ressourcen, die zwischen den Organisationen vorhanden sind, sichtbar machen und nutzen. Das kann heißen, Räume zur Verfügung zu stellen, zu beraten oder an einem Businessplan mitzuwirken. Es geht darum, vorhandene Möglichkeiten einzusetzen, auch wenn nicht jeder Teilnehmer ein eigenes Projekt starten kann. Ich bin auf jeden Fall hoch motiviert, zusammen mit den Alumni etwas auf die Beine zu stellen. In welcher Form das genau geschieht, ist noch offen, weil das Programm gerade erst zu Ende gegangen ist. Aus meiner Erfahrung haben gerade die Netzwerke, die dabei entstanden sind, im Nachgang großen Wert. Auf jeden Fall schließt das „Leaders for Democracy“-Programm diese Brücke zwischen Haltung und Demokratie in die Privatwirtschaft. Das ist ein wunderbarer Anfang.
Was würden Sie Bewerberinnen und Bewerbern für den neuen Jahrgang raten?
Ich würde sagen: Machen! Ja, wirklich machen, sich bewerben, lean into it. Ich fand das Programm wirklich bereichernd und neu, auch wenn man schon mal in der einen oder anderen Weiterbildung oder in irgendeinem Programm mitgemacht hat. Für mich war die Zeit voller Impact und ich bin sehr dankbar, dass ich mitmachen durfte. Deshalb würde ich alle Interessierten ermutigen: Schaut es euch genau an, bewerbt euch und nutzt die Chance, richtig einzutauchen und mitzunehmen, was das Programm zu bieten hat.
Leaders for Democracy
Das Weiterbildungsprogramm Leaders for Democracy richtet sich an junge Führungskräfte, die den Herausforderungen durch Polaririserung und demokratischen Anfeindungen in unserer Gesellschaft wirksam begegnen möchten.
Letzte Frage an Sie als „Leader for Democracy“: Weltweit steht die Demokratie unter Druck, mit wem würden Sie sich zu dem Thema gern mal austauschen? Freie Wahl!
Barack Obama wäre auf jeden Fall jemand, mit dem ich mich gerne austauschen würde. Ich fand ihn schon immer sehr interessant, sowohl als Redner als auch aufgrund seiner Karriere und seiner Legacy. Gleichzeitig wird deutlich, dass das Land auch nach seiner Präsidentschaft nicht geeinter war und weiterhin eine starke Polarisierung herrschte. Mich würde es sehr interessieren, ihn einmal in einem persönlichen Gespräch zu fragen: „Wie sehen Sie das heute? Welche Entscheidungen würden Sie im Nachhinein vielleicht anders treffen?“ Ehrliche Antworten auf diese Fragen zu bekommen, das würde mich total interessieren.
INFO Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung